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Gerhard Kofler und Peter Fleissner über die Sehnsucht nach einer sicheren Welt

Wir leben in einer verrückten Welt. Für Katzenfotos gibt es Millionen Likes, zu einem Konzert der Rolling Stones kommen 50.000 Fans, aber nur wenig Interesse scheint es für die Erhaltung des Friedens zu geben. Nur ganz Wenige treten aktiv für einen sofortigen Waffenstillstand und einen Verhandlungsfrieden zwischen Russland und der Ukraine ein. Auf den unerwarteten Angriff Russlands folgen viele lieber einer kampfbereiten und waffenstarrenden Verteidigungsrhetorik. Wenn die Vernunft nicht die Oberhand behält, könnte sich die Situation zu einem Atomkrieg ausweiten.

Generelles Verbot von Atomwaffen

Um einer solchen Eskalation längerfristig und nachhaltig zu begegnen, wurden auf der Ebene des Völkerrechts grundlegende neue Möglichkeiten entwickelt, die langfristig mehr Sicherheit versprechen als alle Aufrüstungsversuche zusammengenommen. Die Rede ist vom Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW – Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons – Nuclear Ban Treaty). Mit der Verabschiedung dieses Vertrags am 7. Juli 2017 hat die UN-Generalversammlung den Grundstein für eine atomwaffenfreie Zukunft gelegt. Nach seiner Ratifizierung durch das 50. Mitglied trat der TPNW am 22. Jänner 2021 in Kraft. Bis Juni 2022 haben 86 Staaten den TPNW unterschrieben. 66 Staaten ratifizierten ihn, allerdings war kein einziger der neun Atomwaffenstaaten noch ein NATO-Staat darunter. Auch wenn militärische Auseinander setzungen mit konventionellen Waffen schrecklich genug sind, stellt ein nuk learer Krieg eine rote Linie dar, die unter keinen Umständen überschritten werden darf.

Zunehmende Kriegsrhetorik

Es geschieht das exakte Gegenteil: Die Kriegsrhetorik nimmt überhand und unsere Massenmedien verbreiten und verstärken die damit verbundenen Aggressionen auf allen Seiten. Schwarz-weiß dominiert, die Grautöne scheinen verschwunden. Bisher lässt sich kein Ende des Ukraine krieges absehen. Eine politische Lösung der Auseinandersetzung ist immer noch unvorstellbar. Die globalen Spieler der Weltpolitik unterstützen de facto das militärische Kräftemessen.

In den letzten Jahren hat man sich in der EU daran gewöhnt, dass Konflikte friedlich entschärft werden können. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine unterbricht diese Entwicklung mit einem Schlag. Russland hat wahrscheinlich in nationalistischer Selbstüberschätzung und menschenfeindlicher Abwertung des früheren Bruderlandes einen raschen Sieg und eine schnelle Einverleibung der Ukraine erwartet und auf die russisch sprachigen Bevölkerungsteile als mögliche Verbündete gesetzt. Tatsächlich gelang es den westlichen Politiker: innen und Medien in Europa, Russland zum Paria zu erklären und ihm alle nur erdenklichen Grausamkeiten und terroristische Akte zuzuschreiben. Im Gegensatz zu den Erwartungen Putins haben unter dem Einfluss des Krieges bisher neutrale Staaten wie Schweden und Finnland Anträge auf Mitgliedschaft bei der NATO gestellt. Die EU fand zu einer bisher noch nie gesehenen Einigkeit in der Verabschiedung der historisch größten Sanktionen gegen Russland. Die Aufrüstung des Westens hat ungeahnte Ausmaße angenommen. 100 Milliarden Euro als zusätzliches »Sondervermögen« für die deutsche Bundeswehr sind nur die Spitze des Eisbergs eines generellen Trends und werden in den folgenden Jahren weitere Ausgaben bewirken. Immer mehr Truppen werden an der Ostgrenze zu Russland stationiert, denen entsprechende Maßnahmen auf russischer Seite folgen.

Mininukes

Die NATO nützt die Angst der Anrainerstaaten Russlands vor einer Verschiebung der Grenzen auf westliches Territorium und spricht bei einem Zerstörungspotential von weniger als fünftausend Tonnen TNT von Nuklearwaffen »geringer Sprengkraft«. Im US-Waffenarsenal gibt es bereits fünf verschiedene Modifikationen der B-61-Bomben, die als Mininukes einsetzbar sind. Ihre Sprengkraft der Waffen ist nach oben hin variabel, überschreitet also problemlos die Einschränkung der Kampfkraft von Mini nukes. Das Modell B-61-3 besitzt etwa mit 170 Kilotonnen TNT eine Zerstörungskraft, die das 13-fache der Hiroshima-Bombe übersteigt. Mininukes setzen die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen gefährlich herab und erhöhen die Wahrscheinlichkeit ihrer Anwendung in einer militärischen Auseinandersetzung. Die USA wären dabei fein heraus: Der Einsatz der Mininukes beträfe vorwiegend Länder in Europa.

In eine solche Richtung kann der Ukraine krieg führen. Russland will Nuklear waffen zwar »ausschließlich als Mittel der Abschreckung« verstanden wissen. Aber unter bestimmten Bedingungen sieht die russische Militärdoktrin dann doch den Einsatz von Atomwaffen vor, etwa wenn Feinde Russlands Atomwaffen oder andere Arten von Massenvernichtungs waffen auf russischem Territorium und/ oder seiner Verbündeten einsetzen würden, wenn Russland mit ballistischen Raketen angegriffen werden sollte, wenn kritische Regierungs- oder Militärstandorte angegriffen werden oder wenn Russland einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt wäre (dies gilt auch für einen Angriff mit konventionellen Waffen).

Atomwaffenverbotsvertrag – ein Jahr jung

Gegen das Heraufziehen einer Stimmung, die einen Atomkrieg für machbar hält, ist das völkerrechtlich verbindliche Verbot von Nuklearwaffen ein wichtiger und vielversprechender Schritt. Im Juni diesen Jahres fand in Wien die erste von den Vereinten Nation einberufene Staatenkonferenz »First Meeting of States Parties« (1MSP) nach der Erreichung der Rechtswirksamkeit des Vertrags über das Verbot von Kernwaffen statt. Den Vorsitz hatte der österreichische Diplomat Alexander Kmentt, der sich schon seit vielen Jahren für das Zustandekommen des Nuclear Ban Vertrags einsetzte, unterstützt von ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons), eines seit 2013 auch in Österreich tätigen Zusammenschlusses von 460 Organisationen in über 100 Ländern, der 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Von der österreichischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt gab es vom 18. bis zum 23. Juni in Wien eine Folge von Begleitveranstaltungen zur Unterstützung des Verbotsvertrags: ICAN organisierte das zweitägige Nuclear Ban Forum mit starker internationaler (online) Beteiligung, die Mitglieder von AbFaNG, dem österreichischen Aktionsbündnis für Frieden, aktive Neutralität und Gewaltfreiheit, hielten im größten Saal des Österreichischen Gewerkschaftsbundes in Wien eine NGO-Konferenz ab. Schließlich lud das Außenministerium zur vierten »Vienna Conference on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons« ein. Den Höhepunkt der Woche bildete die erste von den Vereinten Nationen einberufene Staatenkonferenz 1MSP, an der 65 TPNW-Vertragsstaaten und weitere Staaten als Beobachter:innen, unter ihnen erstmals NATO-Staaten wie Deutschland oder die Niederlande, teilnahmen. Die Vertragsstaaten verdeutlichten mit ihrem Engagement eindrucksvoll, dass sie die Renaissance eines nuklearen Wettrüstens strikt ablehnen.

NGOs für den Frieden

Das noch junge österreichische Aktionsbündnis AbFaNG knüpft an die Friedensbewegung in Österreich an, um die es in den letzten Jahrzehnten relativ still geworden ist. Das war im vergangenen Jahrhundert anders: 1955 bis 1975 richteten sich die Proteste gegen den Vietnamkrieg, später gegen die atomare Aufrüstung der Großmächte. 1982 kommt es unter dem Motto »Den Atomkrieg verhindern! Abrüsten!« mit rund 70.000 Teilnehmer: innen zur bis dahin größten Friedenskundgebung der Zweiten Republik. Zum Jahrestag der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki gibt es bis heute Friedenskundgebungen unter Teilnahme von partei- und kirchennahen Organisationen und Jugendverbänden. In der Tradition der Ostermärsche hat AbFaNG am Ostermontag zu einer Kundgebung für ein sofor tiges Ende des Krieges in der Ukraine eingeladen, der von der russisch-orthodoxen über die ukrainisch-orthodoxe Kirche bis zum Stephansdom führte.

Aus Anlass der Staatenkonferenz 1MSP verfolgten mehr als 160 Teilnehmer:innen live und online die von AbFaNG, dem IPB (International Peace Bureau) und WILPF (Women’s International League for Peace and Freedom) organisierte internationale Konferenz »Give Peace a Chance! – Gemeinsam für Frieden, Umwelt- & Klimaschutz! – Atomwaffen abschaffen!« in Wien. Namhafte internationale Vortragende und ein breit besetztes Podium aus österreichischen und internationalen Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen informierten über die Zusammenhänge von Friedens-, Umwelt- und Klimakrise, die Gefahren der Atomwaffen und über ihren Einsatz für den Frieden. In einer Begleitausstellung gaben 16 zivilgesellschaftliche Organisationen – die meisten von ihnen AbFaNG-Bündnispartner:innen – Einblick in ihr Wirken für Frieden und Menschrechte sowie für den Schutz von Umwelt und Klima. Hier sollen nur zwei Meinungen aus dem vielstimmigen Chor der Redner:innen zitiert werden. Philip Jennings, früherer Generalsekretär der globalen Gewerkschaft UNI Global Union, die 20 Millionen Beschäftigte in den Dienstleistungssektoren von 150 Ländern vertritt, rief die globalen Gewerkschaften, die Friedensbewegung und die Klimaaktivist:innen auf, eine neue starke Koalition für den Wandel zu bilden. Die Welt sei derzeit durch Atomkrieg, Klimawandel und Pandemien bedroht, und durch einen giftigen Cocktail aus Ungleichheit, Extremismus, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und einen schrumpfenden demokratischen Raum. Die österreichische Umweltmeteorologin und Klimaaktivistin Helga Kromp-Kolb stimmte der Notwendigkeit der Zusammenarbeit zu, um eine gemeinsame Nachhaltigkeit von Ökologie und Sozialem zu ermöglichen: »Das derzeitige Wirtschaftssystem ist nicht grundlegend für das Zusammenleben der Menschen. Friede hingegen schon.«

Auf der Website von AbFaNG kann ein detaillierter Bericht über die Konferenz mit allen Videos der Reden und Statements nachgesehen werden (http://abfang.org/).

Es ist wirklich ärgerlich, dass Meldungen über die erste Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag in Wien in den österreichischen Medien kaum zu finden waren, obwohl sie unserer Meinung nach ein wegweisendes Ereignis im besten Sinne darstellt. Jede Art von Unterstützung, die Bemühungen der Zivilgesellschaft für den Frieden zu stärken, hilft.

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Gerhard Kofler ist Elektroniker, absolvierte den waffenlosen Wehrdienst, war 6 Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit und als B2B-Agenturleiter tätig. Jetzt ist er in der Freiwilligenarbeit und Aktivist bei Volkshilfe, FriedensAttac und AbFaNG.

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Im Bundesland Kärnten startet im Herbst eine Kampagne zur Einführung eines »Energie-Tickets«. Bei entsprechender Resonanz soll damit ein Landesvolksbegehren angestoßen werden.


Eine Zusammenfassung von Mirko Messner

Österreich war eines der ersten Länder Europas, das seinen Strommarkt vor 20 Jahren liberalisiert und damit der freien Gewinnmaximierung der Konzerne überantwortet hat; die Energiepreise sind bereits nach oben gewandert, bevor es diesen Ukraine-Krieg gegeben hat. Darum haben andere europäische Länder bereits im Sommer 2021 begonnen, auf die Teuerung zu reagieren und gegenzusteuern: Durch Senkung der Mehrwertsteuer, Transferleistungen, Preisobergrenzen, Aufträge an Staatsunternehmen für Rabattaktionen (Zypern, Griechenland) oder Reduktion und Abschaffung der Netzkosten (Italien und Portugal); aber auch mit Fördergeldern für Sanierungs maßnahmen zugunsten energiearmer Haushalte, um so den Bedarf nachhaltig zu senken (Irland). Widerstand gegen Energiearmut rührt sich auch in der Bevölkerung: Die Kampagne »Don’t pay UK« z. B. droht mit einem Zahlungsboykott der Energierechnungen ab dem 1. Oktober und will dafür eine Million Unterschriften sammeln. Hunderttausend sollen bereits unterschrieben haben.

Die Verantwortlichen vom österreichischen Kanzler abwärts tun derzeit erstaunt, dass Kapitalismus nach kapitalistischen Gesetzen funktioniert. Wird Nordstream 2 wegen des Wirtschaftskriegs gegen Russland nicht in Betrieb genommen, wird teureres Gas aus den USA oder von sonstwo bezogen (wetten: über Umwege von Zwischenhändlern auch aus Russland); und alles, was diesen fossilen Brennstoff im Herstellungsprozess benötigt, eben auch die Erzeugung von Elektrizität, wird teurer (auch bei uns, obwohl der weitaus meiste Strom hier aus Wasserkraft gewonnen wird), und lässt die Gewinne der Energiekonzerne in den Himmel schießen. Zwischendurch empören sich jene, die das Gewinnspiel politisch konzertieren, an sogenannten Übergewinnen; gemeint sind damit die derzeitigen maß losen Gewinne der Energiekonzerne. Mehrere europäische Staaten haben auf diese bereits reagiert und sie fallweise kräftig besteuert, um die am meisten betroffenen Bevölkerungsteile zumindest vorübergehend zu entlasten.

Pilotprojekt

Kärnten hat von allen österreichischen Bundesländern den höchsten Kilowatt stunden-Preis. Und auch eine Art Pilotprojekt des Widerstands, anknüpfend an dem vor Jahren vom Bundesvorstand der KPÖ ent wickelten Konzept der Energiegrund sicherung: KPÖplus, Gewerkschaftlicher Linksblock und Zentralverband der PensionistInnen starten im Herbst die Kampagne »Energie-Ticket jetzt!«. Vorerst handelt es sich dabei um eine Sammlung von Unterschriften für eine Petition an die Kärntner Landesregierung. Darin fordern die Kärntner AkteurInnen die Landesregierung und die Energiewirtschaft auf, ein »Energie-Ticket einzuführen für alle, die in Kärnten wohnen.« Damit, so heißt es auf der Website energie-ticket.at, sollen der »jährliche Energie-Grundbedarf in Höhe von 2.000 kWh pro Person und zusätzlich 1.200 kWh pro Haushalt für jeden und jede entgelt- und netzgebührenfrei gesichert werden.« Indem die Forderung an die Landesregierung gerichtet wird, landet sie an der richtigen Adresse, nämlich beim Land als Haupteigentümer der Kärntner Energieholding und gemeinsam mit dem Bund Haupteigentümer der KELAG: »Wir wollen als Wählerinnen und Wähler wahrnehmen, was mit unseren Stimmen passiert, die wir für die Landtags- und Regierungsparteien abgegeben haben. Wir wollen, dass unser mehrheitlich gesellschaftliches Eigentum, die Energiewirtschaft, in gesellschaftlicher Verantwortung für die Bewohner und Bewohnerinnen des Landes wirkt und ihnen eine Energie-Grundsicherung gewährleistet«. Und was die Eigentums struktur der Energieholding und der KELAG betrifft, heißt es: »Das Land Kärnten hat sich seinerzeit politisch entschieden, 49 % am Eigentum der Energieholding und rund 37 % Anteile an der KELAG dem Energiekonzern RWE zu verscherbeln, sie auf weitere Jahre hinaus diesem zu überlassen (…). Das Land Kärnten kann sich auch politisch entscheiden, es nicht länger zu tun und die Partnerschaft mit dem privaten Konzern wieder loszuwerden«.

Trostpflaster

Dass die Kampagne zum richtigen Zeitpunkt kommt, liegt auf der Hand. Ganz schlechte Laune macht sich breit, in allen Bundesländern, und das macht bereits der Staatsspitze Sorgen. Die leidet auch an Energiearmut, allerdings nicht an derselben.

Die 150-Euro-Gutschrift auf die Strom- Jahresabrechnung, die sich die Regierung vor Monaten ausgedacht hat, ist selbst in seiner Billigkeit für viele, die auch auf ein Trostpflaster nicht verzichten wollen oder können, aufgrund seiner Konstruktion nicht einlösbar, »zu bürokratisch und kompliziert«, »ein Chaos«, so die Stimmen z. B. aus der Arbeiterkammer.

Doch jetzt, nach der Sitzung des Energie-Krisenkabinetts, bestehend aus Kanzler, Vizekanzler, Finanzminister, Energieministerin und Wirtschaftsminister sowie Experten der Energiewirtschaft, LändervertreterInnen sowie Sozialpartnern, soll die Diskussion an Ernsthaftigkeit zunehmen. Unter anderem werde das Modell für die »Strompreisbremse« erarbeitet. Die Koalition hat, so scheint es, den Vorschlag des Chefs des Wirtschaftsforschungsinstituts Gabriel Felbermayr zur Vorlage für ihre Pläne genommen und ihn weiterentwickelt. Laut Standard soll jeder Haushalt unabhängig von seiner Größe ein einheitliches Stromkontingent zu günstigerem, weil gedeckeltem Preis erhalten, quasi als Grundversorgung. Um dieses Konzept halbwegs sozial gerecht umzusetzen und so voraussehbaren Kalamitäten aus dem Weg zu gehen, also »den Rabatt je nach Haushaltseinkommen unterschiedlich zu bemessen«, fehlen laut Standard »schlicht die zugriffsbereiten Daten.« Ähnlich sieht es mit dem Strompreisdeckel von SPÖ und Gewerkschaftsbund aus. Dies gilt auch für die Vorschläge von SPÖ (die von den Rundfunkgebühren Befreiten sollen einen Extranachlass erhalten, über die Höchstbeitragsgrundlage Verdienende sollen gar nicht entlastet werden), außerdem wären sie mit viel teurem Aufwand und Antragswirtschaft verbunden. Und zur »Übergewinn«-Steuer, die sowohl Bundeskanzler Nehammer als auch SPÖ und ÖGB ins Spiel bringen, gibt es auch den Gegenvorschlag von FreundInnen der Energie konzerne, denen die »Einnahmensausfälle, die ihnen aus dem Deckel entstehen, ... erst einmal voll ersetzt werden sollen.« Zusammengefasst ein ziemlich konfuses und widersprüchliches Bild von Vorschlägen, denen eines gemeinsam ist: Im günstigsten Fall handelt es sich um Ideen für zeitlich begrenzte Überbrü ckungs maßnahmen ohne Nachhaltigkeit.

Die Lösung

Die Kärntner Kampagne »Energie-Ticket jetzt!« mutet dagegen an wie eine vorweggenommene Antwort auf die Fragen, die auf Regierungsebene nicht geklärt sind oder gar nicht gestellt werden. »Wir haben die Lösung« steht auf den Türhängern der Kampagne. Das hat seine Berechtigung:

Erstens, und das ist das Wesentliche am Kärntner Modell, es handelt sich dabei nicht um Preisdeckelungen oder Rechnungsgutschriften oder Rabatte, die samt und sonders flüchtig sind, sondern um Kilowattstunden, die jedem und jeder Einzelnen bedingungslos und entgeltfrei zur Verfügung gestellt werden sollen, ohne jede Antragswirtschaft.

Zweitens, es ist auf die einzelne Person gebunden, unabhängig vom Haushalt, in dem sie oder er wohnt. Damit wird die variable Größe eines Haushalts berücksichtigt, d. h. soziale Staffelung umgesetzt, und für jeden Haushalt (bzw. für die Vertragsperson) werden unabhängig von der Zahl der im Haushalt Lebenden zusätzliche Kilowattstunden bereitgestellt.

Drittens, die Frage der Refundierung der Kosten an Erzeuger und Netzbetreiber soll mit mehreren sozialen Maßnahmen gesichert werden. Unter anderem auch mit einer Profitabschöpfung der Gewinne bei den Energiekonzernen, die mehrere Milliarden einbringen würde. Die Kärntner Petition rückt zudem die Forderung nach einer (Wieder-)Einführung der Vermögenssteuer in den Vordergrund, für die das Land sich auf Staatsebene einsetzen solle. Die Kurzfassung der Berechnung lautet: Wird das Vermögen der überreichen fünf Prozent der Bevölkerung mit nur einem Prozent besteuert, können die Kosten eines Energie-Tickets (geschätzte sieben Milliarden Euro) für ganz Österreich gedeckt werden – also mit einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von Super reichen zu Nichtreichen und Armen.

Viertens, werden weniger Strom-Kilowattstunden verbraucht als das Energie-Ticket vorsieht, soll dieses auch zur Begleichung von Kosten für Klima-Ticket oder Heizmaterialien (z. B. Holz) oder (Fern-)Wärmelieferanten genutzt werden können, für Dämmmaterial oder Ausrüstung für Heizanlagen usw. – was natürlich entsprechende Verträge der Anbieter mit dem Land voraussetzt. Anders gesagt: Es geht bei der Kärntner Kampagne um ein Energiekontingent, das dem oder der Einzelnen von der Gesellschaft als Recht zur Sicherung seiner oder ihrer individuellen Existenz entgeltfrei zugesprochen wird. Das in unseren Breiten notwendige Basiskontingent an Energie soll nachhaltig entkommodifiziert, d. h. nicht mehr als Ware auf einem von Konzernen und Monopolen beherrschten Markt gehandelt und damit unabhängig werden von Börsenspekulation und finanzmarktgetriebener Energiepolitik. Christiane Maringer, mit Melina Klaus vor Jahren gemeinsam federführend bei der Erarbeitung des Ur-Konzepts der KPÖ für die kostenlose Energiegrundsicherung, dazu: »Energie, also Strom und Wärme, zählen in der UN-Deklaration für Menschenrechte zu den unverzichtbaren Lebensmitteln, zu denen alle gleichen und ungehinderten Zugang haben müssen. Die Forderung nach einem Energie-Ticket entspricht diesem Anliegen.«

Cristina Tamas, Koordinatorin des Kärntner Energie-Ticket-Projekts, ist realistisch, was dessen Ziel betrifft: »Zuerst wollen wir an die 2.000 Unterschriften unter die Petition sammeln. Wenn uns das gelingt, wollen wir im nächsten Schritt die Einleitung eines Landesvolksbegehrens ins Auge fassen, denn so viele in Kärnten Wahlberechtigte müssen dann in den Gemeindeämtern dafür unterschreiben. Das ist ziemlich ambitioniert, aber wir sind zuversichtlich. Mehrere erfolgreiche Testläufe bestärken uns darin.«

https://energie-ticket.at

https://www.kpoe.at/energiegrundsicherung-jetzt/

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Abwegige Gedanken von Max Schlesinger

 

Zeitung lesen oder Nachrichten schauen kann langweilig oder deprimierend sein: So viele miese Meldungen, so viele Krisen. Das Erdgas wird so teuer, und alles andere auch. Es laufen Pandemie und Krieg in der Ukraine rauf und runter. Und dann gibt es auch noch die Klimakatastrophe, die derzeit für uns alle so spürbar an Fahrt aufnimmt.

Viele* wollen schon gar nicht mehr teilnehmen an dieser Nachrichtenlage. Und wer* möchte, dem* steht nicht selten der Sinn nach Aufheiterung. Oft trinkt man* aber nicht so viel, wie man* speiben möchte.

Abstinentere Aufheiterung böte das Spiel Bullshit-Bingo: Typische Politiker*innen-Phrasen werden zufällig in ein Bingo-Feld eingetragen. Gewonnen hat, wer* am schnellsten ein Bingo abstreichen kann.

Gute Phrasen für den schnellen Gewinn würden sein: »Eigenverantwortung« und »Es darf keine Denkverbote geben!«

Es gab auch schon Politiker*innen-Aussagen, die sicherlich niemand* auf ein Bingo-Feld geschrieben hätte. Denken wir zurück an Trumps abwegigen Bullshit von den Waldstädten in Österreich. Das war ein so abwegiger Gedanke, dass trotz des hohen Bullshit-Gehalts keine*r auf die Idee gekommen wäre, dass irgendjemand* auf diese Idee käme.

Wahrscheinlich war das die beste Idee, die er je hatte: Waldstädte. Städte voller Wald. Wien möchte immer als Weltstadt gelten, nie aber als Waldstadt, obwohl statistisch 23 Prozent – fast ein Viertel der Stadtfläche – bewaldet sind. Aber der Wald konzentriert sich auf die Ränder. Innerhalb des Gürtels gibt es in Wien keinen Wald.

Dabei wäre es so schön: Schon der Gürtel könnte Wald sein anstatt Autostraße. Ein Waldgürtel. Über die Ausfallstraßen setzte er sich bis in die Innenstadt fort. Hier und da wächst er vertikal die Häuser hoch in Form begrünter Fassaden. Zugängliche Dachgärten bilden eine zweite Grünebene, zum Spazieren oder was man* im Grünen eben so macht.

Und inmitten dieses ganzen Waldes die Stadt. Das wäre jedenfalls eine sehr grüne Stadt. Wäre es auch Wald?

Wald pflanzen

Der jetzige Maßstab für Wald findet sich im »Gesetz, mit dem das Forstwesen geregelt wird«. Dazu muss Baum und Strauch aber auf Waldboden wachsen. Waldboden hat laut Gesetz mindestens 1000 Quadratmeter groß zu sein und mindestens zu 30 Prozent »beschirmt« und noch vieles mehr.

Ein richtiger Wald mit seinen gesetzlichen und ökologischen Funktionen wird in Wien sicher nicht etabliert werden können – viel mehr Bäume und Sträucher, viel mehr Grün hingegen schon.

Das kann ganz und gar bürgerlich angegangen werden. Es gibt zum Beispiel die Kölner Grün-Stiftung, die Spenden generiert und dafür Bäume pflanzt. Der Bezirk oder Magistrat können um Alleepflanzungen gebeten werden. All das setzt profunde Kenntnisse von Bürokratie und Buchhaltung und vor allem sehr geduldige Baumfreund*innen voraus. Vom Pflanzen eines Setzlings bis zum Genuss des ersten Schattens gehen gut und gerne 30 Jahre ins Land.

Bürokratie »pflanzen«

Was unkomplizierter, aber nicht schneller – der Baum wächst ja nicht schneller, weil er nicht von der MA Strauch&Baum gepflanzt wurde – zu Wald wird: Eigenverantwortung stärken, Denkverbote beseitigen. Brach- und Leerflächen finden sich auch in dicht verbauten Städten. Wahrscheinlich werden es in Zukunft mehr, auch Baumaterialien werden ja immer teurer und so manch ambitioniertes Bauprojekt versandet nach dem Abriss des Altbaus. Bis die Arbeiten wieder aufgenommen werden, kann nicht nur Gras, sondern Wald über die Sache wachsen. Irgendwann verfallen auch Baugenehmigungen, hier wird dann Bürokratie zur Freundin des Waldes. Es ist nicht alles schlecht im Magistrat.

Spaten und Setzlinge sind schnell besorgt. Oder Samen. Da müssen nicht

unbedingt klassische Bäume sprie­ßen, sondern zum Beispiel schnell wachsende, wehrhafte Pflanzen wie Brombeeren. Wer hat, dem wird gegeben. Das gilt insbesondere für Flächen, die überwuchern. Eine Brombeerhecke zieht sowohl Vögel als auch Kleinsäuger an. Viele Pflan­zen nutzen Tiere, um ihre Samen zu verbreiten, in deren Fell- oder Feder­kleid, oder in deren Verdauungstrakt. Und es putzt sich doch so schön in einer dornenbewährten Brombeerhe­cke, die die Nachbarskatze auf Abstand hält. Da fällt der eine oder andere Samen auf den Boden und ein neuer Baum fängt an, Wald zu machen. So würde Wald aufgelassene Siedlungen oder andere Betonwüsten überwachsen.

Doch Vorsicht: Wer* Wald auf Boden säht, der ihr*ihm nicht gehört, der kann Protest oder Anzeigen ern­ten.

Besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Pflanzen zahlt sich aus: Je schnel­ler die jungen Pflanzen wachsen, desto besser. Wenn sie gut schme­cken oder hübsch blühen, mögen sie alle*. Da geht’s den Büschen wie den Menschen.

Sind alle Bestimmungen des Forst­gesetzes erfüllt, und die zuständige Behörde wird aufmerksam gemacht, dann steht fest: Hier ist Wald.

Und einmal Wald heißt fast für immer Wald. Auf jeden Fall sehr viel länger Wald als eine zu verwertende Brache.

Leider wachsen Brachen nicht auf Bäumen, schon gar nicht in Innen­städten. Und schon gar nicht Bra­chen, die lange ungenutzt herum»brachen«, sondern da wird planiert und betoniert und das Brut­tosozialprodukt gesteigert, dass einer*m die Luft wegbleibt.

Pflanzgefäße gäbe es in Hülle und Fülle. Wenn nun jede*r jede Nacht einen Topf mit einer Pflanze in der Stadt aufstellte, dann hätten wir in nur einem Monat den größten Topf­garten der Welt. Wir müssten nur noch gießen. Und genießen.

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Von Kilian Jörg

Versuch einer Ausweitung der Kampfzone fürs 21. Jahrhundert

Antifaschismus und Ökologie hatten sich traditionell wenig zu sagen. Doch je mehr der fossile Kapitalismus ins Visier der Kämpfe für eine lebbare Zukunft rückt, desto mehr lohnt es sich, dem schwerwiegenden Erbe des Faschismus bei der Errichtung von fossilen Abhängig keiten und seiner materiellen Linien bis in die Gegenwart nachzu spüren und entgegenzutreten.

Krise der Gedenkkultur?

Die Gedenkkultur ist in einer Krise. Seit ich Holocaustgedenkdiener vor knapp eineinhalb Jahrzehnten war, bangt man der nicht allzu fernen Zukunft entgegen, in der es keine lebenden Zeitzeugen mehr geben wird. An diesem entscheidenden Punkt des Übergangs von oraler zu geschriebener Geschichte stehen wir nun und die Ewiggestrigen stehen schon bereit und verlautbaren, dass es keiner Gedenkkultur mehr brauche und man endlich ein »gesundes« (was aus irgendeinem unerfindlichen Grund »stolz« und »patriotisch« sein soll) Geschichtsverständnis in den ehemaligen Täter*innenstaaten braucht.

Ich möchte mich in diesem Essay der Frage annehmen, wie der Antifaschismus mit dieser Zäsur umgehen kann und – in einem neuen, bislang wenig angedachten Bündnis mit ökologischen Belangen – sogar eine neue Stärke und Aktualität erreichen kann. Meine Argumente beziehe ich hierbei hauptsächlich aus dem jüngst erschienen Buch White Skin, Black Fuel – On the Danger of Fossil Fascism vom schwedischen Öko-Marxisten Andreas Malm und dem Zetkin-Kollektiv.

Fossiler Faschismus

In ihrem Buch versuchen die Autor*innen die Faschismustheorie zu aktualisieren und auf die Höhe der Anthropozändiskurse zu bringen. Grob zusammengefasst argumentieren sie, dass kein Faschismus jemals ohne die Glorifizierung der fossilen Stoffe verbrennenden Maschinen wie Autos und Flugzeuge und den sie ermöglichenden fossilkapitalistischen Lebensstil auskam. Dies eint auch alle neuen Rechtsparteien von der FPÖ, der AfD, den Schweden Demokraten, den spanischen Vox, wie jene des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro oder des US-amerikanischen Ex-Präsidenten Trump: Sie alle verteidigen das Recht auf den SUV (»Kein SUV ist illegal« war der besonders geschmacklose Wahlspruch der AfD Rosenheim), die eigene Kohle- oder Ölindustrie, deren weitere Deregulierung sowie den Bau von immer mehr Autobahnen.

Nun würde es natürlich zu weit gehen zu behaupten, bloß Faschist*innen würden den Errungenschaften des fossilen Kapitalismus frönen: Sowohl liberale, wie sozialdemokratisch geprägte und sogar kommunistische Staaten haben diese genauso gefördert und ihre Macht durch sie konsolidiert. Für die herrschende Klasse, die ihren Reichtum in den letzten zwei Jahrhunderten primär auf fossilem Kapital aufgebaut hat, waren die Faschist*innen nie die erste Wahl, wenn es »appetitlichere« politische Alternativen gab, die ihre Interessen wahrten. Allerdings zeigt die Geschichte, dass wenn die gesteigerte Akkumulation von fossilem Kapital bedroht ist (wie etwa durch die europäischen Arbeiter*innenbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jhs), große Teile dieser Klasse bereit sind, mit den Faschist*innen Bündnisse einzugehen und sie gewähren lassen. Auch wenn es mit z. B. Henry Ford, der große Teile der Protokolle der Weisen von Zion und Mein Kampf auf Englisch drucken ließ und offen mit Hitler sympathisierte, auch in den USA ebenso stramm antisemitische fossile Kapitalist*innen gab, fühlten sich diese niemals zu gleichem Maße dazu gedrängt, ihre Macht faschistisch zu konsolidieren, da sie sich niemals im gleichen Maße bedroht fühlten, wie etwa in Italien oder Deutschland mit ihren damals starken Arbeiter*innen-bewegungen.

»Er hat auch Autobahnen gebaut«

Es ist vergleichsweise wenig bekannt, dass die erste Autobahn der Welt das Werk von Faschist*innen war. Benito Mussolini baute diese in den ersten beiden Jahren nach seiner Machtübernahme 1922 von Mailand in die Alpen beim Laggio Maggiore. Diese wurde nicht nur vom norditalienischen, sondern vom gesamten westlichen Großbürger*innentum (damals die einzige Klasse, die sich Automobilität leisten konnte) gefeiert, sodass die Autostrada ein Pilgerort für technikbegeisterte Entscheidungsträger*innen wurde, die somit einen prägenden Einfluss auf das hegemoniale Mobilitätsparadigma weit über die faschistisch geprägte Politsphäre hinaus ausübte.

Viel bekannter ist, dass Hitler nicht nur Konzentrationslager und Panzer bauen ließ, sondern auch Autobahnen. Diese Feststellung verliert mit zunehmendem Fortschreiten der Klimakrise und der Politisierung der Automobilität seine apologetische Konnotation. Das erste, nationen-übergreifende Autobahnnetz Europas wurde bekanntlich unter der NS-Herrschaft errichtet und diente in den Nachkriegsjahren den in automobiler Infrastruktur weit hinterherhinkenden Nationen Frankreich oder Großbritannien als Vorbild.

Wenn heute allerorts moniert wird, dass die Autoindustrie zu entscheidend puncto Arbeitsplätze und nationaler Verankerung ist, um angegriffen zu werden, dann ist dieser Umstand das Resultat einer fossilkapitalistischen Sattelzeit, die so ohne faschistische Zerschlagungen (von Gewerkschaften, Arbeiter*innenbewegungen und alternativen Verkehrsmitteln) in Europa nicht denkbar geworden wäre. Nach 1945 biegt sich bekannter Maßen die Kurve des globalen Schadstoffausstoßes ins Exponentielle. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dieser konsumkapitalistische Eintritt in die ökologische Katastrophe in Europa ohne die unheilige Allianz des fossilen Kapitals mit dem Faschismus nicht so (intensiv) eingetreten wäre. Wenn man sich heute politisch wirksam der Klimakrise wie den wieder wachsenden faschistischen Tendenzen in den Weg stellen will, muss man diese als co-abhängig und co-konstitutiv verstehen.

Ökologischer Antifaschismus heute

Heute ist keine neue Arbeiter*innenbewegung in Sicht, die eine reale Bedrohung für den fossilen Kapitalismus darstellen würde. Es sind nicht mehr (nur) die Menschen, die sich gegen dieses unmenschliche System auflehnen, sondern auch das, was wir bisher »Natur« nannten. Die Klimakatastrophe ist in vollem Gange und es wird immer schwerer, die Augen davor zu verschließen, dass diese menschengemacht, will heißen kapitalismusgemacht ist.

Innerhalb der politischen Ökologie hat man sich bislang zumeist zu einfache Vorstellungen von politischer Macht gemacht: Man dachte, dass die Akkumulation von genügend Daten und Fakten genügt, um alle zur rationalen Einsicht in den Ernst der Lage und also zum Umdenken und Anders-Handeln zu bringen. Doch je mehr die Klimakrise ins Allgemeinverständnis der modernen Gesellschaften dringt, desto deutlicher sehen wir: Proto-faschistische und anti-ökologische Tendenzen wie der Trumpismus sind genauso eine politische Reaktion auf die Klimakrise wie der Kauf eines SUV auf individueller Ebene. Das für diese Politik anfällige Bevölkerungssegment fühlt sich zunehmend bedroht und will sich also abschotten, die Grenzen dichtmachen und von immer größeren Karosserien mit immer stärkeren Motoren umhüllt wissen. Eine antifaschistisch denkende Ökologiebewegung sollte weg kommen von der netten Hippiementalität des »alle ins Boot holen« und stattdessen mit vermehrt antagonistischen Reaktionen rechnen. Die Klimakrise bringt eine faschistische Gefahr mit sich und ein Kampf um den ökologischen Wandel kann nur Erfolgsaussichten haben, wenn er auch antifaschistisch ist.

Betonpolitik = faschismusoffen

Wie kann es sein, dass Namen wie Porsche, Thyssen und Volkswagen weiterhin bei einer großen Mehrheit positiv konnotiert sind? »Wehrwirtschaftsführer« Ferdinand Porsche war bekanntlich der Chefauto- und Panzerbauer Hitlers und bei jedem großen Porscheschriftzug, der am Wiener Ring oder sonst wo prangt, könnte ich fast genauso auch »Hitler« lesen. Bei jedem Mercedes sehe ich die berühmte Szene aus Leni Riefenstahls Propagandafilm Triumph des Willen, bei dem ein Mercedesstern nahtlos zu einem Hakenkreuz überblendet. Die beiden für mich aussichtsreichsten Fördergeber in Deutschland heißen Thyssen und Volkswagen-Stiftung – zwei Namen, die aufs engste mit dem deutschen Faschismus verwoben sind.

Doch es hört natürlich nicht bei diesen symbolträchtigen und daher wichtigen Namen auf. Selbst die Lobau-Autobahn, die seit einem Jahr von mutigen Aktivist* innen verhindert wird, wurde erstmalig in NS-Zeiten geplant und ist seitdem ein Schubladenmonster, welches die vollkommen verwirrte Sozialdemokratische Partei heute mit Ach und Krach durchzusetzen versucht. Dies darf aber nicht so weit gehen, Michael Ludwig oder anderen Betonfetischist*innen selbst eine faschistische Politik vorzuwerfen. Sie ist faschismus-offen, will heißen, sie stellt sich dem fossilen Kapitalismus nicht entschieden (genug) in den Weg, um zu verhindern, dass irgendwann mal Faschismus als einzige Alternative für die herrschende Gemengelage erscheint. Nur wenn alles mit Autobahnen und Kraftwerken zubetoniert ist, kann man so kaputt gemacht werden, dass einem nichts Anderes übrigbleibt, als die fossile Verbrennung auch noch zu glorifizieren.

Faschismus ist die patriarchale und rassistische Hingebung an den Todestrieb, der durch fossil betriebene, stinkende Maschinen modern geworden ist. Dieser Faschismus hat nicht nur willentlich sechs Millionen Jüdinnen und Juden und ca. acht Millionen weitere Opfer industriell getötet. Mehr oder weniger unwillentlich hat uns der Faschismus bis heute ein fossilkapitalistisches Mobilitäts- und Energieregime hinterlassen, welches heute die allermeisten Lebensformen auf diesem Planeten bedroht. Deswegen und mehr denn je: Macht kaputt was euch kaputt macht.

Im 21. Jahrhundert sollte sich die Erinnerungskultur von den Gräueltaten der NS-Verbrecher*innen ausweiten auf ihr materielles Erbe, welches bis heute sowohl in vielen staatstragenden Namen wie im materiellen Erbe in Form von Straßennetzen, vernachlässigten Bahnverbindungen und irrationaler Förderung von fossilen Brennstoffen fortbesteht. Ausschwitz liegt in einem Kohlerevier und in einigen Nebenlagern wurden die Häftlinge auch durch Zwangsarbeit im Untertagebau ermordet. Auf eine ähnliche Weise ist die »freie Fahrt für freie Bürger« mit den Aufschrift »Arbeit mach frei« und »Jedem das Seine« der Konzentrationslager Theresienstadt und Buchenwald verbunden. Wer heute einen Porsche mit Stolz fährt, reiht sich unwissentlich und unwillentlich in diese Tradition ein. Wenn wir bald mal wieder auf der Baustelle der aktuellen Stadtautobahn zur Lobau stehen und diese besetzen, können wir mit Fug und Recht auch »Alerta Antifascista« rufen und so dem Antifaschismus eine neue Kraft verleihen.

Kilian Jörg hat in der Volksstimme 02/22 den Text »Linke Corona-Politik?« veröffentlicht.

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In Lesekreisen versammeln sich Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen, Vorkenntnissen und Sozialisierungen, um gemeinsam Texte zu lesen und zu diskutieren. Das ist manchmal zwar ganz schön anstrengend, bringt aber meistens einen deutlichen »Mehrwert« gegenüber der vereinzelten Lektüre im stillen Kämmerlein.

Im Zeitalter allgegenwärtiger Digitalisierung über »richtige« Bücher zu sprechen, erscheint fortschrittsoptimistischen Linken möglicherweise als romantisch, also verzichtbar. Und dann erst »Lesekreis« – alleine schon das Wort riecht nach dem Muff männlich dominierter Post-68er-Mühseligkeiten. »Wir studiern, wir studiern, es vertrocknet unser Hirn«, sang die frühe EAV, damals noch so etwas wie die Band des Grazer KSV, in schlechtester intellektuellen ­feindlicher Manier. Warum also 2022 über Lesekreise schreiben?

Der folgende Text von Martin Birkner versucht eine Antwort in fünf Thesen, gefolgt von einer kleinen Handreichung für die Praxis.

Lesekreis macht sichtbar

Durch die multiperspektivische Sicht auf den Text – es gibt kaum zwei identi­sche Lektüren bzw. Interpretationen – ent­stehen diskursive Räume. Die Bereitschaft zum produktiven Austausch vorausgesetzt entstehen in diesen Räumen Sichtweisen auf Aspekte des Texts, die vorher für die Teilnehmer:innen nicht erkennbar waren. Damit verbundene Diskussionen gehen frei­lich nicht immer reibungslos vor sich, manchmal wird auch gestritten, mitunter kommt man auch nach längerer Diskussion auf keinen »grünen Zweig«. Aber selbst – oder vielleicht gerade – in diesen Momen­ten zeigt sich, dass es keinen sich selbster­klärenden Text gibt, dass es um seine Inter­pretation geht. Und kollektive Interpreta­tion ist komplexer, multidimensionaler und erkenntnisreicher. Mit Marx gesprochen könnte man sagen, der »General Intellect«, also das implizite Wissen der »gesellschaft­lichen Gesamtarbeiterin« erscheint im Rah­men kollektiver intellektueller Anstren­gung.

Lesekreis macht dicke Bücher bewältigbar

Im Groben gibt es zwei Arten von Lesekrei­sen: Entweder man liest mehrere eher kür­zere Texte zu einem bestimmten Themen­komplex, oder aber es geht um die gemein­same Lektüre komplexer, meist umfangrei­cher Bücher. Letzteres kann dabei helfen, Bücher durchzuackern, die man alleine sonst nicht lesen würde. Gerade bei viel­schichtigen Argumentationssträngen ver­liert der bzw. die Einzelne oft das große Ganze aus den Augen, viele Augen können hier jedoch Abhilfe schaffen. Wichtig erscheint mir dabei eine gute Dokumenta­tion des Diskussions- und Leseprozesses, damit auch Teilnehmer:innen, die einmal nicht anwesend waren, gut wieder einstei­gen können. Dabei entstehende Protokolle sind auch für andere Leser:innen desselben Textes, die nicht beim Lesekreis dabei waren, eine große Hilfe.

Lesekreis macht Haltung

Die kollektive Interpretation verändert die Welt. Dies mag der elften Marxschen Feuer­bachthese widersprechen, dies ist jedoch ein notwendiger Widerspruch. Politische und soziale Praxen sind nie völlig abge­trennt von der Interpretation der Welt zu betrachten, letztere sind vielmehr sowohl Teil als auch Voraussetzung eines politisch nicht im luftleeren Raum agierenden politi­schen Handelns. Es macht natürlich einen Unterschied, ob eher abstrakt-theoretische oder konkret politische Texte gelesen wer­den, aber dieser Unterschied tritt zumal bei linken Lesekreisen für gewöhnlich immer hinter die Verknüpfung von Erkenntnis und Interesse zurück. Wir lesen ja gemein­sam Texte, um – wie vermittelt auch immer – eine den realen Gegebenheiten adäqua­tere politische und soziale Praxis entwi­ckeln zu können. Und so kann auch die gewonnene Erkenntnis, dass es eben »nicht so geht«, wie es der gelesene Text nahelegt, eine wichtige Erkenntnis darstellen.

Lesekreis macht sozial

Manchmal bilden sich Untergruppen, die gemeinsam geteilte Sichtweisen gegenüber anderen vertreten, manchmal gibt es so viele Perspektiven und Meinungen wie Teilnehmer:innen, manchmal sind auch alle einer Meinung. Diese kann sich auf positive, aber auch in negativer Weise auf das Gelesene beziehen. Manche Lesekreise scheitern konstruktiv, da alle oder fast alle Teilnehmenden zur Überzeugung gelangen, dass es nicht wert ist, den Text weiter zu verfolgen – oder aber, dass die Differenzen in Interpretation und Diskussion zu groß sind, um noch konstruktiv weiterzulesen. Es gibt aber auch – und zum Glück auch mehrheitlich – positiv sozialisierende Momente. Man trifft sich über größere Zeiträume hinweg, lernt sich besser ken­nen: So mancher politische Zusammenhang hat sich ganz oder teilweise aus Lesekreisen heraus entwickelt, weil die Teilnehmer: innen Vertrauen zueinander gefasst haben, sich ihre Kompetenzen und Affekte gut ergänzten.

Lesekreis macht Spass

Last but not least macht ein guter Lesekreis Freude, Freude auf das Wiedersehen mit den Mit-Lesenden, Freude auf gute Inputs und spannende Diskussionen, Freude auf ein Bierchen danach, Freude auf das gemeinsame Planen des nächsten zu lesen­den Buches, Freude an der Tatsache, dass männliche Dominanzen – und ja, diese gibt es auch und vielleicht gerade in Lesekrei­sen – ein Stückchen zurückgedrängt wer­den konnten, Freude, sich zum Beispiel das Marxsche Kapital in seinen unzähligen Dimensionen, Schichten und Geschichten gemeinsam erschlossen zu haben. In die­sem Sinne: Schafft 2, 3, viele Lesekreise!

Dos und Don’ts

Der richtige Text

Er kann ruhig schwierig und komplex sein, aber er soll Räume für Befragungen öffnen, »gut diskutierbar sein«. Es gibt Texte, die in ihrer Hermetik nur wenig Spielräume für konstruktive Diskussionen öffnen. Manch­mal sind es gar nicht die argumentativ »besten« Texte, die auch am besten zu lesen und zu diskutieren sind.

Die richtige Größe

Sehr kleine Lesekreise können zwar unge­mein produktiv sein, oft aber schon beim Ausfall weniger Teilnehmer:innen zusam­menbrechen; sehr große Lesekreise beför­dern wiederum Hierarchisierungen in den Diskussionen (ev. Moderation andenken!), sie erschweren es tendenziell auch zurückhaltenden Teilnehmer:innen mit­zudiskutieren. Eine gute Größe ist in etwa 7, 8 Personen. Auch bei den Textabschnit­ten auf die richtige Größe und Zeitbe­schränkungen achten – erfahrungsgemäß nimmt man sich eher zu viel vor.

Angenehme Atmosphäre

Eine ruhige Umgebung, ansprechendes Ambiente, kulinarische Genüsse, ev. Pau­sen einplanen und genügend Zeit für soziale Interaktionen lassen. Dazu gehört auch die gegenseitige Rücksichtnahme, indem z.B. lange Monologe vermieden werden. Produktiv ist Runden einzu­bauen, bei denen alle zu Wort kommen.

Gute Vorbereitung

Eine gute Debatte braucht gute Vorberei­tung. Möglichst alle sollen die jeweiligen Textstellen gelesen haben, ein konziser, auch auf Leerstellen und Widersprüche hinweisender Input zu Beginn ist hilf­reich.

Dokumentation

Sie hilft nicht nur jenen, die einmal feh­len, sondern auch beim abschließenden Fazit. Bei längeren Texten sind ansonsten frühere Leseeinheiten gerne schon in Ver­gessenheit geraten.

Aufhören können

Ein Lesekreis, der zur Pflichtübung ver­kommt, ist ein schlechter Lesekreis. Dann lieber einen Spritzer trinken und plau­dern. Vielleicht taucht dabei ja ein neues Buch am Horizont auf.

Martin Birkner arbeitet im Mandelbaum Verlag. Er liest andauernd, seit über 20 Jahren gerne auch in Lesekreisen. Er ist noch unsicher, ob er Graeber/Wengrows Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit oder Jane Bennetts Lebhafte Mate­rie. Eine politische Ökonomie der Dinge als nächs­tes vorschlagen soll. Sein Lieblingslesekreis war jener zu Paolo Virnos Grammatik der Multitude im Rahmen der Zeitschrift Grundrisse im Jahr 2005.

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Was bedeutet Bildung heute? Eine Polemik von Stefan Vater

Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache und die Spra-che wiederum ist untrennbar mit der sozialen Praxis verbunden, schrieb Ludwig Wittgenstein Mitte des 20. Jahrhunderts in seinen Philosophischen Untersuchungen. Mit Antonio Gramsci lässt sich ergänzen: Die soziale Praxis und ihre Diskurse sind bestimmt von hegemonialen Vorstellungen und den materiellen Verhältnissen.

Wie wird über Bildung gesprochen? Es geht heutzutage in hegemonialen öffent lichen Diskursen – der EU, der Mainstreammedien aber auch andernorts – um Verwertbarkeit der Bildung und Employability, für die klarerweise jede und jeder verantwortlich ist, egal ob es Arbeitsplätze gibt oder nicht. Es geht um effektive Organisation der Bildungsinstitutionen, um die Qualität von Bildung, die in unzähligen kostspieligen Qualitätssicherungsverfahren gewährleistet werden soll. Zumindest verdienen die diese verkaufenden Consulting Institute gut damit. Qualitätssicherungssysteme, die die Kund*innennähe, das gelungene Lernen, die Effektivität sichern, aber meist ohne jeglichen Inhalt auskommen.

Zentral ist die Brauchbarkeit von Bildung angesichts der Bedürfnisse der Wirtschaft oder drohender Krisen. Es geht um den Output der Bildung, um Abschlüsse, Prüfungen, Klausuren, Ergebnisse, Punkte, ETCS ... Bestätigt wurde diese Aussage von einem ehemaligen Bildungsminister, der treffend festhielt: Auch in der Zeit von Corona sei das Wesentliche der Bildung, der Abschluss, die Prüfung nicht gefährdet. Nennen wir es Ignoranz und Ideologie.

Real errichtet die Ausbreitung der Outputorientierung, von quantifizierenden Mess- und Legitimationssettings, eine neue, kalkulierende und prüfende Kultur des Abrechnens. Oder radikalisiert diese. Und warum? Die Antwort ist erschreckend simpel: um die Vermessenen in kapitalistische Konkurrenz zu setzen und den erlösenden Wettbewerb freizusetzen. Und auch darum, den Einfluss der Konkurrenz und des kapitalistischen Egoismus auf alles auszudehnen. Der Markt soll alles durchströmen. Mit seiner erfrischenden Zerstörungskraft kann nur er für Profit und Ungleichheit sorgen.

Die Wirtschaft braucht Kompetenzen, die für den Markt verwertbar sind, die für Resilienz bürgen. Die Gebildeten sollen ihre Kompetenz ja nicht nur haben, sondern auch billig und willig einsetzen. Ziel ist die Nutzbarmachung von Humankapital, die billige Arbeitskraft, die disponible und mobile Arbeitskraft. Und es geht um Empowerment, die Armen und Bedürftigen sol-len sich doch endlich mal empowern und nicht den Leistungswilligen länger auf der Tasche liegen. Empowerment zur Employability!

Aktuell reduziert sich – besonders unter Covid Bedingungen – die Idee der Bildung und die Praxis des Lernens auf Defizitbehebung, oder auf eine Vorstellung der schlichten Abfüllung von Inhalten in leere oder halbleere Köpfe. Ein Abfüllen ohne Bezug zu den Problemen der Menschen oder zu demokratischer Praxis. Noch dazu sind Teile der Bildungspolitik – wie die Erwachsenenbildung - intensiv mit harter, rechter Migrationspolitik verschränkt, wo Bildung nicht dem Wissenserwerb dient, sondern der Ausgrenzung und Abgrenzung.

Wir leben in einer Zeit ohne Reflexion über Machtverhältnisse, in einer Zeit der Individualisierung und des »Wir schaffen das!«.

Das ist Neoliberalismus! – Mikropolitiken des Neoliberalismus

Es geht in diskursiven Mikropolitiken des Neoliberalismus um die Deutungshoheit des Alltags, um die Formierung einer neuen Subjektivität, eines neuen Bezuges zur Welt und zu den Anderen – die Stichworte sind: Konkurrenz, Individualität, Eigenverantwortung, Kompetenz und Willigkeit, diese einzusetzen. Dazu Judith Butler: »Die neo liberale Vernunft fordert Autarkie als moralisches Ideal, während gleichzeitig neoliberale Machtformen genau diese Möglichkeit auf der ökonomischen Ebene zunichtemachen, indem sie jedes Mitglied der Bevölkerung zum potenziell oder tatsächlich Gefährdeten machen und die allgegenwärtige Bedrohung der Prekarität sogar zur Rechtfertigung der verstärkten Regulierung des öffentlichen Raumes und der Marktexpansion nutzen.« Jede soll »zum Unternehmer seiner/ihrer selbst werden – unter Bedingungen, die diese dubiose Berufung unmöglich machen«1. Scheitern und Angst sind Grundelemente des Neoliberalismus ebenso wie Entbürokratisierung und Mitarbeiter*innen-Animation. Die Strategien dazu – ich verstehe Strategien hier mit Foucault – wie lebenslanges Lernen, Validierung, New Public Management, Output-orientierung, Qualitätssicherung und Professionalisierung formen in ihrer Gesamtheit das, was ich in diesem Beitrag als Neoliberalismus bezeichne. Moderne Bildungsdiskurse spielen dabei eine wesentliche Rolle.

Ist das alles?

Aber das Arbeiten in Bildungszusammenhängen ist von einer Art Schizophrenie gekennzeichnet oder – um wieder Gramsci zu bemühen – von einem Pessimismus der Analyse und einem unbeugsamen Optimismus der Praxis. Weil es sie gibt, ist die gegenhegemoniale Bildung als Wunsch, als Erfahrung und auch als Praxis historisch und aktuell. Die folgenden Zeilen sprechen aus der Perspektive des Erwachsenenbildners: Alternative, heterotope Bildungspraxen, Gegenpositionen, Nischen und Konzepte gibt es viele. Erwähnt werden können Initiativen kritischer Bildung, Migrant*innenvereine oder Frauenbildungsvereine. Theoretisch kann von gegenhegemonialen Bewegungen oder von epistemischem Ungehorsam dieser Bewegungen gesprochen werden, um diese Praxen zu benennen, von Standpunktbezug oder situiertem Wissen. In diesen Bewegungen und Theorieansätzen zeigt sich eine Wissensproduktion und Praxis, die Voraussetzungen für die Dekolonisierung von Bildung darstellen. Es gibt kein Wissen für alle, auch wenn Bildung für alle natürlich ein Anspruch bleibt. Handlungsermächtigung, Orientierung an den Interessen der Teilnehmer*innen, Partizipation und Mitbestimmung stehen im Zentrum dieser Bildungspraxen, gegen die hegemonialen Diskurse, gegen das Alltagsverständnis von Bildung.

»Wir sehen uns mit einer klaren Wahl konfrontiert: Bildung zur Befreiung oder Erziehung zur Herrschaft«. (bell hooks)

Es geht in der Bildungspraxis um eine Widerständigkeit des Handelns in hegemonialen Strukturen. bell hooks beschrieb Widerständigkeit als »Queerness«, als ein »in der Welt mit anderen Sein«, das ständig im kon-struktiven Widerspruch zu allem anderen steht. Im Widerspruch nicht ausschließlich durch eigene Wahl oder Haltung, sondern auch schlicht durch den eigenen Standpunkt, die Klassenposition, die Hautfarbe sowie das Geschlecht. bell hooks schreibt in Where We Stand: Class Matters (2000) über die Lebens-Bedingungen einer schwarzen Arbeiterklasse, über den Mangel an Wohnraum und Geld, über versteckte Kosten des Bildungssystems und über die Widersprüchlichkeiten, die Bildungsaufsteiger*innen zu ertragen haben, als Fremdkörper und Außen im vermeintlich neutralen System der Bildung. Ein Bildungssystem, für das Weiß-Sein, Mittelschicht-Werte und Mittelschicht-Kultur – neben anderen Charakteristika – unhinterfragte, unsichtbare Normalität darstellen.

»I will not have my life narrowed down. I will not bow down to somebody else’s whim or to someone else’s ignorance.« (bell hooks und Maya Angelou im Gespräch 1998)

Stefan Vater ist Erwachsenenbildner und lebt in Wien

1 Vgl. Butler, Judith (2016). Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt: Suhrkamp, S. 24ff.

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175 Jahre Österreichische Akademie der Wissenschaften, Peter Fleissner bespricht die drei Jubiläumsbände

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist eine traditionsreiche Gelehrtengesellschaft. Im internationalen Vergleich eher als ein Spätling im Vormärz 1947 von Kaiser Ferdinand I. mit 40 (männlichen) Mitgliedern gegründet, wurde sie heuer 175 Jahre alt. Die Akademie sollte als Ventil für die liberalen und weltlichen Strömungen in den Kronländern der Monarchie dienen, da an den Universitäten der konservative Geist des Katholizismu herrschte. Ihre Mitglieder gehören zwei Klassen an, der mathematisch-naturwissenschaftlichen und der philosophisch-historischen Klasse. Die Theologie war und blieb aus dem Fächerkanon ausgeschlossen. Unter den ersten Mitgliedern der Akademie waren revolutionäre Gesellen, die u. a. im ersten Gebäude der Akademie, im Polytech-nischen Institut (heute die Technische Universität am Karlsplatz), in den Keller räumen Schießbaumwolle für die 1848-Revolution erzeugten. Sie wurden bald wieder aus der Akademie ausgeschlossen, angeblich weniger wegen ihrer revolutionären Gesinnung als vielmehr, weil ihr Sprengstoff nicht zündete.

Heute hat die ÖAW die Größe eines Mittelbetriebes mit beinahe 200 wirklichen Mitgliedern und rund 1.000 wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen. Sie ist die größte Forschungseinrichtung Österreichs außerhalb der Universitäten und besitzt in wissenschaftlichen Streitfragen eine Schiedsrichterrolle. Zu ihrem Jubiläum legt sie der Öffentlichkeit auf 2.000 Seiten in drei opulenten Bänden, herausgegeben vom hauseigenen Verlag, ihre Geschichte vor, in der sie von Glanzzeiten und Zeiten der Krise berichtet und auch die dunklen Jahre der NS-Zeit im Kontext der Akademien des Dritten Reiches nicht ausklammert. Positiv schlägt zu Buche: 69 Mitglieder haben den Nobelpreis erhalten.

Seit ihrer Gründung werden neue Mitglieder auf Vorschlag der bisherigen zugewählt. Diese institutionelle Verfassung und die frauenfeindliche Grundhaltung in der Wissenschaft erklärt, dass es mehr als hundert Jahre dauerte, bis das erste weibliche Mitglied 1963 in die Akademie aufgenommen wurde. Mittlerweile gibt es rund 30 Frauen.

Aber auch nach der Jahrtausendwende gibt es ein Echo aus längst vergangen geglaubten Zeiten: Die international renommierte Molekularbiologin Renée Schroeder und der Ökonom Gunther Tichy traten 2012 unter Protest aus der ÖAW aus. Renée Schröder, die selbst erst 2003 als zweite Frau Mitglied der ÖAW geworden war, begründete ihren Schritt wie folgt: »Aus Solidarität mit jenen exzellenten Wis-senschaftlerInnen, denen es wegen ihres kulturellen Hintergrundes oder ihrer politischen Einstellung nicht möglich ist, Mitglied dieser Gesellschaft zu werden, lege ich meine Mitgliedschaft zurück.« Der Hintergrund war, dass die Sprachforscherin Ruth Wodak, die bereits korrespondierendes Mitglied war (korrespondierende Mitglieder können – nach einem Scherz, der in der ÖAW kursiert – zum Unterschied zu den wirklichen Mitgliedern Lesen und Schreiben), nicht zum wirklichen Mitglied gewählt wurde und danach die Akademie verließ.

Verjüngungskuren

Das Durchschnittsalter der Mitglieder ist permanent angestiegen, derzeit liegt es bei 75 Jahren. Ein statistischer Trick ermöglichte ab 1971 eine formale Verjüngungskur. Mitglieder über 70 werden nicht mehr mitgezählt.

Seit 2007 wurde eine institutionelle Neuerung eingeführt, die früher ganz undenkbar war: Die Junge Akademie (damals: Junge Kurie) wurde gegründet. Aus dem Kreis von Nachwuchs-Wissen-schaftler*innen wurden 70 Personen in die Junge Akademie gewählt, allerdings habe sie laut Betriebsrat »keinen Sitz im Präsidium (der ihr bei der Gründung versprochen worden war) und […] kein Wahlrecht bei den wirklichen Mitgliedern, was die wesentlichen Mitspracherechte der ÖAW sind.«

Betriebsrat verschwiegen

Auch wenn ein unvoreingenommenes Team von Forscher*innen die Texte zur jüngsten Akademiegeschichte verfasst hat, spiegeln sich doch in der Auswahl und Betonung der Inhalte die herrschenden Tendenzen in den Leitungsorganen der Akademie wider. Ich selbst hatte ab 1970 zwanzig Jahre lang Gelegenheit, die Entwicklung der Akademie von innen mitzuerleben. Ich setzte mich gemeinsam mit einer parteiunabhängigen Liste erfolgreich für die Gründung eines Betriebsrates ein, war später selbst Betriebsrat und eine Zeit lang Betriebsratsvorsitzender. Damals herrschten nicht nur paternalistische und ziemlich konservative Leitungspersonen, auch der Ungeist des Nationalsozialismus war noch nicht ganz verschwunden. Dennoch konnten wir eine Betriebsvereinbarung abschließen und mehrere Arbeitsgerichtsprozesse gewinnen, die der Akademie einiges Geld kosteten. Aber die Revanche ließ nicht lange auf sich warten. Ich denke, ich war einer der wenigen unter den Angestellten der Akademie, der in 15 Jahren keine außertourliche Gehaltserhöhung erhalten hatte. Darüber hinaus wurde meine Ernennung für die Position eines Institutsdirektors durch General sekretär Werner Welzig verhindert, der mir unter vier Augen sagte: »Ein Marxist wird bei mir in der Akademie nix!«

Es ist schon seltsam, dass in der neuen historischen Selbstdarstellung der Betriebsrat der Akademie keine Erwähnung findet, obwohl die ÖAW laut eigener Homepage »als Österreichs führende außeruni-versitäre Institution für Wissenschaft und Forschung für gesellschaftlichen Diskurs« steht. Der Betriebsrat äußerte sich aus Anlass der Feierlichkeiten um das 175-Jahr Jubiläum, das mit umfangreichen und eindrucksvollen Renovierungsarbeiten im Zentrum Wiens verbunden war: »Die Arbeitsplatzsituation zahlreicher Mitarbeiter*innen hat sich … durch die Übersiedlungen und Umbauten verschlechtert: Die Büroräume sind so dicht belegt, dass konzentriertes Arbeiten erschwert wird. Auch gibt es zu wenig Platz für Bücher und anderes Arbeitsmaterial. Labore und Werkstätten verfügen über kein natürliches Licht. Bibliothek und Tiefspeicher sind nicht über einen durchgehenden Lift verbunden, Bücher und Archivalien können daher nur über Umwege in den Lesesaal gebracht werden. Für – auch in Zeiten der Digitalisierung – notwendige Zuwächse in Bibliothek und Archiv ist platzmäßig nicht vorgesorgt. […] Es ist unklar, wie sich die ÖAW in diesen Räumlichkeiten weiter entwickeln kann, die bereits jetzt kaum ausreichend Platz für das derzeit beschäftigte Personal bieten. Dies erschwert die unbedingt notwendige und immer wieder geforderte Einwerbung von Drittmitteln und macht die Akademie für exzellente Forscher*innen weniger attraktiv.«

Man kann nur hoffen, dass mit dem designierten Präsidenten, dem ehemaligen Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsminister Heinz Fassmann, in die ÖAW ein für gesellschaftliche Fragen offeneres Klima einzieht. Er sollte wissen, was er tut. Schließlich war er im Lauf seiner Karriere viele Jahre an der Akademie angestellt.

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Schulgeschichten von Maria Lodjn, Franziska Haberler und Jonathan Herkommer

Beim Betreten des hellen, lichtdurchfluteten Schulgebäudes begrüßt mich eine geräumige Aula mit einladenden Sitzflächen und viel Grün. Die Wände dokumentieren die unterschiedlichsten Projekte der Schüler*innen. Mit mir strömen mehrere Schüler*innen ins Gebäude. Die meisten Schüler*innen kämen eine halbe Stunde früher, erzählt jemand von der Schulleitung. Viele würden sich am Buffet ein kostenloses Frühstück holen, zum Lesen oder Social Media Update in die Bibliothek gehen bzw. sich mit ihren Freund*innen für eine Runde Tischtennis oder zum Austausch über den neuesten Gossip treffen. Mein wandernder Blick erheischt einige dieser gerade mitgeteilten Momente. Großzügige Aufenthaltsräume und -plätze mit verschiedenen Sitz- und Liegemöglichkeiten laden zum Verweilen, Arbeiten und Zusammensein ein.

Architektonisch orientiert sich das Gebäude nicht mehr an vielen, hermetisch abgeschlossenen, ehemals Klassenzimmer genannten Räumen. Vielmehr gibt es fachbezogene Räume. Diese sind mit den entsprechenden Utensilien ausgestattet und werden von den Schüler*innen aufgesucht, wenn sie sich mit dieser Thematik beschäftigen wollen. Dieselben weisen keine Reihe von Tischen und Stühlen auf, sondern sind mit Tischinseln und diversen Sitz- und Arbeitsmöglichkeiten ausgestattet. Je nach Bedarf gibt es so genug Platz für Einzel- bzw. Gruppenarbeiten. Wo gearbeitet wird, ist den Schüler*innen offen gelassen. Des Weiteren ist jeder der Räume mit dem höchsten Stand der Technik ausgestattet und verfügt über vielfältiges Arbeits- und Bastelmaterial, sodass keiner Gestaltungskreativität Einhalt geboten ist. Räume und Gebäude ohne PCs, Tablets und Beamer oder gar WLAN sind unvorstellbar.

Neben der Raumgestaltung hat sich auch der sogenannte Stundenplan verändert. Während der Vormittag überwiegend mit Lernsettings des Sach- und Fachunterrichts aufgebaut ist, schreiben sich die Schüler* innen nachmittags, nach einem gratis Mittagessen aus lokalen und biologisch angebauten Nahrungsmitteln, für Kurse ein. Diese können je nach Interesse sowie Neugier und für die Länge eines Semesters ausgewählt werden. Das Angebot reicht von vielfältigen Sportaktivitäten über Theater und Kunst bis hin zu Vertiefungskursen des Sach- und Fachunterrichts als auch Gartenbau und landwirtschaftlichen Kursen. Selbige sind nicht nach Geschlecht oder Alter getrennt und werden selbstredend von einem diversen Team organisiert und betreut. Das viel zu lange andauernde in Reih und Glied sitzen und vorgekauten Stoff konsumieren ist passé. Heutzutage entscheiden die Kinder und Jugendlichen mit welchen Inhalten und mit welchen Schwerpunkten sie sich im Semester auseinandersetzen wollen. Diese Kurse lassen sich jedes Semester neu wählen. So können unterschiedlichste Eindrücke gewonnen werden. Gleichzeitig können bei Fortführung Vertiefungskurse belegt und so ein immer größeres Expert*innenwissen aufgebaut werden.

Der Schulort ist ein Ort der gelebten Demokratie. Die Leitung besteht aus einem gewählten Team, das sich die Aufgaben und Verantwortlichkeiten untereinander aufteilt. Unterstützt werden sie von einem personell ausreichend ausgestatteten Büro und Administration. Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, die ausschließlich unserem Standort zugeteilt sind, ergänzen die psychosoziale Infrastruktur der Schule. Das Team stellt sich nach jeder Periode zur Wiederwahl. Schulinterne bewerben sich um Positionen innerhalb der Schule. Eltern und Schüler*innen haben eine jeweilige, gewählte Vertretung. Das Schulparlament trifft sich einmal im Monat zu Sitzungen und Abstimmungen zu Schulangelegenheiten. Da mittlerweile nur noch eine 25 Wochenstunde vorherrscht, Lehrer*innen mehrsprachig sind sowie Simultanüberstetzungen selbstverständlich sind, haben Eltern Zeit und Sprachbarrieren als Ausschlussmechanismus gehören der Vergangenheit an.

Kommen Sie näher und staunen Sie

Die Lernstation »Design your Life« ist heute gut besucht. Über 20 Kinder und Jugendliche arbeiten altersübergreifend an ihrem persönlichen »Sinn« des Lebens. Dazu haben die Lernbegleiter*innen verschiedenes Material und Modelle vorbereitet. Intensiv besucht ist auch der Exchange Room, der völlig selbstverständlich in mehreren Sprachen gleichzeitig stattfindet. Schüler*innen tauschen sich hier nach klassischen Regeln des radikalen Respektes miteinander aus, präsentieren Ideen und suchen Unterstützung und Feedback. Die mehrsprachigen Lernbegleiter*innen, die den Exchange Room moderieren, können selbst auch beitragen. Im Rahmen ihrer Ausbildung haben sie die üblichen Sprachstudien gemacht, sprechen mindestens zwei Fremdsprachen, wovon eine nicht europäischer Herkunft ist und kamen somit auch in den Genuss, eine völlig fremde Schrift zu erlernen. Im Rahmen ihres Auslandssemesters durften sie selbst im außereuropäischen Ausland leben, arbeiten und die Erfahrung machen, wie man sich in einer fremden Kultur, Schrift und Sprache zurechtfindet. Diese Erkenntnis ist obligatorisch, wenn man in Wien an einer Schule mit multiethnischer Schüler*innenschaft arbeiten möchte und hilft immens, sich in die Kinder und Jugendlichen, die ganz selbstverständlich altersübergreifend unterrichtet werden, hineinzuversetzen. Längst sind überall Videodolmetscher*innen implementiert, um die Zusammenarbeit mit den Eltern zu erleichtern und vor allem, um das Defizitgefühl der Eltern aufzufangen, wenn sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Schon lange verlangt man nicht mehr die deutsche Sprache von den Zugewanderten, sondern sieht die multilinguale Kommunikation als eine große Bereicherung für diese schon immer mehrsprachig gewesene Stadt. Zu wichtig sind die Qualifikationen und Kompetenzen, die Menschen aus anderen Ländern in diese Stadt bringen, als dass man diese monate- und jahrelang mit ineffizienten Deutschkursen schikanieren muss. Da der Druck nun weg ist und »das Eintrittsticket in die Gesellschaft« wegfällt, kommt die gemeinsame Sprache sowieso. Die Ghettoisierung hat sich durch die Gesamtschule weitestgehend aufgehoben, alle Kinder werden nun von gleich gut ausgebildeten Lehrkräften auf ihrem Lernweg begleitet und unterstützt.

Teamteaching ist Teil der Ausbildung und über das reine Vermitteln von Unterrichtsstoff im Frontalformat lacht man heute, im Jahr 2049, oft noch herzlich in den gemeinsamen Lernbegleiter* innen- und Lerner*innenräumen bei einem selbstgezüchteten Kombucha. Fächer gibt es schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie zeitlich durch eine Klingel begrenzte Stunden und Noten, um das Wirken der Kinder zu bewerten. Schulangst ist aus dem Duden gestrichen und die Bewerbung um den beliebten und gesellschaftlich geachteten Lehrberuf ist langwierig und komplex. Dass Bildung einst vererbt wurde, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wir leben in einem Land, wir arbeiten in einer Stadt, die sinnvoll in Bildung investiert und entsprechende Ergebnisse dafür erhält.

Wagen Sie einen Blick in die Kristallkugel

Gleich neben dem Lernbüro meiner Kollegin sitze ich mit sieben Schüler*innen um einen Tisch. Ayse hat heute ein Zeugnis ihrer Großmutter mitgebracht. Weil Ayse lieber in ihrer Erstsprache türkisch kommuniziert, ist eine Kollegin an ihrer Seite, die bei Bedarf übersetzt. Eigentlich würden wir die Kollegin gar nicht brauchen, weil alle Schüler*innen und ich zurzeit gemeinsam Türkisch lernen. Aber sie geht lieber auf Nummer sicher.

Das Zeitdokument Zeugnis liegt vor uns. »Damals gab es noch Noten«, erzählt Ayse. »Noten? So wie in Musik?«, fragt Ella erstaunt. »Haben die dann das Zeugnis ihren Eltern vorgesungen?«, kichert Mansur. »Was wurde dann benotet? Und wie soll das gehen?«, staunt auch Elvetiano. Die Augen meiner Schüler*innen werden immer größer. »Meine Oma hat erzählt, dass sie meistens dann gute Noten bekommen hat, wenn sie still auf ihrem Platz gesessen ist, und schön geschrieben hat. Und dass sie, nachdem sie gelernt hat, immer alles gleich vergessen hat. Und dass vieles, was sie lernen musste, gar nichts mit ihrer Welt zu tun hatte.« Ayse ist in ihrem Element. Sie ist sprachlich extrem begabt, und liebt es, wenn sie vor allen reden kann. Elena lacht mich an und sagt: »Würdest du mir also eine Eins geben, wenn ich das nächste Mal nichts verstanden habe, aber dafür mit meiner schönsten Schrift brilliere?« Kluges Mädchen, denke ich mir. Sie ist graphisch eine der Besten. Mansur hat lange nichts gesagt, aber jetzt bringt er sich in die Diskussion ein. »Wozu oder warum gab es die Noten überhaupt?« Ich versichere mich zuerst, ob nicht ein*e Schüler* in darauf antworten will. Das gehört auch zum Lernkonzept 2050. Expert*innen sind nicht wie selbstverständlich die Lehrer*innen, Vorrang haben die Schüler*innen. Nachdem keiner antworten möchte, erkläre ich den Begriff Leistungsgesellschaft. Diese hat längst ausgedient, zum Glück. Und als ich sage, dass in dieser Gesellschaftsform die Ansicht vorherrschte, dass es jede*r, der oder die wollte es schaffen würde, ein tolles Leben zu führen, unterbricht mich Mansur entrüstet. »Blödsinn. Das kann gar nicht gehen. Meine Großeltern haben immer gearbeitet, aber als sie dann in Pension gingen, waren sie arm. Sie hatten auch kein Geld, um zum Beispiel meinem Vater Nachhilfe zu bezahlen. Nachhilfe war so, dass du nach der Schule noch Privatunterricht bekommen hast. Weil die Schule es nicht geschafft hat, dir etwas beizubringen.«

»Aber, gab es in diesen Zeiten keine Lehrer*innen, die Noten und Leistungsgesellschaft kritisch betrachtet haben?« »Und das haben sich alle gefallen lassen?« »Und, war es wirklich so, dass viele Schüler*innen Angst hatten in die Schule zu gehen?« Ich sehe, diese Einheit wird heute länger dauern. Immer mehr Fragen kommen auf. Viele, die ich nicht so leicht beantworten kann. Auch ich brauche eine Expertin oder einen Experten. Zum Glück sind Schulen im Jahr 2050 perfekt vernetzt. Eine Historikerin und Wirtschaftsfachfrau steht uns in einem Videochat Rede und Antwort. Nach drei Stunden, natürlich mit Pausen, verlassen die Schüler*innen das Lernbüro, nur Ella bleibt zurück. »Sag, wann hat dieses Umdenken eigentlich stattgefunden?«, will sie wissen. »Das war ein paar Jahre nach der Corona-Krise.« »War das diese Pandemie? Können wir morgen darüber reden?«, fragt sie mich. »Gerne. Ich glaube, meine Großmutter hat in der Zeit sehr viel darüber geschrieben«, antworte ich.

Maria Lodjn, Franziska Haberler und Jonathan Herkommer sind Lehrer*innen in Wien und im Redaktionsteam von Schulgschichtn. Der Text erschien im Juni 2021 auf schulgschichtn.com in der Rubrik »Erfolgsgschichtn«.

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Fragen von Jan Niggemann

Bildung wird für viele wichtige Aufgaben angesprochen: Vorurteile und Diskriminierung abbauen, Menschen ohne Erbe sozial aufsteigen lassen, gegen rechten Populismus helfen usw. Bildung hat aber in der Form der Schulbildung die Funktion, bestehende Ungleichheit zu erhalten, Lebenschancen zu verteilen und nach zukünftigen Tätigkeiten zu sortieren. Zeit für außerschulische politische Bildung ist knapp. Vereine und Initiativen, die sie gezielt und kostenlos anbieten, haben knappe oder keine Budgets, werden nicht gefördert oder nur sehr selektiv. Was bedeutet es, wenn eine Gesellschaft die wichtige und sozial unverzichtbare Arbeit kaum oder schlecht bezahlt, während sie sie lobt, so lange Ruhe herrscht und es nichts kostet?

Diese komplexen, gewollt emanzipatorischen Prozesse sind langwierig: Lernen, bilden, erziehen, fürsorglich und unterstützend oder assistierend da sein lohnen sich für Menschen, aber nur bedingt für den Markt. Dennoch boomen Privatschulen, Nachhilfe, Coachings und Beratungen oder Tutorials auf youtube, tiktok oder insta. Der Bedarf ist riesig, die Bezahlung ein Witz. In der Hochschule werden massenhafte Befristungen zur neuen Normalität, so dass sich ohne sachlich-inhaltliche Begründung alle paar Monate die Karrieren und Lebensläufe statt dem Forschungs- oder Lernprozess zu folgen, einer abstrakten Konkurrenz also einer konkret unplanbaren Situation anpassen müssen. Bildung wird zur Ware, die Orte ihrer Vermittlung oder Ermöglichung werden zum Markt oder dem Zufall überlassen.

Andererseits hält diese Zwangslage, weil diejenigen, die im Bildungsbereich arbeiten, die Lücken mit Engagement, Idealismus, Mut und Fleiß tragen, also Mittragen, auch ohne angemessene symbolische oder materielle Aufwertung. Das Gefühl, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, ist sicher angenehmer, als Ohnmacht und wenige Spielräume zu erkennen. Dennoch beschleicht einen das Gefühl, dass genau dort die Falle zuschnappt. Und es stimmt, wenngleich auch nicht ganz. Denn so sehr Bildung zur Dienstleistung wird, widerstreben ihre Unplanbarkeit und Eigentümlichkeit sowie die Interessen und Wünsche der an ihr Beteiligten auch ihrer kompletten Vereinnahmung.

Bildung ist nicht neutral

Denken hat die Aufgabe, die Alternativlosigkeit von Gegenwart und das Erbe der Vergangenheit nicht als Perspektive der Ohnmacht, sondern des Möglichen (dabei überschreitenden) zu entwerfen. Der italienische Journalist, Philosoph und Mitbegründer der sozialistischen und der kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci interveniert in die als Naturgesetz erlebte und empfundene Geschichte, indem er all die Gruppen adressiert, die bisher keine oder keine »gemeinsame« Zukunft erwartet, gedacht oder geplant haben und stellt sich gegen jede Form von »Schicksalsgemeinschaft«. Mit und durch Bildung können sich Menschen selbst in die Geschichte einmischen lernen, sich selbst als denkende und fühlende individuell-kollektive Wesen kennenlernen, die »ohne Inventarvorbehalt« die Spuren der Gewalt und Herrschaft in ihnen und zwischen ihnen kennen lernen wollen. Nicht um sie zu leugnen, sondern mit ihnen Bündnisse, Lernprozesse und Kämpfe zu ermöglichen, in denen sie sich und die Welt verändern. Strukturen und Beziehungen zu sich selbst und untereinander sind nicht abstrakt, aber wirken unsichtbar. Menschen können selbst Erkenntnis- oder Beherrschungsobjekte sein und Objekte das Ergebnis subjektiver Tätigkeiten anderer: »Der Mensch ist zu begreifen als ein geschichtlicher Block von rein individuellen, subjektiven Elementen und von massenhaften, objektiven und materiellen Elementen, zu denen der Mensch eine tätige Beziehung unterhält.« (Gramsci) Das Wesen des Menschen liegt nicht in einem authentischen Kern, sondern in der Gesellschaftlichkeit, die Gramsci auch als »Konformismus« bezeichnet. Was einen Menschen als einzigartiges Individuum ausmacht, ist ein tätiges Dasein. Menschen sind ein Knotenpunkt sozialer Mehrfachzugehörigkeiten, sie gehören gleichzeitig vielen Gruppen an. Das gesellschaftliche Wesen des Menschen ist so widersprüchlich wie seine Existenzbedingungen, seine Geschichte und Situation.

Alle Menschen machen die Welt

Gesellschaftliche Widersprüche durchziehen die Geschichte und zeigen sich als Zerrissenheit des Menschengeschlechts durch Arbeitsteilung und Besitzungleichheit, in der Fragmentierung der Subjekte, ihrer Seelen, Körper und Gedanken, aber auch in der manchmal uneindeutigen Zugehörigkeit und Zuweisung zu verschiedenen sozialen Gruppen. Solche Spaltungen drücken sich in der Einsetzung von Gegensätzen aus: von Stärke und Schwäche, intellektuell und manuell, Kognition und Emotion und vielen weiteren. Wenn aber Spaltungen Ergebnisse sozialer Ungleichheit sind, müssen sie historisch verstanden werden, um ihre Wirkmächtigkeit aufzuschlüsseln und den Zweck, den sie für die Interessen bestimmter Gruppen erfüllen. Es genügt nicht, sie als Tatsachen zu sehen oder als menschliche Natur. Es gibt keine Konflikte außerhalb der Hierarchien von Gruppen. Sich selbst erkennen und die eigene Lage verstehen, das lernt niemand in der Schule oder eben gerade. »Diese Verhältnisse sind nicht mechanisch. Sie sind tätig und bewusst, d. h. sie entsprechen einem größeren oder geringeren Grad des Verständnisses, das der Einzelmensch von ihnen hat. Daher kann man sagen, dass jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, anders werden lässt und verändert.« (Gramsci) Das tätige Verhältnis, das Menschen zu ihren Verhältnissen eingehen, zeigt ihren sozialen Charakter und nicht der Status. Ihre Abhängigkeit in der Organisation des Zusammenlebens stellt die Idee einer Individualität als autonomer Existenz unabhängig von anderen radikal in Zweifel.

Der Mensch stehe in einem Austausch mit seinem Selbst, der Welt und den Anderen, einer Tätigkeitsbeziehung zu den anderen Menschen und der Ordnung der Dinge. Das schließt die Gleichzeitigkeit von Individualität und Kollektivität, von Vergangenheit und Gegenwart mit ein. So können sie durch die Kritik an der Aneignung und Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse »in einen Prozess der sozialen und kulturellen Selbstpotenzierung« (Merkens) eintreten, indem sie Möglichkeiten sehen und ergreifen. Und selbst zu anderen werden. In der diskreten Poesie der Sprache von Gramsci: »Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln.« Selbstveränderung, die sich ohne die Veränderung der Bedingungen, unter denen sie stattfindet, vollzieht, muss dementsprechend noch keine Selbstpotenzierung sein. Sie wird es erst, wenn Menschen über die Fortsetzung oder Rücknahme dieser Entwicklung selbst verfügen. Gramsci bezeichnet die menschliche Selbstpotenzierung in Veränderung der Umstände als explizit politisch-pädagogischen Prozess, weil sie die Entwicklung der Persönlichkeit an die Entwicklung gesellschaftlicher Umstände knüpft. »Daher kann man sagen, dass der Mensch wesentlich politisch ist, denn die Tätigkeit zur bewussten Umformung und Leitung der anderen Menschen verwirklicht seine ›Menschlichkeit‹, sein ›menschliches Wesen‹.«

Vom Fühlen zum Verstehen zum Wissen

Die schwierige Aufgabe, in der die Hoffnung auf Bildung steckt, ist es also all die Verbindungen und Zusammenhänge zu verstehen, wo andere Prinzipien, Wesen oder Schicksal sagen. Das geht nicht, wenn Denken, Fühlen und Handeln gegeneinander ausgespielt oder voneinander isoliert werden. Autonomie ist selbst ein Ergebnis von Herrschaft: die Freude über Autonomie bleibt allen anderen im Halse stecken. Emotionen haben eine »erkenntnisleitende Funktion«, sie sind Bewertungen von Zuständen und Situationen, die man erstmal verstehen und deuten muss. Das zu Beginn erwähnte Denken als individuelle und kollektive Suche nach den Möglichkei-ten einer Situation, einer Zeit eines Raumes, einer Politikform bedeutet dann nicht, aus jeder Ruine ein Schloss zu bauen, sondern die Grenzen des Möglichen als Begrenzungen durch Machtverhältnisse erkennen zu lernen, inklusive der eigenen Umgangsweisen mit Emotionen als widersprüchliche Verbindung zu den gesellschaftlichen Bedingungen.

Double Binds und Dilemmata

Pädagogische Autorität ist eine mögliche Umgangsweise, in der Menschen anderen zeigen, wie mit dieser widersprüchlichen und überdeterminierten Ausgangslage umzugehen ist. Darin wird Bildung als offener Möglichkeitsraum begriffen, in dem die Verstrickung mit der Herrschaft als gewordene Tätigkeitsbeziehung so untersucht wird, dass individuelle und gesellschaftliche Perspektiven durch kollektive, solidarische Sorgebeziehungen entstehen, die die Abhängigkeiten voneinander nicht leugnen. Das eigene Inventar der Überzeugungen, des Glauben, der emotionalen Zugehörigkeiten benötigt Umgangsformen und auch Bildungsformate, die unterstützend sein sollen und Konflikte nicht vermeiden, sondern austragen. Und das ist gegen machtvolle Bedingungen schwierig. Dazu brauchen wir einander mehr denn je. Und um noch einmal wegzugehen von den Einzelnen: ermöglichen die Bildungsinstitutionen Räume und Möglichkeiten, neue Koopera tionsformen zu finden, zu üben und sich gemeinsam den Herausforderungen einer verschwindenden Zukunft zu stellen? Wie kommt das Volk in die Volkshochschulen und wie hoch sind die Hürden der Schulen? Wie lange möchte sich ein Bildungssystem leisten, nach marktkonformen Kriterien zu funktionieren, die Zeit, Potentiale und Energie der in ihr Arbeitenden vergeuden und mit den Ressourcen umgehen wie Bolsonaro mit dem Regenwald? Schließlich kommt keine Erziehung ohne Zwang aus. Am Ende ist auch für die im Bildungsbereich Tätigen eine offene Frage, wer die Erziehenden bildet und wo die Grenzen sind, wo Erziehung, Bildung, Lernen und Sorgen vernünftig bezahlt, höher geschätzt und ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens rücken. Es gibt keine Zukunft ohne Sorge um die Zukünftigen.

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