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Leonore Beranek über die notwendige Gegenbewegung
Im ersten Moment wirkt der Versuch von Karl Mahrer (ehemaliger Wr. Polizeikommandant und Obmann der ÖVP Wien), den Brunnenmarkt für seinesgleichen zu erobern, ja fast witzig in seiner Unbeholfenheit. Unterlegt mit martialischer Trommelmusik wird gegen den Verlust eines Wiener Wahrzeichens gewettert, das aus Sicht Mahrers fest in der Hand von falschen Leuten ist. Eingebettet in eine Kampagne über weitere Orte, die zu »Unsicherheitszonen« erklärt werden. Die Aussagen Mahrers sind inzwischen widerlegt. Ein peinliches Video, viel Aufregung und Gegenstimmen. Alles gut, könnte der Eindruck sein. Ist es aber leider nicht.
Die ÖVP hat jede Mitte hinter sich gelassen und ist beim offenen Rassismus angekommen. Mahrer reiht sich mit seinen Ausritten ein. Bei ihm traf es im ersten Aufschlag einen gentrifizierten Ort, demgemäß gab es viel Kritik. Es ist nur einer von vielen Orten in Wien, die aus Sicht von Mahrer »No-Go-Zonen« sind. Es ist aber auch nur ein Beispiel dafür, dass die ÖVP sich für einen Weg der Hetze und Ausgrenzung entschieden hat, der eigentlich von der FPÖ bekannt ist.
Argumentiert wird der Weg mit einer nicht näher erklärten »schweigenden Mitte«, der angeblich Gehör verschafft werden müsse und damit, dieses Feld eben nicht der FPÖ zu überlassen. Ohne die einzelnen Sager und teilweise rechtswidrigen Maßnahmenankündigungen hier zu wiederholen, es geht um die Spaltung der Gesellschaft, um Schuldzuweisungen und Diffamierungen.
Die Umdeutung von Flüchtlingen zu »Migranten«, die Illegalisierung der Asyl suche und die Abschottungspolitik der EU an ihren Außengrenzen, die von der der zeitigen Bundesregierung vorangetrieben wird, ist ein Beispiel dafür, wie schnell sich Sprache und Erzählung verändert, wird sie nur oft genug wiederholt. Die gleiche Vorgehensweise wird nun hier angewandt. Ungeachtet der Fakten werden Szenarien gezeichnet, die im Endeffekt Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen sollen. Die geballten Angriffe zielen auch hier auf die Umdeutung ab, die Menschen vorwirft, etwas in Anspruch zu nehmen, das sie nicht verdient hätten oder an einem Platz zu sein, wo sie nicht hingehören würden. Wenn Nehammer davon spricht, die Fehler der 70er-Jahre bei der Anwerbung von »Gastarbeitern« nicht zu wiederholen, geht es beispielsweise um nichts anderes, als Bevölkerungsgruppen als nicht zugehörig zu diffamieren. Das macht sie angreifbar.
Steuern zahlen, keine Ansprüche stellen
In dem der Bundeskanzler diese Thematik in dieser speziellen Form aufnimmt, sendet Nehammer Signale an den Wirtschaftsflügel der ÖVP, der nach Zuwanderung ruft. Kommen sollen offenbar Arbeitskräfte zu günstigen Löhnen, die, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, wieder verschwinden. Dazwischen Steuern zahlen und möglichst keine Ansprüche stellen. Das verstetigt das Auseinanderdividieren der Beschäftigten, die mit unterschiedlichen Rechten nebeneinander arbeiten. Es wirkt dämpfend auf das Lohnniveau und hält die Profite hoch. Der Druck auf alle Lohnabhängigen wird höher. Hier wird das Wort Integration gar nicht erst in den Mund genommen. Zahlt sich nicht aus und ist auch nicht erwünscht, sie gehen ja wieder. Damit, so die implizite Rechnung der ÖVP, könnte der aktuelle Arbeitskräftemangel vermindert werden, ohne die Position aller Beschäftigten nachhaltig zu verbessern.
Derzeit finden sich teilweise noch Aufruhr und breite Gegenbewegungen, zumindest in Wien. Aber wie lange wird sich diese Aufmerksamkeit halten? Die Schlagzahl der rassistischen Entgleisungen der ÖVP ist hoch, die FPÖ muss in ihrem Kernthema nachlegen.
Viele Gegenstimmen haben eine Schlagseite. Reflexartig wird darauf verwiesen, dass die Menschen am Brunnenmarkt ein Beispiel für gelungene Integration sind, ihre Steuern zahlen und Leistung erbringen. Die Guten also. Zum einen macht das die rassistischen Angriffe umso empörender. Zum anderen schwingt da eine Form der Ausgrenzung und Ablehnung mit, die tief in die Debatte eingedrungen ist und spätestens seit dem viel zitierten Köln-Silvester bei eher links der Mitte Einzu stufenden argumentativ verankert wurde. Die Unterscheidung der »Guten« und »Bösen« führt zu einem Weitertragen von Bildern im Kopf, beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Ein kleiner Rassismus sozusagen.
Ein kurzer Blick in die Mainstream-Medien bestätigt diese Wahrnehmung. Nun ist es ein Standpunkt, der sicherlich nicht falsch ist, sich schützend vor die Angegriffenen zu stellen und die Aussagen vehement zurückzuweisen. Dabei sollten wir aber nicht in die Falle gehen, unsererseits Teile auszugrenzen. Denn die Unterteilung in jene, die es unschuldig trifft, weil sie integriert sind, und in die Anderen ist eben auch eine Spaltung. Es ist auch eine Zuschreibung, und die Bilder, die damit transportiert werden, sind eben auch rassistisch. Sie folgen einer Ausdeutung von Integration, die mehr Assimilation als Anerkennung zum Ziel hat. Denn es wird ein Unterschied gemacht. Eben zwischen jenen, denen aufgrund der Anpassung ein »Hiersein« zugestanden wird und Anderen, die unter Umständen Regeln verletzen oder ihnen dies zugeschrieben wird. Die notwendige Gegenbewegung ist das Einfordern von Gleichheit, die schon viel zu lange in viel zu vielen Bereichen, sei es das Wahlrecht oder der Arbeitsmarktzugang, bestimmten Menschen verwehrt wird.
Legitimation für Ungleichheit
Aber zurück zur ÖVP. Es ist immer weniger wahrscheinlich, dass ihr Kalkül nur das Abgraben von Stimmen der FPÖ ist. Das geht nicht auf, wie die Umfragen deutlich zeigen. Sie nutzt ihren Rassismus als Legi timation von Ungleichheit. Damit legitimiert sie klassisch Ausbeutung und Ausgrenzung. Insbesondere der Bundeskanzler setzt sich – vermutlich ganz bewusst – immer stärker und in einer beleidigenden Wortwahl mit Halbwahrheiten und Erfundenem in Szene. Weitere folgen, die Beispiele sind zahlreich, seien es eben Mahrer, Raab oder die ÖVP in Niederösterreich. Die Koalitionspartnerin trägt das alles mit, vielleicht zähneknirschend und mit Widerworten, aber die berühmte »rote Linie« ist für sie nicht überschritten. Unter Umständen glauben sie wirklich, dass sie das Schlimmste verhindern können. Sie tragen aber dazu bei, dass die rassistischen Ausritte, die diffamierende Sprache und die immer tiefere Spaltung gesellschaftsfähig werden. Sie tragen es mit, weil sie die Koalition mittragen und gleichzeitig widerständiges Potenzial bei sich bündeln. Die Sozialdemokratie ist mit sich selbst beschäftigt. Ob ihre Mitglieder es schaffen, mit der Wahl der*des Vorsitzenden hier das richtige Zeichen zu setzen, darf im Moment bezweifelt werden.
Es bereitet Unbehagen und tut weh zu schreiben, dass wir wissen, wohin das führen kann. Wie SOS Mitmensch es ausdrückt: »Die Dämme in Richtung Rassismus und Spaltung brechen«. Der Gewöhnungseffekt ist dabei seit Jahren eine zentrale Gefahr. Denn die Spirale dreht sich und die empör te Aufmerksamkeit ist kurzweilig.
Der KSV-LiLi geht mit dem besten Ergebnis im Rücken und mit Lola Fürst als Listenerste in die ÖH-Wahl 2023 von 9. bis 11. Mai.
Bei den ÖH-Wahlen 2021 hat der Kommunistische Student_innenverband - Linke Liste sein bisher bestes Ergebnis eingefahren und zwei Mandate in der ÖH-Bundesvertretung und 3 Mandate auf der Universitätsvertretung der Uni Wien erreicht.
Dieses Jahr tritt der KSV-LiLi nicht nur an der Uni Wien und bundesweit an, sondern legt neben Boku, VetMed, Ph Wien und FH Campus auch einen Fokus auf Innsbruck, wo an der Leopold-Franzens Uni und auch erstmals an der Medizinischen Uni kandidiert wird. Listenerste bundesweit und an der LFU Innsbruck ist 2023 die 21-jährige Philosophiestudentin und Buchhändlerin Lola Fürst.
Maximilian Maydl hat sie zum Interview getroffen:
Zu Beginn: Warum ist eine linke ÖH so wichtig?
LOLA FÜRST: Neoliberales Konkurrenzdenken hat an Hochschulen nichts verloren, deshalb braucht es eine ÖH, die die Interessen der Studierenden, nicht die von Wirtschaft und Politik, vertritt. Die ÖH hat durch ihr gesetzlich gesichertes allgemeinpolitisches Mandat auch einen gesellschaftlichen Einfluss; sie trägt die Verantwortung für eine emanzipatorische, feministische und antirassistische Politik einzustehen.
Durch die aktuellen Preiserhöhungen sind so viele Studierende wie nie zuvor in finanzielle Not geraten. Wie wollt ihr Studierenden dahingehend helfen?
LOLA FÜRST: Wir kämpfen für die Abschaffung jeglicher Studiengebühren und eine Grundsicherung für alle Studierenden, damit jede*r es sich leisten kann, eine Hochschule zu besuchen.
Wir fordern auch Mensenessen um höchstens zwei Euro und eine kostenlose automatische Krankenversicherung für alle Studierenden; dennoch ist uns klar, dass ohne die Abschaffung des Kapitalismus nie echte Gerechtigkeit herrschen kann – auch nicht an den Unis.
Ihr fordert feministische Hochschulen gegen das Patriarchat. Wie wollt ihr die Hochschulen feministischer machen?
LOLA FÜRST: Um den patriarchalen Strukturen an den Unis entgegenzuwirken, wollen wir ein Büro für die Meldung sexistischer Vorfälle und sexualisierter Gewalt. Wir setzen uns dafür ein, dass Menstruation als Fehlgrund anerkannt wird, Hochschulangestellte Weiterbildungen zu Geschlechtersensibilität bekommen und das Betreuungsangebot ausgeweitet wird. Außerdem fordern wir einen Abtreibungstopf, um ungewollt Schwangere finanziell zu unterstützen.
Eine andere Forderung von euch lautet »Rechte Albträume wahr machen«. Was kann man sich konkret darunter vorstellen?
LOLA FÜRST: Das bedeutet, dass wir rechtsextreme Kontinuitäten in der Gesellschaft und an den Hochschulen erkennen und bekämpfen wollen. Wir unterstützen aktiv antifaschistische Strukturen und wollen die ÖH selbst antifaschistisch gestalten. Auch ein Couleurverbot und kritische Forschung zu Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus sind notwendig, um sich als ÖH dem allgegenwärtigen Rechtsruck entgegenzustellen.
Wir haben letztes Jahr an vielen Hochschulen Hörsaalbesetzungen der Erde brennt-Bewegung gesehen. Was fordert ihr in Bezug auf den Klimawandel?
LOLA FÜRST: Wir haben die Besetzungen in Wien und Innsbruck unterstützt, denn es ist wichtig, dass sich Studierende gegen klimaschädliche Politik einsetzen. Die Hochschulen sollten ihre gesellschaftliche Rolle als Meinungsmacherinnen wahrnehmen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Denn die Verantwortung für die Klimakatastrophe liegt nicht bei Einzelpersonen, sondern beim Wirtschaftssystem.
Auch hier wissen wir, dass es im Kapitalismus keine Lösung geben wird. Antikapitalismus ist Klimaschutz!
Zu guter Letzt: Was sind eure Ziele für die ÖH-Wahl 2023?
LOLA FÜRST: 2021 haben wir unsere absolute Stimmenzahl steigern können. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass nach der Pandemie die Wahlbeteiligung wieder höher ausfallen wird. Deshalb setzen wir uns als Ziel vor allem die weitere Steigerung unserer absoluten Stimmen.
Natürlich wollen wir unsere Mandate auf der Bundesebene und an der Uni Wien halten – und an der Uni Innsbruck ist es unser Hauptziel mit einem Einzug in die Universitätsvertretung die konservative Mehrheit von ÖVP-AG und Junos zu brechen.
von Bärbel Dannerberg
Der Untertitel »Wie feministische Kämpfe Arbeit, Ökologie und Politik verändern« ist vielversprechend. Das zum 40-jährigen Bestehen der Frauen*solidarität erschienene Buch berichtet von dem Mut und der Fantasie von Frauen ebenso wie von den politischen Hindernissen und Hürden im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. In acht Kapiteln, unterteilt in die Themen (Anti-)Rassismus und Postkolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit, Umwelt und Klima, kommen feministische Gegenstimmen aus fast allen Gegenden der Welt zu Wort. Die Herausgeberinnen Andrea Ernst, Ulrike Lunacek, Gerda Neyer, Rosa Zechner und Andrea Zelinka stellen den vielstimmigen Berichten in jedem Kapitel eine kurze Einleitung zum Thema voran und ermöglichen dadurch eine gesellschaftspolitische und geographische Orientierung feministischer Weltaneignung. Besonders schön finde ich die Hommage an Sigrun Berger (1934 – 2021), die Mitbegründerin der Frauen*solidarität, der auch dieses Buch gewidmet ist. Gundi Dick und Rosa Zechner würdigen die langjährige Obfrau und Ehrenvorsitzende der Frauen*solidarität mit einem Abriss aus ihrem bewegten Leben, das sie u. a. in Bolivien und Chile verbrachte.
In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeberinnen, dass (fast) alles erlaubt war an Textarten, von Lyrik, Reportagen über Wissenschaft bis zur Streitschrift, vom Interview bis zum Essay – bis auf eine Einschränkung: »Nur die Schreibweisen wurden festgelegt. So steht LGBTIQ+ für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter, queer und das ›+‹ für weitere sexuelle und geschlechtliche Identitäten.« Hilfreich für das Verständnis beim Lesen sind die Schreib- und Begriffserklärungen im Vorwort. Das in Kursiv gesetzten weiß steht für Privilegien einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, das großgeschriebene Schwarz soll identitätsstiftend sein und rassistische Unterdrückung bewusst machen, und die Kürzel PoC, BIPoC stehen für Black, Indigenous, People of Color. Wir erfahren auch, weshalb das Sternchen der Frauen*solidarität zugefügt wurde, warum der Ausdruck »Dritte Welt« aus dem Untertitel der Zeitschrift verschwand, der Begriff »Entwicklungshilfe« in Entwicklungszusammenarbeit umbenannt und so einem feministischen Anspruch gerecht wurde. Im Vorwort erfahren wir auch viel vom Entstehen dieser Frauenorganisation und ihrem Entwicklungsweg bis heute, ein Bildteil vermittelt das anschaulich.
Am eindrucksvollsten sind die einzelnen Texte selbst. Sie versammeln einen breiten Einblick in das Leben und die Kämpfe von Frauen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa. Viele der von der Frauen*solidarität initiierten Projekte, wie die Clean- Clothes-Kampagne oder das erste österreichische EZA-Frauenprojekt über die Blumenproduktion in Kolumbien, haben die Produktions- und Arbeitsbedingungen in den Ländern für Frauen verbessert. Vieles ist noch zu erkämpfen und im neo-liberalen Schatten zu verteidigen.
Andrea Ernst, Ulrike Lunacek, Gerda Neyer, Rosa Zechner, Andrea Zelinka (Hrg.): GLOBAL FEMALE FUTURE Wie feministische Kämpfe Arbeit, Ökologie und Politik verändern. Kremayr & Scheriau 2022.
Gedanken zur neuen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien von Eva Brenner
Im Jüdischen Museum Wien ist derzeit die kontroversielle und überaus gelungene Ausstellung »100 Missverständnisse über und unter Juden« zu sehen, die seit ihrer Eröffnung am 30. November 2022 hitzige Debatten – vor allem unter Jüdinnen und Juden – hervorgerufen hat. Auf den ersten Blick wirkt der Kulturstreit wie ein künstlich herbeigeredeter Skandal. Die Kritiker:innen der Schau, vornehmlich aus dem konservativen Lager kommend, sprechen von mangelhafter Recherche, einem Affront gegen Jüdinnen und Juden und einer »unangemessenen« Annäherung an Erinnerungskultur. Die Vorwürfe reichen von pietätlos bis zu antisemitisch, womit der mutige Neuaufbruch der kürzlich angetretenen Direktorin in unnötige Schieflage gebracht wird.
»Ein großer Teil des jüdischen Publikums empfindet die Ausstellung in ihrer jetzigen Form als untragbar«, wetterte etwa Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, der bekannte Publizist Paul Lendvai empfahl die Schließung. Ben Segenreich, langjähriger Israel-Korrespondent, hatte, wie er in einem Presse-Gastkommentar ausführte, durch den Besuch der Ausstellung »ständig Stöße vor den Kopf« erhalten. Über Wochen hinweg steigerte sich die Diskussion und nahm zuletzt die Züge einer skurrilen Hexenjagd an. Im Fokus scheint zu stehen, dass es die nicht-jüdische Neo-Direktorin, die sich zuvor u. a. als Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben einen Namen gemacht hatte, es wagt, heiße Eisen anzugreifen, wozu man ihr gratulieren muss.
Staudingers gemeinsam mit (dem ebenfalls nicht-jüdischen) Kurator Hannes Sulzenbacher gestaltete Schau unterzieht das Selbstverständnis heimischer Jüdinnen und Juden einem Härtetest. Den Gegner:innen der sehenswerten Schau steht ein oft verkürzendes Pro und Contra in den Medien sowie ein prominenter Offener Brief jüdischer Shoah-Überlebender gegenüber, die zu Sachlichkeit, Toleranz und Respekt aufzurufen: »Kritik ist immer wichtig (…) aber nichts rechtfertigt Rufmord und Hetze.«
Ein Museum im Aufbruch
»100 Missverständnisse« ist die erste große Ausstellung der neuen, seit Sommer 2022 amtierenden JMW-Direktorin Barbara Staudinger, in der sie jüdische Stereotype kritisch bis ironisch ins Zentrum rückt, gängige Klischees parodiert, die über und von Jüdinnen und Juden im Alltag grassieren, und neue Wege der Erinnerung aufzeigt. Antisemitische ebenso wie philosemitische Stereotype werden provokant aufgegriffen, um sie zu entkräften – sowohl ernsthaft wie auch humorvoll. Das reicht vom angeblich körperlich-schwachen Juden über das jüdische Genie bis zur perfiden Ritualmordlegende, nach der Juden das Blut christlicher Kindern für magische Zwecke missbrauchen. In einem Ausstellungsstück posiert ein Skinhead ketzerisch mit der Aufschrift »Judenfreund« am Lederjackett, wobei der Reichsadler – mit Davidstern statt Hakenkreuz – sich das Peace-Zeichen gekrallt hat.
Debatte und Kritik
Diskursiver und politischer soll das Jüdische Museum, das 1993 bzw. 2000 in der Wiener Innenstadt an zwei Standorten eröffnet wurde, fortan werden. Die ermutigende Neupositionierung sieht kritische, zeitgemäßen Ansprüchen Genüge leistende Ausstellungen für ein neues, vor allem jüngeres Publikum vor, ausgediente Praktiken und Vorstellungen des Ausstellungsmachens sollen aufgebrochen, die Rolle des Museums neu belebt werden. Ein jüdisches Museum sei »keine Heilanstalt gegen Antisemitismus«, meint selbstbewusst die neue Direktorin, die sich unängstlich gegen die Anwürfe abgrenzt. In der Tat hat sie gängige Vorurteile, Romantizismen und Aneignungen jüdischer Kultur und Lebensart ins Visier genommen. Zusätzlich bildet eine Unzahl von Thesenanschlägen das vergiftete Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft ab, die da u. a. sind: »Alle Juden sind kluge Denker bzw. Nobelpreisträger.« – »Eine schöne Frau ist gefährlich, besonders wenn sie eine Jüdin ist.« – »Jüdinnen und Juden sind überempfindlich.« Die Liste ließe sich fortsetzen.
Steine des Anstoßes
Das Bild von Jüdinnen und Juden ist in unseren Breiten in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft von Missverständnissen geprägt. Ob die Überhöhung des »jüdischen Familiensinns«, des »jüdischen Lernens«, einer klischeehaften Vorstellung »jüdischen Lebens« oder die Traurigkeit, die allem, was »jüdisch« ist, anhaftet: All dies basiert auf Missverständnissen, die sich in weiterer Folge in Vorurteilen und stereotypen Bildern ausdrücken. Die aktuelle Ausstellung spürt diesen Missverständnissen nach, sucht nach den Hintergründen, hinterfragt sie oder begegnet ihnen mit einem augenzwinkernden Lachen. Missverständnisse stammen nicht von der Mehrheitsgesellschaft allein, sondern basieren auch auf missverständlichen Vorstellungen unter Jüdinnen und Juden. Manche Missverständnisse sind alt, manche haben sich erst nach der Shoah herausgebildet.
Beispiele der 100 ausschließlich von jüdischen Künstler:innen geschaffenen Werke sind ein verkitschter Chanukka-Leuchter aus Chanel-Lippenstiften, der Bettvorleger »Hitler Rug« von Boaz Arad mit Hitlerkopf (2007) oder das Video der australischen Künstlerin Jane Korman »Dancing Auschwitz« (2010), in dem die Künstlerin, ihr Vater und Auschwitz-Überlebender sowie dessen Enkelkinder in Auschwitz auf Erde mit der Asche der Ermordeten, also der einzig für sie vorhandenen Gräber, tanzen während auf dem T-Shirt des lächelnden Auschwitz-Überlebenden Adolek Kohn, etwa in Brusthöhe, das Wort »Survivor« geschrieben steht.
Es sei nachvollziehbar, dass in Wien, so Staudinger, »das als ›Täter-Hauptstadt‹ bis heute kein Shoah-Museum hat«, das Auschwitz-Video empöre. An einer zentralen Stelle platziert Staudinger eine überstrahlende Lichtinstallation, ein Neonschriftzug in blau auf gelbem Grund von Sophie Lillie und Arye Wachsmuth: »Endsieger sind dennoch wir« (2001), eine Wortentwendung im Gedenken an den Auschwitz-Überlebenden Heinrich Sussmann (1904–1986).
Kontroverse belebt
Bei meinem Besuch vor einigen Wochen waren die Räume proppenvoll, wie ich das in diesem Museum zuvor nie erlebt hatte. Neben der üblichen Klientel eines gehobenen, kunstaffinen Bürger:innentums tummelten sich etliche Schulklassen, mehrere Führungen fanden gleichzeitig auf den verschiedenen Ebenen statt, nicht nur, aber auch in der Sonderausstellung, die Atmosphäre glich dem Rummel eines Volksfestes. Schon dafür ist der neuen Direktion Beifall auszusprechen, denn hier wird endlich aufgemischt, das jüdische Museum wirkt lebendig wie kaum zuvor, eben nicht primär museal, was für dieses Museum im sprichwörtlichen Sinn zu gelten hatte.
Im Foyer kreuzten sich die Menschenmassen, im Shop stand man Schlange um den Katalog zu ergattern, in der Sonderausstellung herrschte jedoch eine ungewöhnliche Stille – für mich ein Ausdruck besonderer Betroffenheit. Offensichtlich waren die Besucher:innen überrascht, beeindruckt oder schockiert über die schonungslose Darstellung des Juden, der Jüdin und des Jüdischen im Allgemeinen, wie es sich in unserem Alltag zeigt. Zumal die meisten Ausstellungsstücke, in weiten Teilen rezenter Provenienz und kaum historisierend, dem Alltag entlehnt wurden. Das ergibt den in diesen Hallen unüblichen aktuellen Blick auf das spannungsgeladene Thema.
Kritik und Dialog
In der Vergangenheit hat das Jüdische Museum sich wiederholt mit antisemitischen Missverständnissen über Judinnen und Juden auseinandergesetzt, nun zeigt es philosemitische Varianten. Die zahlreiche Negativbefunde der »100 Missverständnisse«, die in den Feuilletons kursierten, werden konterkariert von der anwachsenden Besucher:innenzahl, wobei Schülerinnen und Schüler stets geführt werden, um die Auseinandersetzung mit der tabubrechenden Schau zu steuern. Siehe da: Der Einsatz lohnt sich.
»Weiter so!« – das möchte man der neuen Direktorin zurufen. Von Hauptinteresse der Kritiker:innen ist die Tatsache, dass die neue Direktorin selbst nicht jüdisch ist. Angesichts dieser teils haltlosen, teils bösartigen Angriffe erweist sich ihre Entschlossenheit, den eingeschlagenen Kurs fortsetzen zu wollen, als richtige Antwort und befruchtend für den zukünftigen Dialog im Jüdischen Museum. Dass sie mit ihrer Antrittsvorstellung negative Reaktionen auslösen würde, muss sie gewusst haben. Das Risiko eingegangen zu sein, ist in der heimischen Kunstszene eine Seltenheit und umso mehr zu begrüßen. Der Erfolg der Ausstellung gibt Barbara Staudinger Recht, er ist im österreichischen Kontext zumindest ungewöhnlich.
Die Ausstellung im Museum Dorotheergasse ist noch bis 4. Juni 2023 zu sehen.
www.jmw.at
Von Mo Sedlak
Fast alle hassen die Lohnarbeit. Fast alle probieren, eine zu haben. Das ist keine Dialektik und auch nicht widersprüchlicher, als einen Text für die Volksstimme auf dem Laptop zu tippen, den unterbezahlte Arbei-ter*innenhände im Globalen Süden zusammengeschraubt haben.
Vor allem für Marxist*innen ist Lohnarbeit, der erzwungene Verkauf der eigenen Arbeitskraft, ein Grundübel. Das gilt im Allgemeinen – die Trennung von denen die arbeiten und dem Produkt ihrer Arbeit macht bekanntlich den Kapitalismus ziemlich grundlegend aus – und auch im Konkreten, am Arbeitsplatz oder in der digitalen Warteschlange vorm eAMS.
Die Lohnarbeit ist eine politisch-ökonomische Struktur, das Wesen der Produktionsweise Kapitalismus, das grundlegende Produktionsverhältnis. Die marxistische Kritik der Lohnarbeit ist mehr als Unmut darüber, dass die Lohnarbeit das System am Laufen hält. Auch der individuelle Bann, in den der Lohn die einzelne Arbeiterin zieht, war schon früh Gegenstand der Kritik. Das beginnt mit Marx’ Kritik an der Entfremdung von der Arbeit und am Warenfetisch als grundlegendes Moment der Arbeitsteilung und geht bis zu den materiellen und psychischen Folgeerscheinungen für Engels’ »arbeitende Klasse in England«.
Alternativen müssen her, mindestens für die Zeit nach der revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Aber auch im Hier und Jetzt wäre es schön, sinnvoll, fast not wendig, sich vorstellen zu können, wie Arbeit ohne Arbeitszwang ausschaut. Damit der Kommunismus nicht Utopie, sondern wissenschaftlich zumindest denkmöglich ist.
Der sowjetische Ökonom Isaak Iljitsch Rubin schreibt, dass Marx’ Ökonomie vor allem die Frage nach der Arbeitsteilung im Kapitalismus ins Zentrum gestellt hat. Seine Kritik der Lohnarbeit soll vor allem Arbeitsmarkt und Konsumfreiheit entzaubern. Im gleichen Sinne braucht eine sozialistische Ökonomie ein alternatives Konzept zur Arbeitsteilung und -organisation.
Die politische Arbeit erscheint als mögliches Alternativkonzept. Gerade für Aktivist*innen ist sie ein naheliegender Ausgangspunkt. Wir verbringen im Schnitt viel Zeit damit, die meisten, ohne entlohnt zu werden. In der Geschichte sind Revolutionär*innen an die politische Arbeit oft disziplinierter herangegangen als an ihren Broterwerb.
Die Arbeit für linke Klein- und Kleinstparteien ist natürlich kein ausschöpfendes Alternativkonzept für die freie und gleiche Organisation der globalen Wirtschaft. Aber in den Mechanismen von kollektiver Entscheidung und Anerkennung, gemeinsamer Einsicht in das Notwendige und, wenn alles sehr gut läuft, Schimmer von Selbstwirksamkeit im Produkt der eigenen Arbeit, können wir durchaus Ansatzpunkte für Arbeitsprozesse nach der Lohnarbeit finden.
Unbezahlte Arbeit
Die österreichische soziale Marktwirtschaft kennt viel unbezahlte Arbeit. Ohne Lohn ist das erstmal keine Lohnarbeit. Viel Arbeit, bei der keine Euros die Besitzerin wechseln ist trotzdem fest ins System der Lohnarbeit eingebettet. Die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit, die vor allem FLINTA* Personen in Beziehungen und Familien übernehmen, stützt nicht nur die Lohnarbeit anderer Familienmitglieder. Die eigene finanzielle Abhängigkeit ist auch eine gegenüber jemandem, der selbst lohnarbeitet. Meistens jedenfalls.
Der Großteil der unbezahlten Arbeit ist auch in nicht-finanzielle, aber reaktionäre Strukturen eingebunden, die materielle Abhängigkeit im Familienverbund, oder hierarchische Kommandostrukturen bei freiwilliger Feuerwehr und Rettungsdiensten.
Ansatzpunkte für echt alternative Arbeitsorganisation finden wir aber an den Rändern von Ehrenamt und Sorgearbeit, bei selbstorganisierter Nachbar*innenhilfe, lokalen Initiativen und, teilweise, in der politischen Arbeit.
Lohnarbeit
Lohnarbeit hat einen einfachen, messbaren, universell vergleichbaren Motivator, den Lohn. Der ist notwendig, damit wir weiterleben können, und entschädigt für die Zumutung zu arbeiten aber über das Produkt unserer Arbeit keine Kontrolle zu haben. Die bürgerliche Ökonomie hat sich dafür den Begriff des Arbeitsleids ausgedacht, mit dem viele von uns intuitiv etwas anfangen können. Dieses Arbeitsleid wird mit Geld entschädigt.
Auch bei Adam Smith findet sich dieser Gedanke. Als er Lohnungleichheiten erklären möchte, meint er, die unpopulärsten, anstrengendsten oder moralisch abstoßenden Berufe würden als Ausgleich mehr Geld bekommen. In der Welt der Daten und Fakten gibt es dafür übrigens keinen Hinweis, tatsächlich sind die am besten bezahlten Jobs auch am angenehmsten, am wenigsten anstrengend und mit den meisten betrieblichen Angeboten zur Stressbewältigung und Hinterfragen des eigenen Tuns.
Die einfache Messbarkeit und konkrete Nützlichkeit des Lohns ist ein Hundling. Die scheinbare Freiheit der Lohnarbeit (verglichen mit Sklaverei und Leibeigenschaft) ist das Ergebnis von Klassenkämpfen, aber auch eine Brutalität gegen den Freiheitsdrang der Arbeiter*in:
»Es kostet Jahrhunderte, bis der ›freie‹ Arbeiter infolge entwickelter kapitalistischer Produktionsweise sich freiwillig dazu versteht, d. h. gesellschaftlich gezwungen ist, für den Preis seiner gewohnheitsmäßigen Lebensmittel seine ganze aktive Lebenszeit, ja seine Arbeitsfähigkeit selbst, seine Erstgeburt für ein Gericht Linsen zu verkaufen.«
So zitiert Christian Frings in der PROKLA 196 aus dem ersten Band Kapital.
Gesellschaftlich ist Lohnarbeit Voraussetzung für Kapitalakkumulation und Kapitalherrschaft. Sie ist – »negativ definiert« – Lohnarbeiter*in ist, wer kein Kapital besitzt und sich deshalb ihr*sein Einkommen anders beschaffen muss. Das Kapital ist also gleichzeitig Voraussetzung für die Lohnarbeit, und die Abschaffung des (privat besessenen) Kapitals Voraussetzung für die Abschaffung der Lohnarbeit.
Isaak Iljitsch Rubin (der 1937 als angeblicher Trotzkist verhaftet und ermordet wurde) geht soweit, zu argumentieren, dass die Trennung des Arbeitsprodukts von dem*der Arbeiter*in zur Entfremdung von der Arbeit selbst führt. Das macht erst den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft möglich. Nur wenn Arbeiter*innen bereit sind, ihre Arbeitskraft dem meistbietenden Kapital anzubieten, weil der Inhalt des Arbeitstages mehr oder weniger wurscht ist, wird die Arbeitsteilung möglich, die für eine schnelle Kapitalakkumulation notwendig ist.
Politische Arbeit
Lohnarbeit ist ein ehrliches Geschäft. Wir erscheinen in der Früh und gehen erst, wenn wir dürfen, weil am Ende vom Monat Geld am Konto landet. Geld, dass wir für Waren und Dienstleistungen eintauschen können, Waren und Dienstleistungen, die wir anders nicht bekommen. Die Summe am Lohnzettel wird zur Maßzahl des eigenen Werts, motiviert hinzugehen, wenn es uns nicht freut, ein scheinbarer Beweis für das Funktionieren des warenförmigen Arbeitsmarktes.
Die politische Arbeit in der nicht-staatstragenden Linken ist anders motiviert, die meisten Aktivist*innen werden für ihre Arbeit nicht bezahlt. An der Oberfläche geht es um politische Ziele, wenn wir Infotische aufbauen und Artikel schreiben. Aber darunter, in der politischen Organisation, findet ebenfalls Arbeitsteilung statt, werden Aufgaben erfüllt, die keinen Spaß machen.
Entfremdung findet idealerweise in der politischen Arbeit keine statt. Die politische Aktivistin bestimmt, was sie produziert (auch wenn darüber kollektiv bestimmt wird), kann die Ergebnisse sehen, reflektieren, verwenden. Die oberflächliche Psychologie der Selbstwirksamkeit kann trotzdem nicht als alternativer Motivator für die Arbeit herhalten. Die meisten politischen Aktivitäten bringen weder schnellen noch nachhaltigen Erfolg. Dennoch bleiben Genoss*innen über Jahre und Jahrzehnte diszipliniert dabei.
Dazu kommt der scheinbare Widerspruch, dass erfolgreiche politische Organisierung oft auf entlohnte Arbeit zurückgreift. Ein kleiner Parteiapparat hat eine Tradition bei linken Parteien bis runter zur Kleingruppe.
Darüber hinaus orientieren sich viele Organisationen an der Idee des*der Berufsrevolutionär*in, die leninistischen offen und die nicht-leninistischen ein bisschen verhohlener. Damit ist kein bezahlter Aktivismus gemeint, sondern Aktivität, die über Freizeit und unmittelbares Selber-Wollen hinausgeht. Die Genoss*innen von der deutschen Gruppe Arbeiter*innenmacht drücken das in ihren »Thesen zu den frühen Stadien des Parteiaufbaus« so aus: »Lenin besteht darauf, dass die Partei zur Hauptsache aus Personen bestehen soll, die in revolutionären Aktivitäten berufsmäßig engagiert sind. Dies bedeutet nicht nur Vollzeit-Funktionäre im engen Sinn, Studenten und Beschäf-tigungslose, also jene, die ihre meiste Zeit der politischen Arbeit widmen können. Lenin macht klar, dass auch Vollzeit-Arbeiter mit eingeschlossen sind. Aber es schließt diejenigen aus, die nur ihre ›Freizeit‹ für Politik verwenden wollen. Sobald es die personellen und materiellen Möglichkeiten gestatten, sollte selbst die kleinste revolutionäre Gruppe einen kleinen Apparat mit haupt amtlichen Revolutionären einrichten.«
Das ist wieder keine Dialektik. Man kann Volksstimme-Texte auf einem kapitalistisch produzierten Laptop tippen, und man kann gleichzeitig ohne Aussicht auf Entlohnung Berufsrevolutionär*in zur Abschaffung der Lohnarbeit sein, aber als Partei Menschen anstellen.
Lohnarbeit ohne Kapital
Die politische Arbeit, die im Kollektiv entscheidet, wer was tut, und wo Anerkennung aus der gemeinsamen Debatte kommt, ist ein Ansatzpunkt der Arbeitsorganisation nach dem Kapitalismus. Wenn nicht Chefs und Manager*innen sondern Kolleg*innen bestimmen, gibt es keine ökonomische Grundlage für die Entfremdung.
Die Erfahrungen aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks lehren uns aber, dass auch ohne privates Kapital die Arbeitsorganisation des Kapitalismus simuliert werden kann. Lohnabhängigkeit und Quasi-Kommandostrukturen im Betrieb können auch von einer bürokratischen Kaste durchgesetzt werden.
Die Demokratisierung der Wirtschaft, also die konkrete Arbeiter*innenmacht, und die bewusste politische Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse ist ebenso notwendig wie die Entmachtung der Kapitalist*innen, damit die Abschaffung der Lohnarbeit auch bei den Lohnarbeiter*innen ankommt. Dazu gehört neben der Demokratisierung von Betrieb und Konsum auch die Aufhebung der Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit.
Die Rolle der politischen Arbeit heute ist in erster Linie, das vorzubereiten und zu erkämpfen. Aber aus der Rolle von kollektiver Debatte, zwangloser Disziplin und inhaltlicher Überzeugung für konkrete Tätigkeiten können wir einiges über die Arbeitsorganisation nach der Abschaffung der Lohnarbeit mitnehmen.
Mo Sedlak ist Aktivist im Koordinationsteam von LINKS und beim trotzkistischen Arbeiter*innenstandpunkt. In der Volksstimme 7–8 (2022) veröffentlichte der Autor: Inflation ist menschengemacht, Klassenkampf hilft.
LGBTIQ+ Personen gehen oft Teilzeitarbeit nach. Die Gründe dafür sind vielfältig und selten nur selbstbestimmt. Von Zoe* Steinsberger
Mitte Feber musste Arbeitsminister Kocher hastig zurückrudern. Natürlich würden seine Vorschläge, die Sozial- und Familienleistungen für Personen in Teilzeitarbeit zu reduzieren, nicht auf Mütter mit Betreuungspflichten zielen, bemühte er sich zu betonen. Denn umgehend wurden Kochers Vorschläge als frauen- bzw. familienfeindlich kritisiert. Die Maßnahmen des Ministers würden dazu führen, dass sich die soziale Lage von Frauen weiter verschlechtert.
Doch bei all dem lauten und wichtigen Widerspruch ist auffällig, wie fast alle sozialpolitischen Akteur*innen in ihrer Kritik einer Perspektive folgen, die inter- und transgeschlechtliche Lebensrealitäten ebenso ignoriert, wie nicht hetero sexuell oder kleinfamiliär lebende Menschen. Eine solche Perspektive ist hetero-cis (also nicht trans*) und endo (also nicht inter*)-normativ. Denn während die Figur der implizit heterosexuell und cis-endogeschlechtlich gedachten Mutter im Zentrum der Kritik an den Bestrebungen Kochers stand, wurden LGBTIQ+ Personen übersehen.
Dabei weisen zahlreiche Erhebungen aus dem österreichischen und deutschen Raum darauf hin, dass LGBTIQ+ Personen deutlich seltener als hetero-cis-endo Personen vollzeiterwerbstätig sind. Eine Studie der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass nur 60 Prozent der LGBTIQ+ Personen Vollzeitarbeit nachgehen. Eine Studie für den Deutschen Bundestag 2010 ermittelte, dass trans* Frauen und transfeminine Personen im EU Schnitt nur zu rund dreißig Prozent und damit deutlich weniger als cis Frauen Vollzeit lohnarbeiten.
Frei von Lohnarbeit
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen werden LGBTIQ+ Personen noch immer in der Lohnarbeit diskriminiert. In Branchen, in denen es wenige Vollzeitstellen gibt, erhalten sie diese nur selten. Zugleich finden sich LGBTIQ+ Personen überproportional häufig in Feldern, in denen Vollzeitstellen selten sind oder (schein-)selbstständige Arbeit die Regel ist, wie etwa Unterhaltung, Gastronomie, der Sozialbereich, Wissenschaft oder Kreativberufe. LGBTIQ+ Personen finden sich hier häufig, weil diese Branchen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität als eher offen und tolerant gelten.
Anders am Arbeitsplatz
Viele LGBTIQ+ Personen entscheiden sich angesichts von Diskriminierung in der Lohnarbeit auch selbst dafür, nicht Vollzeit lohnzuarbeiten. Außerdem geht für sie das Versprechen sozialer Teilhabe über Lohnarbeit häufig nicht auf. Die Entscheidung, in Teilzeit lohnzuarbeiten, ist dann sowohl der Versuch, sich einem diskriminierenden Umfeld zu entziehen und andererseits Zeit im Leben für Beziehungen zu schaffen, in denen sie Anerkennung erfahren. Denn während heteronormativ lebende Personen sich sicher sein können, in der Lohnarbeit von PartnerInnen und Kindern erzählen zu können und dafür anerkannt zu werden, ist dies für LGBTIQ+ Personen nicht der Fall. Privates mit Kolleg*innen zu teilen ist für sie stets mit der Gefahr von Diskriminierung oder zumindest Unverständnis für die eigene Lebenswelt verbunden.
Frei zur Pflege
Schließlich haben LGBTIQ+ Personen nicht nur wie cis-endo heterosexuelle Frauen ebenso elterliche Verpflichtungen oder kümmern sich um ältere Verwandte. Die fortdauernde gesellschaftliche Diskriminierung für LGBTIQ+ macht darüber hinaus ein Mehr an Selbstsorge und an fürsorglichen Beziehungen zwischen LGBTIQ+ Personen nötig. Diese können in Form von Partner*innenschaften organisiert sein, aber auch als WGs, intensive Freund*innenschaften und selbstorganisierten Gruppen. Gerade weil sie dabei den Entwurf eines kleinfamiliären Haushalts überschreiten und oft ohne gesellschaftlich etablierte Vorbilder entwickelt werden, benötigen sie Zeit, die eine Vollzeitbeschäftigung kaum erlaubt.
So bleibt Kochers Rede in neoliberaler Manier ignorant für die gesellschaftlichen, geschlechtlichen und sexuellen Herrschaftsverhältnisse, welche verunmöglichen, Vollzeitlohnarbeit nachzugehen. Es sind nicht nur die als hetero, cis und endo gedachten Mütter, die massiv von Kochers Ansinnen betroffen wären. Ebenso greifen Kochers Pläne auch LGBTIQ+ Personen an, weil deren Leben zwischen offener Feindlichkeit und subtiler aber doch struktureller Cis-Endo-Heteronormativät nicht in das Modell Voll-zeitlohnarbeit passen.
Zoe* Steinsberger (sie*/ihre*) ist transfeministische Aktivistin* und Wissenschaftlerin* und promoviert an der Universität Innsbruck zur Prekarisierung transfemininen Lebens und Formen des Widerstands und Umgangs damit.
Mehr als 300 Lobbyist*innen, zahlreiche Teilnehmer*innen aus 35 Ländern und diverse Hinterzimmergespräche bilden den Rahmen der European Gas Conference. Seit 16 Jahren läuft das so, jährlich in Wien und organisiert von der OMV. Dieses Jahr gibt es etwas Besonderes zu feiern: Fette Profite. Von Paul Stern
The Party – Background
Die Profite der Gaskonzerne sind explodiert. Der Ukraine-Krieg und die Definition der EU, dass Erdgas eine umweltverträgliche Energiequelle ist, fördern diese Entwicklung. Beides ist katastrophal: Der Krieg wird benutzt, geopolitisch die Gasversorgung innerhalb der EU neu zu ordnen. Die bisherigen Lieferverträge, nach dem Österreich noch im Dezember 2022 etwa 70 Prozent seines Erdgasbedarfes aus Russland bezogen hat, sollen langfristig verändert werden. Nicht im Sinne einer größeren Diversität, sondern einer neuen Blockbildung. In Zukunft sollen die USA sowie Exportländer der arabischen Halbinsel und Nordafrika eine zentrale Rolle spielen. Für den Finanzmarkt hingegen ist die Herkunft von Erdgas egal, aber die Einstufung von Erdgas als »klimafreundlich« von größerer Bedeutung. Dadurch ergeben sich langfristig profitable Anlagemöglichkeiten, weil auf Erdgas basierende Finanzprodukte dann als »grün«, also nachhaltig klassifiziert werden, im Gegensatz zu Kohle, aber genauso wie auch die »grün« eingestufte Atomkraft.
In der EU-Taxonomie werden beide Energiequellen als Übergangstechnologien bezeichnet. Es versteht sich, dass dieser Übergangszeitraum zeitlich großzügig definiert wurde. Investitionen in neue Gaskraftwerke werden bis 2030 als nachhaltig gelten. Optionen auf Verlängerung sind je nach politischer Großwetterlage natürlich jederzeit möglich.
Für die Bemühungen um einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energien ist die EU-Taxonomie ein herber Rückschlag und für die Umwelt eine Katastrophe. Statt massiv in erneuerbare Energien wie Wasser, Wind und Sonne zu investieren, werden die Energieversorger weiter die lukrativeren fossilen Energiequellen ausbeuten.
Fuck Fracking
Hierbei werden die besonders umweltschädlichen Frackingmethoden eine immer größere Rolle einnehmen. Beim Fracking werden Wasser, Sand und eine Mischung aus Chemikalien – darunter Benzol, Toluol, Methanol und Ethylenglykol – unter hohem Druck in gasführendes Gestein gepresst, um dadurch Erdgas freizusetzen und an die Oberfläche zu transportieren. Die erheblichen Risiken des Frackings für die Umwelt und die menschliche Gesundheit werden dabei keine Rolle spielen. Selbst die sonst eher unbesorgte US-amerikanische Umweltbehörde EPA schließt Gefährdungen des Grundwassers durch Fracking nicht aus. Die USA sind durch Fracking eine der größten Erdgasexporteurinnen der Welt geworden (150 Mrd. m3 in 2020) und die US-Erdgasindustrie wird durch die gesteigerte Nachfrage aus Europa erheblich profitieren.
Die Erfahrungen mit der Nutzung der Atomenergie in den letzten Jahrzehnten zeigen aber, dass definierte Risiken nie ein Investitionshindernis waren. Es ist zu befürchten, dass das Frackingverbot in einigen Staaten der EU, z. B. in Deutschland, zugunsten der Investitionsinteressen der Finanzindustrie geschleift werden wird. In Österreich, wo Fracking erlaubt ist, sprach sich der ÖVP-Teil der Regierung letzten September dafür aus, Fracking- Versuche der OMV im Weinviertel wieder aufzunehmen.
Dirty Pipelines
Auch der neokoloniale Gashandel zwischen Afrika und der EU soll massiv erweitert werden. Darauf weist das Bündnis »Don’t Gas Africa« hin. Transkontinental wird von den Eliten der afrikanischen Staaten gefordert, die Förderung von Erdgas einzustellen und die Zusammenarbeit mit den europäischen Konzernen zu beenden. Angesichts der Tatsache, dass 600 Millionen Afrikaner* innen keinen Zugang zu sauberer erneuerbarer Energie haben, sollte der Fokus auf die kontinentale Entwicklung dezentraler erneuerbarer Energieversorgung gelegt werden. Es soll verhindert werden, dass Afrika mehr und mehr zum Schauplatz der schmutzigen und gefährlichen Förderung von Erdgas und dem rasanten Ausbau der Exportinfrastruktur geriert. In einem offenen Brief werden die EU-Kommission sowie mehrere europäische Staatschef*innen aufgefordert, den Zugriff auf afrikanische Gasquellen zu stoppen.
Algerien, das nach Argentinien und China über das drittgrößte, unerschlossene Schiefergaspotential der Welt verfügt, spielt eine besondere Rolle; dies bestätigen jüngste Deals der italienischen Gasindustrie. Die nordafrikanische Gasexportinfrastruktur besteht zu 60 Prozent aus hauptsächlich nach Europa führenden Pipelines, 40 Prozent werden über LNG-Terminals exportiert.
»Defend Kurdistan« betont, dass die Türkei, die selbst kein Erdgas fördert, als Drehkreuz für den Transfer (Turkish Stream) des Erdgases von den Förderstätten des Kaspischen Meeres nach Europa eine wichtige Rolle spielt. Durch den türkischen Gas-Hub wird die ökonomische und geostrategi-sche Rolle dieses NATO-Landes aufgewertet. Mehr Gas-Milliarden werden zukünftig in expansive Abenteuer gegen Rojava, den Irak und Armenien und gegen die Opposition im eigenen Land verwendet werden können.
Costs of Housing and Living
Der Zusammenhang zwischen den gestiegenen Energiepreisen und den Profiten der Energieversorger wird auf der Party keine Rolle spielen. Im Windschatten des Krieges haben die Gaspreise enorm angezogen. Die damit gesteigerte Inflation hat in Österreich den höchsten Wert seit 1984 erreicht. Sie trifft in erster Linie die Ärmsten der Armen und in Verbindung mit den Mietpreiserhöhungen verschlechtern sich die Lebensbedingungen weiter Bevölkerungsteile. Deshalb dürfen die gestiegenen Gaspreise nicht weiter auf die Verbraucher*innen abgewälzt werden. Die energieversorgenden Konzerne müssen durch massive Besteuerung ihrer Profite die Kosten der Preiserhöhungen tragen.
And Austria?
Die OMV hatte 2022 ihren Nettogewinn um 85 Prozent gesteigert. Um weiter im Gasgeschäft mitzumischen, will die OMV noch im März 2023 mit den Vorarbeiten zur Entwicklung des Gasfeldes Neptun Deep im Schwarzen Meer beginnen. Nachdem Exxon Mobil aus dem Projekt ausgestiegen ist, hat die OMV die Betriebsführung übernommen und wird für die Projektentwicklung ungefähr zwei Milliarden Euro investieren. Geplant ist, dass 2027 das erste Gas fließen soll.
Es sind zwei Seiten einer Medaille. Einerseits wurde von der Bundesregierung lautstark gegen die EU-Taxonomie protestiert. Andererseits entstehen Großprojekte wie das jetzt im Schwarzen Meer. Die Republik Österreich ist nach wie vor die größte Aktionärin der OMV.
Finish this Party
Die skizzierten Bereiche zeigen, dass der weitere Ausbau der Gasversorgung sozial, ökologisch und geopolitisch in eine Sackgasse führt. Deshalb wird ein Bündnis aus unterschiedlichen Bewegungen parallel zur Party Perspektiven aufzeigen und beweisen, dass mensch auch ohne 5.000-Euro-Konferenzticket tagen und feiern kann.
Paul Stern ist LINKS Aktivist, Ökosozialist und war u. a. schon in Malville, Brokdorf, Grohnde, im Wendland und im rheinischen Braunkohlegebiet praktisch für den Umweltschutz unterwegs.
Warum all diese Minen, Stollen, Gruben und Schächte, fragt Robert Sommer
Eine Forcierung des Bergbaus in privater Hand, zwecks Arbeitsplatzbeschaffung großzügig gefördert durch den Staat – das wäre die rechtspopulistische Variante. Eine Forcierung des Bergbaus, der in gesellschaftlichen Besitz übergeht, dessen Profite im eigenen Land bleiben und in die Armutsbekämpfung investiert werden – das wäre die linke Variante. Der Verzicht auf Bergbau als logische Konsequenz des Tabus, der Erde zu entnehmen, was nicht nachwächst – das wäre die indianische Variante. Ist die Forderung indigener Gruppen und antietatistischer Linker nach Bergbau-freien Territorien ein gangbarer Kompromiss?
Buen Vivir: Selbstbestimmt Leben
Im Sommer 2018 kam es im brasilianischen Nationalmuseum in Rio de Janeiro zu einer Brandkatastrophe. 90 Prozent des Inhalts wurden vernichtet. Ein Sprecher aus dem Volk der Guajajara erklärte, der Brand bedeute einen »unwiederbringlichen Verlust für die indigenen Kulturen, vergleichbar mit dem Einfall der europäischen Invasoren im Jahr 1500«. Das Museum war schon vor dem Brand heruntergekommen. Für Indios war es fast ein heiliger Ort – eine Art Mausoleum für die vergessenen Sprachen ausgelöschter Ethnien. Gleichzeitig war es der Sitz des Dokumentationszentrums für indigene Sprachen CELIN. Der Leiter dieser Institution betonte, der Brand des Nationalmuseums sei »ein Anschlag auf das kollektive historische Gedächtnis und auf die Sprache der brasilianischen Ureinwohner«. Tatsächlich war dem Staat die Sache nicht viel wert. In den letzten drei Jahren bekam das Haus nur noch die Hälfte der vereinbarten Förderung. Ein rascher Einsatz der Feuerwehren hätte das Haus retten können. Jedoch waren sämtliche Hydranten der Umgebung unbrauchbar. Es fehlte ihnen der Wasserdruck. Der Staat verschleuderte die Gelder für die Stadien der Fußball-WM.
Nun ist aber ein Narrationswechsel angesagt. Die Erzählungen des Verlustes bleiben wichtig: als Alarmierung des Weltgewissens und aus einer anderen Perspektive als Trichter der Sehnsüchte nach »gutem Leben« (Buen Vivir, ein Konzept des Zusammenlebens jenseits kapitalistischer Wachstumsdiktate.) Sie sind wichtiges Material für die Analyse fortdauernder Kolonialisierungsprozesse, in denen die Betroffenen in ihrer Opferrolle gleichsam einzementiert werden. Aber Mitleid schwächt. Dessen sind sich z. B. Yanomami in Brasilien sicher. Sie nützen die Neigung der Europäer*innen zum Operettenhaften, zu Karneval und Exotik aus. Wenn sie was vom Staat fordern, bemalen sie sich ihre Gesichter, die die Blicke aller Kameras aller Agenturen auf sich ziehen. Auch wenn 100.000 Demonstrant*innen durch die Straßen Rios ziehen, die Yanomami sind immer im Bild – als eine Art Cirque du Soleil der Armen. Über Buntheit kann man nur reden, wenn man die Spektakel der Yanomami kennt.
Für die Prognose, dass im Jahr 2023 große Schritte in Richtung Selbstpräsentation der Ureinwohner*innen wahrscheinlich sind, braucht man keine Politikwissenschaft. Man wird sie vielleicht aber brauchen, um das Phänomen zu erklären, dass die Ermächtigung der Indigenen fast wie global konzertiert erscheint. Um welche Gruppen geht es eigentlich, wenn von Indigenen die Rede ist? Laut UN-offizieller Definition sind das die Nachkommen der Bewohner*innen eines bestimmten Territoriums, die bereits vor der Eroberung, der Kolonisierung oder Staatsgründung durch Fremde dort lebten, eine enge Beziehung zu ihrer Lebensumwelt haben und über ein Gruppenselbstbewusstsein verfügen. Dass sie einer Entrechtung ausgesetzt sind, ist ein weiteres gemeinsames Merkmal, das jedoch keinen Eingang in die UNO-Kriterien fand. Einer Studie aus dem Jahr 2012 zufolge leben 175 Millionen Angehörige indigener und isoliert lebender Völker auf der Erde.
Die Mutigsten schlossen sich der Guerilla an
Hier bloß einige der bekanntesten Gemeinschaften. Die Indianer*innen Nordamerikas (First Nations) erfreuen sich relativer Aufmerksamkeit, ganz im Gegenteil zu den »richtigen« Indianer*innen, den indischen Adivasi, die so zahlreich sind wie die Deutschen. Das auffällige Renommier-Gefälle ist, man glaubt es kaum, eine Auswirkung des Kalten Krieges. Die Eliten des Nordens und des Westens werden es den Adivasi nie verzeihen, dass die Rekrutierungen der sich kommunistisch nennenden Naxaliten-Guerilla größte Resonanz unter den Ureinwohner*innen fanden. Vielen von ihnen wurde ihr Land buchstäblich unter den Füßen weggezogen. Sie standen leider dem Bauxitabbau im Weg. Die Partisan*innen sind kraft der Unterstützung durch die Ureinwohner*innen in der Lage, auf einer Fläche zu operieren, die 40 Prozent der Gesamtfläche Indiens ausmacht.
In Lateinamerika leben die Mapuche, die Aymara, die Maya und die Quetschua; in Asien neben den erwähnten Adivasi die Ainu, die Karen, die Kashmiri oder die Kurd*innen; in Australien und Ozeanien die Aborigines und die Maori; in Afrika Berber, Pygmäen, San oder Tuareg; im Gebiet der Europäischen Union die Samen; auf dem europäischen Teil Nordrusslands unglaubliche 44 sprachliche Minderheiten. Noch unglaublicher die Zahl der Indigenen Gruppen auf Neuguinea: 832! Nur Brasilien kommt dieser Ethnodiversität nahe – mit seinen 305 kleinen bis kleinsten Regenwaldvölkern (nach einer anderen Quelle 256).
Eine neue Kolonialisierung ist im Gange, die scheinbar die indigenen Gemeinschaften dafür bestraft, dass sie die Kolonialisierung Nr. 1 überlebt haben. Ist es Zufall oder eine Chuzpe der indigenen Götter, dass sich die Berge, in denen die Materialien der digitalen Revolution schlummern, in auffälliger Weise dort häufen, wo sich Indigene angesiedelt haben? Ihre Nachfahren wissen, dass Lithium, Graphit, Kobalt, Nickel, etc. etc. den Menschen kein Glück bringen. Wer die Nachfrage zu Geld machen kann, das ist eine Machtfrage.
Photovoltaik-Anlagen, Windparks und Elektrofahrzeuge brauchen mehr Mineralien als auf fossilen Brennstoffen basierende Technologien. Ein typisches Elektroauto benötigt sechsmal mehr Mineralien als ein herkömmliches Auto und eine Onshore-Windkraftanlage benötigt neunmal mehr Mineralien als eine gasbefeuerte Anlage. Seit 2010 ist die durchschnittliche Menge an Mineralien, die für eine Einheit der Stromerzeugungskapazität benötigt wird, um 50 Prozent gestiegen. 5.130.000 Autos gibt’s derzeit in Österreich. Wenn all diese Feinststaubfabriken durch E-Autos ersetzt werden, dürfte auf keine der geplanten Minen verzichtet werden.
Kleiner Exkurs ins Naheliegende
»Ich bin eine Weichafe«, sagt Moira Millan, eine der Heldinnen des indianischen Widerstands gegen die Vertreibung der autochthonen Mapuche durch die Lithium-Bergbaukonzerne. Weichafe ist in der Sprache der Mapuche das Wort für Kämpferin. Durch einen blöden Zufall nach Österreich versetzt, würde sie sich wohl eher »Aktivistin« nennen. Übrigens könnte die Weichafe wählen, auf welchen der beiden Hotspots in Österreich sie den Kampf gegen den so genannten Extraktivismus fortsetzen könnte. Wundern würde sie sich vielleicht, dass dieser Begriff, der in Südamerika fast schon als Synonym für Kapitalismus Verwendung findet, in Österreich aus dem Stadium des Akademismus noch nicht heraus gekommen ist. »Interessant, ihr habt demnach für den gegenwärtigen Hauptfeind des Buen Vivir, des Guten Lebens, kein Wort« würde sie schmunzeln und dann nach Molln oder nach Wolfsberg rasen. In beiden Orten ist Feuer am Dach. In Molln will ein australischer Bergbaukonzern ein riesiges Gasfeld, direkt neben dem Nationalpark Kalkalpen gelegen, verwerten, und auf der Koralpe bei Wolfsberg freut sich eine andere australische Firma auf tadelloses kärntnerisch-steirisches Hochquellenwasser. Das Lithium-Bergwerk, das sie hier mit einem österreichischen Partner (der Waffenindustrielle Glock) errichten wollen, wird an einem Tag so viel Wasser saufen, wie alle österreichischen Ochsen zusammen ein ganzes Jahr lang. Dieser Vergleich konnte noch nicht bestätigt werden.
Die Idee mancher Stämme, den Boden und die Berge ab nun überhaupt in Ruhe zu lassen, wird wohl an der globalökonomischen Wirklichkeit abprallen. Doch die Idee verbreitert sich und schreit nach Beurteilung. Sie trägt dazu bei, die Religion des Wirtschaftswachstums in Frage zu stellen: Was ist das Minen-Minimum? Wie viel Seltene Erden braucht ein Planet, der allen Menschen gefällt?
Wie rechnet man das Minen-Minimum
Mögen die meisten Menschen den ethischen Imperativ vieler Urvölker, nichts aus dem Boden herauszuholen, was nicht nachwächst, als wildes Denken denunzieren, Fakt ist: diese indianische Vision hat mindestens zwei Diskurse befruchtet. Erstens den Diskurs, ob man dem vom Planeten eingeforderten Rückbau in die Wege bringen könnte, und – wenn ja – ob das im kapitalistischen Rahmen überhaupt möglich ist. Die Botschaft über den dem Kapitalismus innewohnenden Wahnsinn verbreitet sich. Ist es nicht wahnsinnig, wenn im Witwatersrand-Gebiet in Südafrika das goldhaltige Gestein mit höchstem technischem Aufwand aus 4.000 Meter Tiefe herausgeholt wird, aus Stollen, in denen tödliche Hitze herrschte, wenn sie nicht klimatisiert wären. Um eine einzige Feinunze Gold zu produzieren, braucht die Firma 600 Kilowattstunden Elektrizität. Und eben 5.000 Liter Wasser.
Auf ein neues Pachakuti
Zweitens enthält die radikale Aborigines-Idee des »No Mining« den zwingenden Rat, eine Wende der Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Recht einzuleiten. Die Verankerung von Klagerechten der Natur in den Verfassungen von Bolivien und Ecuador sowie beispielsweise die Anerkennung der Rechte von Flüssen, Seen, Bergen in Neuseeland und Kanada sowie eines Sees in Indien haben die Aufmerksamkeit von Rechtswissenschaftler*innen sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen Süden auf sich gezogen. Die weltweite Bewegung hat mittlerweile auch Europa erreicht, wo die Implementierung von Rechten der Natur in mehreren Ländern diskutiert und angestrebt wird. Es kommt nicht allzu oft vor, dass eine Rechtsidee des Globalen Südens den Globalen Norden inspiriert.
An den Sound des Indigenismus werden sich die Herrschenden langsam gewöhnen müssen. David Choquehuanca, der Vizepräsident Boliviens, stammt aus dem Volk der Aymara. In den meisten lateinamerikanischen Parlamenten haben sich zu den Fürsprecher*innen der indianischen Anliegen die Selbstsprecher*innen gesellt. Wie eine Woge der Poesie stoßen die bewahrten alten Sprachen vor und beenden das Monopol der Sprache des Geldes in den Institutionen. Zum Amtsantritt der neuen Regierung sagte der Vizepräsident: »Heute erleben Bolivien und die Welt einen Übergang, der sich alle 2.000 Jahre wiederholt, im Zeitenverlauf verlassen wir die Nicht-Zeit und beginnen die neue Morgendämmerung, ein neues Pachakuti unserer Geschichte. Eine neue Sonne und ein neuer Ausdruck in der Sprache des Lebens, wo die Empathie für den anderen oder das kollektive Wohl den egoistischen Individualismus ersetzt. Wo wir Bolivianer einander als Gleiche betrachten und wissen, dass wir vereint mehr erreichen. Wir sind in Zeiten, um wieder Jiwasa zu werden, nicht ich, sondern wir. Jiwasa ist der Tod der Egozentrik, der Tod des Anthropozentrismus und der Tod des Theozentrismus.« (Pachakuti: Zeitenwende; Jiwasa: Wir)
Theoretisch teilen sich die zum eigenständigen Subjekt der Politik werdenden Indigenen-Gemeinschaften und die Linken ihre Hauptfeinde Staat und Kapital. Wenn die Linke aber selber den Staat führt, was in unseren Tagen in Lateinamerika nicht so selten vorkommt, überhört sie den Ruf nach Rückbau des Bergbaus. Der Antagonismus zwischen montanistischer Enthaltsamkeit und der forcierten Vermarktung des Gebirges wird schwer zu lösen sein. Das linksregierte Bolivien z. B. setzt voll auf die Expansion des Bergbaus. Rechtsregierungen machen das immer, überlassen die Bergbauregionen aber den Konzernen, von denen sie abhängig sind. Der Profit bleibt nicht im Land, das Volk verarmt.
Solidarität über den Atlantik hinweg
In Bolivien wurde eben ein Abkommen mit dem chinesischen Konzern CBC getroffen. Bolivien trete damit in die Industrialisierung seines Lithiums ein, sagte Präsident Luis Arce. Nahe der historischen Minenstadt Potosi sollen in der Salzwüste zwei Industriekomplexe zur Verarbeitung von Lithium entstehen. Damit sei das Land in der Lage, Batterien aus eigenen Rohstoffen selbst zu exportieren. Es wird sich zeigen, wie »Buen Vivir«-verträglich diese Einladung chinesischer Investor*innen ist. Sie genießen im Allgemeinen nicht den Ruf einer Heilsarmee. Präsident Arce hatte 2020 für den Movimiento al Socialismo (MAS) kandidiert. Er will die Politik des Ex-Präsidenten Evo Morales fortsetzen, der 2019 von Rechten weggeputscht wurde. Morales war der erste südamerikanische Staatspräsident mit indigenen Wurzeln. Er verstaatlichte alle Öl- und Gasressourcen des Landes.
Konflikte zwischen Urbevölkerung und Bergbau gibt es auch in Europa. Seit die schwedische Energie- und Wirtschaftsministerin Ebba Busch die Welt wissen ließ, man habe in Kiruna das europaweit größte Vorkommen Seltener Erden gefunden, herrscht Aufruhr in den Samen-Gemeinden Nordschwedens. Buschs Vision einer »wundervollen Mine«, die die Unabhängigkeit von China und Russland ermögliche, finden die Ureinwohner*innen provozierend. Der Fund sei eine Katastrophe, stellte die Sprecherin der samischen Rentierzüchter*innen in der Gemeinde Gabna klar. Der Bergbau würde die letzte Wanderroute der Rentiere blockieren, was das Ende der nomadischen Lebensweise bedeute. Vielen wird es schwerfallen, dem modelldemokratischen Staat Schweden Kolonialisierungstendenzen innerhalb des eigenen Landes vorzuwerfen, aber genau das tun die Vertreter*innen der Urbevölkerung.
Symbol des schwedischen Kolonialismus in den Territorien der Samen war das Silberbergwerk in Nasa, das die Schweden 1635 eröffneten. Die Sklaven, die das Silber aus dem Berg holten, waren Samen. Symbol des spanischen Kolonialismus in den Territorien der Aymara waren die Silberminen von Potosi, die die Spanier 1545 eröffneten. Die Sklaven, die das Silber aus dem Berg holten, waren Aymara und Quetschua. Eine überraschende Interdependenz, die für Dramatisierungen wie geschaffen erscheint. Der atlantische Ozean sollte kein Hindernis für eine Parallelaktion sein.