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Von Thomas Schmidinger

Der letzte Angriff der aserbeidschanischen Armee auf den verbliebenen Rest der »Republik Arzach« dauerte nicht lange. Nachdem klar war, dass die Schutzmacht Russland nicht ihrer Funktion nachkommen würde, die sie nach dem Waffenstillstand vom November 2020 übernommen hatte, kapitulierte die international nicht anerkannte Republik am 20. September 2023 und stimmte der Entwaffnung ihrer Streitkräfte zu. In den folgenden Tagen übernahmen aserbeidschanische Truppen das Gebiet und fast alle Bewohner:innen der Region flohen in die Republik Armenien.

Jahrtausende armenischer Geschichte

Bergkarabach war seit über 2000 Jahren armenisch besiedelt. Nach der Islamisie­rung des Nahen Ostens konnte sich hier vom 9. bis zum 14. Jahrhundert mit dem Fürstentum Chatschen eine unabhängiges armenische Monarchie halten, die noch bis 1750 von den fünf armenischen Fürstentümern Golestan, Dschraberd, Chatschen, Waranda und Disak als persische Vasallen­staaten eine Fortsetzung fand. Im Gegen

satz zu den tiefer liegenden Tälern blieb das Bergland von Karabach auch nach der Turkisierung Nordwestpersiens weitgehend christlich-armenisch. Dies änderte sich auch nachdem Bergkarabach 1750 vom türkisch-tatarische Khanat Karabach erobert worden war, nur partiell für die neue Hauptstadt Shusha (aserbeischanisch) bzw. Shushi (armenisch). Um näher an den schwer zu kontrollierenden armenischen Berggebieten zu sein, verlegte der Herrscher des Khanats Panah-Ali Khan, seine Hauptstadt von NiederKarabach nach Berg­karabach.

Die Stadt sollte trotzdem einen großen Anteil armenischer Bevölkerung behalten. Nachdem die Region Anfang des 19. Jahrhunderts russisch geworden war, blieb die Stadt multiethnisch und multireligiös. Die Volkszählung von 1897 ergab für die Stadt 55,7 Prozent Armenier:innen, 41,6 Prozent Aserbeidschaner:innen und 1,4 Prozent Russ:innen. Armenisch-apostolische und russisch-orthodoxe Kirchen fanden sich ebenso in der Stadt wie schiitische Moscheen. Erst Ende März 1920 wurde ein Großteil der armenischen Bevölkerung in einem Pogrom ermordet und vertrieben.

Sowjetische Nationalitätenpolitik

In den Berggebieten um die Stadt hielten sich die Armenier:innen jedoch und so wurde nach der sowjetischen Übernahme des Transkaukasus schließlich die Konflikte zwischen muslimischen Aserbeidschaner: innen und christlichen Armenier:innen vorerst so gelöst, dass Bergkarabach 1923 zu einer armenisch dominierten Autono­men Oblast (Gebiet) Bergkarabach inner­halb der Aserbeidschanischen SSR wurde. Zwischen Bergkarabach und Armenien lag von 1923 bis 1929 der allerdings weniger autonome Oblast Kurdistan, der von teilweise bereits sprachlich an das Aserbeidschanische assimilierten Kurd:innen bewohnt war.

Diese Lösung sollte jedoch mit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr haltbar sein. Spätestens mit dem Pogrom von Sumgait am 27. Februar 1988, das zu einer Massenflucht von Armenier:innen aus Aserbeidschan führte, setzte sich bei den Armenier:innen von Bergkarabach die Forderung nach einer Unabhängigkeit von Aserbeidschan durch, die schließlich nach dem armenischen Sieg über Aserbeidschan im armenisch-aserbeidschanischen Krieg von 1994 auch de facto durchgesetzt werden konnte.

Republik Arzach

Armenien und die Truppen der neu etablierten aber international nicht anerkannten Republik Arzach kontrollierten nun allerdings ein Gebiet doppelt so groß wie das alte autonome Gebiet, und vertrieben nun ihrerseits die muslimische Bevölkerung der neu eroberten Gebiete. In diesen Jahren der militärischen Stärke verabsäumten es Armenien und die neue de-facto-Republik, eine Friedenslösung mit Aserbeidschan zu suchen. Das durch Erdöl- und Erdgasförderungen erstarkte Aserbeidschan versuchte hingegen, sich für die Rückeroberung der Region aufzurüsten.

Engster Verbündeter der autoritären Machthaber in Baku wurde dabei die Tür­kei. Unterstützung erhielt Aserbeidschan aber auch von Israel. Für die Freundschaft mit Israel wurden auch die aserbeidschanischen Bergjuden benutzt, deren Rabbiner zuletzt öffentlich für den Sieg der aserbei­dschanischen Truppen gegen Armenien beteten.

Armenien hielt sich hingegen lange an Russland als christlicher Schutzmacht und an den südlichen Nachbarn Iran, der trotz gemeinsamer schiitischer Religion nicht Aserbeidschan unterstützt, sondern sich tendenziell eher vor aserbeidschanischen Ansprüchen auf den Nordwestiran fürchtet, wo eine sehr große aserbeidschanische Minderheit lebt.

Opfer geopolitischer Verschiebungen

Versuche des 2018 an die Macht ge kommen armenischen Premierministers Nikol Paschinjan, sich von der einseitigen russischen Abhängigkeit zu lösen und sich Europa und den USA anzunähern, führten allerdings nicht zu einer westlichen Unterstützung, sondern nur zu einer Distanzierung Russlands. Mit dem russisch-ukrainischen Krieg konnte es sich das um freundliche Beziehungen zur Türkei bemühte Russland endgültig nicht mehr leisten, die Armenier:innen zu schützen.

Die Armenier:innen von Bergkarabach sind damit nicht nur ein Opfer Aserbei­dschans und eigener Fehler in den 1990er-Jahren, sondern auch geopolitischer Ver­schiebungen geworden. Eine Rückkehr der Geflohenen unter aserbeidschanische Herrschaft ist angesichts der traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit nicht vorstellbar. Immerhin hat Aserbeidschan bereits eine Straße in der neu eroberten Hauptstadt Stepanakert – nun aserbeidschanisch Khankendi – nach dem Kriegsverbrecher Enver Pasha benannt, der zu dem Hauptverantwortlichen des jung türkischen Genozids an den Armenier:in nen von 1915 gehörte und noch vom späten Osmanischen Reich dafür zum Tode ver urteilt worden war.

Humanitäre Katastrophe

Das internationale Desinteresse an der Situation spiegelt sich auch in der spärlich tröpfelnden humanitären Hilfe für die Region wieder. Am Samstag, den 7. Oktober meldete Armenien für insgesamt 136.000 Flüchtlinge einen Bedarf von 97 Millionen US-Dollar an dringendem Bedarf an die UN. Unter den Flüchtlingen sind nach armenischen Angaben über 30.000 Kinder und viele vulnerable Personen, wie Alte, Kranke oder Schwangere. Die Gesamtzahl von 136.000 Flüchtlingen setzt sich aus über 100.000 Flüchtlingen aus Bergkarabach und etwa 35.000 Personen zusammen, die bereits zuvor nach Armenien geflüchtet waren, darunter Staatenlose oder auch Flüchtlinge aus Syrien. Die EU hatte zunächst Ende September nur 5 Millionen Euro zugesagt, verdoppelte diesen Betrag jedoch am 5. Oktober am European Policy Community Summit in Granada mit weiteren 5,25 Millionen Euro Zusagen. Von den laut Armenien dringend benötigten Hilfsgeldern sind dies nun aber gerade einmal etwas mehr als 10 Prozent.

Das bitterarme Armenien, das deutlich ärmer ist als seine Nachbarstaaten, kann die humanitäre Katastrophe auf jeden Fall nicht alleine schultern. Wie eine lang fristige Lösung für die Flüchtlinge aussehen kann, steht noch mehr in den Sternen. Solange es keinerlei internationale Sicherheitsgarantien für Bergkarabach gibt, wird

niemand eine Rückkehr in ein unter aserbeidschanischer Souveränität stehendes Bergkarabach wagen. Ob das ökonomisch desolate Land in der Lage wäre, über 100.000 Flüchtlinge zu integrieren, ist fraglich. Asylangebote aus Europa, den USA oder Australien sind bisher allerdings keine bekannt.

Dabei könnte die Bedrohung für das verbliebene Armenien noch lange nicht vorbei sein. Aserbeidschan machte nie ein Hehl aus dem Ziel, einen Korridor zwischen der Auto ­nomen Republik Nachitschewan und dem Rest Aserbaidschans zu schaffen und damit auch Baku direkt mit der Türkei zu verbinden. Ein solcher Korridor wäre aber nur auf Kosten Armeniens oder Irans möglich. Die etwa 44 km lange Grenze zwischen Armenien und dem Iran hat nur einen Grenzübergang, über den der gesamte Handel und Personen ­verkehr zwischen Iran und Armenien verläuft. Auch wenn das Flusstal des Grenzflusses Aras selbst kaum besiedelt ist, so liegen an den Hängen des Tales mit Alvank, Meghri und Agarak mehrere armenische Klein­städte. Würde Aserbaidschan entlang des Flusses Aras Gebietsansprüche gegenüber Armenien stellen, um Nachitschewan mit dem Kern der Republik zu verbinden, wäre nicht nur das Kernland der Republik Armenien bedroht, sondern würde Armenien Gefahr laufen, noch weiter isoliert zu werden.

Bereits nach dem Waffenstillstand von 2020 wurde von aserbeidschanischer Seite aber genau so ein Korridor gefordert. Eine Verbindung zu Nachitschewan, der Region, aus der auch die Präsidentenfamilie Aliyev stammt und bis heute dort ihre Hochburg hat, dürfte zentrale Agenda für den autoritär regierenden aser beidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev sein. Der Konflikt wird damit noch lange nicht zu Ende sein.

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Eine Reportage über das Kurzwellen sende zentrum Moosbrunn von Barbara Eder

Ernst Spitzbart sitzt an seinem Schreibtisch im Kontrollraum des Kurzwellen-sendezentrums Moosbrunn. Der Minutenzeiger auf einem der verglasten Ziffernblätter oberhalb der Weltkarte steht kurz vor Beginn der nächsten Runde, fünf weitere Uhren zeigen Ortszeiten anderer Erdteile an: Los Angeles • Buenos Aires • New Dehli • Tokio • Wellington. Die leicht vergrößerte Scheibe mit aktueller UTC-Anzeige hängt inmitten, die Weltzeit ist vor Ort entscheidend. Um Punkt zwölf Uhr wird sich die logarithmisch-periodische Hyperbolantenne am Feld vor dem Sendegebäude automatisch um fünf Grad nach Osten neigen, das Radioprogramm dann von Moosbrunn bis in die Ukraine zu empfangen sein. Die numerischen Informationen in den gelben Kästchen am Computermonitor indizieren die zeitgesteuerten Veränderungen; nicht alle der vier betriebsfertigen Sender sind heute noch aktiv, zwei davon stehen schon seit Jahren auf Standby.

Im Dezember 1959 begann im niederösterreichischen Moosbrunn der regel -mäßige Sendebetrieb, von einer provisorisch errichteten Baracke aus übertrugen fünf ehemalige U-Boot-Sender erste Versuchssendungen. Der Ausbau der Station hatte eben erst begonnen: Im September 1960 konnte die erste Rundstrahl-Vertikalreusenantenne in Betrieb genommen werden, ein Jahr später kam eine rhombenförmige Richtantenne mit Abstrahlrichtung gen Übersee hinzu. Das Sendegebäude existiert seit Mitte der Sechzigerjahre, Nachrichtentechniker des Österreichischen Rundfunks steuerten von dort aus die ersten beiden 100-Kilowattsender nebst umgerüsteten 50-Kilowattsender aus dem Provisorium. In den Achtzigerjahren veränderte sich die technische Ausrüstung nochmals grundlegend: Neue Antennen, darunter eine Drehstandantenne, eine Doppelwandantenne und eine Quadrantenantenne sorgten für notwendige Erweiterungen, 1983 folgte der erste »Telefunken«-Sender, 1987 ein weiterer. Seit Beginn dieses Jahr-hunderts ersetzen zwei auch für digitale Übertragungen geeignete »Thomcast«-Sender die alten Steuersender, eine Abkehr von der Kurzwelle zeichnet sich ab.

Mehr als ein halbes Jahrhundert wurde von hier aus das Auslandshörfunk -programm des ORF übertragen, heute sind die Kunden des Senders meist Kirchen. Radio Vatikan und die Sieben-Tages-Adventisten lassen ihre Gottesdienste von Moosbrunn aus in die Welt entsenden, ihr zah-lungsbereites Interesse hat die Existenz der Station, die schon seit Jahren eingestellt werden sollte, gerettet. Jahre des Aufbruchs gingen voraus: Bis 1976 arbeitete vor Ort eine eigene ORF-Redaktion, ihre akustische Kennung war mit den ersten Takten des Donauwalzers unterlegt; rund zehn Jahre später nannte sich das vormalige »Austrian Short Wave Service« »Radio Österreich International«, neben Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch zählten zuletzt auch Esperanto und Arabisch zu den offiziellen Sendersprachen. Empfangen werden konnten die Weltnachrichten aus Niederösterreich anfangs nur auf Kurzwelle, dann auch per Satellit und Kabel. Mitte der Neunzigerjahre kam das Hörfunk-Übertragungssystem »Astra Digital Radio« hinzu, zu Beginn dieses Jahrhunderts »Digital Radio Mondiale«; am schmalen Band von DRM ist seither das »BBC World Service« zu hören.

Feuchtgebiete wie das in Moosbrunn begünstigen die Ausbreitung von Kurzwellen, der Boden, auf dem Sender und Antennen stehen, ist deklariertes Naturschutzgebiet. Für Ernst Spitzbart, den Naturfreund, sind Ökologie und Radiowelle nicht unvereinbar, einem nur vermeintlichen Widerspruch begegnet er jeden Tag: Neben den meterhohen Masten der Quadrantenantennen kompostiert ein Biobauer sein Feld. Einer lokalen Bürgerinitiative, die eine Studie zu möglichen gesundheitsschädigenden Folgen des Senders beim Universitätsinstitut für Umwelthygiene in Auftrag gab, entgegnete Spitzbart stets mit rationalen Argumenten. Im Garten seines Arbeitsplatzes blühen stolze Riesen aus Stahl, umgeben von Tagfaltern und Zwerglibellen; sie sind Teil des Ökosystems einer der leistungsstärksten Kurzwellensendeanlagen Europas.

Radio Österreich International am Ende?

Seit 1981 hält Ernst Spitzbart vor Ort die Stellung, währenddessen hat er nicht nur technische Veränderungen erlebt. Im März 2003 wurde »Radio Österreich International« offiziell eingestellt, im Dezember 2004 gliederte der ORF-Konzern die Sendetechnik aus; angestellt ist Spitzbart seither bei der Österreichischen Rundfunksender GmbH & Co KG, anteilig gehört sie zur Raiffeisen-Holding. 2009 wurde erneut bei der Kurzwelle eingespart, die Europa- Frequenz seither nur mehr stundenweise bespielt. Ernst Spitzbart ist es dennoch gelungen, die Anlage in Moosbrunn aufrechtzuerhalten. Der lau-fende Betrieb wird gegen Entgelt von Fremdprogrammen finanziert, gesichert hat sich der Nachrichtentechniker damit auch seinen eigenen Arbeitsplatz. Ernst Spitzbarts Pensions antritt steht nun unmittelbar bevor, die Zukunft des Sendezentrums besorgt ihn. »Radio Österreich International« sei auch für ihn eine Art Zuhause gewesen, übermittelt aus dem Landesstudio des zehnten Bundeslandes. Es liegt auf keiner Karte und ist doch ein eigener Kontinent für sich – bewohnt von Exilierten und Emigrant:in nen, die ihrem Herkunftsland auch in der Ferne nah sein wollten. Sie zu informieren, sei mehr als nur ein Auftrag gewesen, mit Reichweite und Sendeleistung hat diese Ethik viel zu tun. Die Techniker in Moosbrunn hatten dahingehend neue Maßstäbe gesetzt: Mitte der Neunzigerjahre war »Radio Österreich International« am 49-Meter-Band auf 6.155 Kilohertz europaweit ganze neunzehn Stunden täglich zu hören, dank Unterstützung durch ein Relais von »Radio Canada International« in Nord- und Mittelamerika bis zu drei Stunden; in Afrika betrug die Sendezeit noch um eine Stunde mehr, am 31-Meter-Band des Nahen Ostens mit Pausen sogar ganze acht Stunden. »Radio Österreich International« strahlte aus in weit entfernte Erdteile, nach Weltzeit getaktet. Für die Dauer des jeweiligen Zeitfensters waren die Antennen der Abstrahlrichtung entlang ausgerichtet.

In den Siebzigerjahren produzierte die ORF-Kurzwellenredaktion in Moosbrunn eigene Sendungen für die Friedenstruppen auf den Golanhöhen, mehrmals täglich gingen die Nachrichten des »Österreich-Journal« um die Welt; bis 1998 war Paul Lendvai Intendant des Kurzwellensenders, für seine kritischen Berichterstattungen zum politischen Geschehen in der zweiten »Heimat« über alle Landesgrenzen hinweg bekannt und berüchtigt – nicht anders als Alfons Dalma ließ auch er an der ersten »Heimat« jedoch kein gutes Haar. Heute kommen Ö1-Mittags- und Abendjournal je ein Mal pro Tag über Koaxialkabel vom Küniglberg, die vielen Sprachen von »Radio Österreich International« sind längst verstummt. Die Esperanto-Sendungen im Kurzwellenprogramm seien besonders beliebt gewesen, erinnert sich Ernst Spitzbart und zeigt auf eine in die Jahre gekommene Pinnwand mit Hörer:innen-Zuschriften. Die Adressen der Absender reichen von Kuba bis nach Papua Neu Guinea, daneben eine Empfangsbestätigung des Senders mit einem Motiv von Rudolf Hausner – eine QSL-Grußkarte für die Funker:innen und Kurzwellenhörer:innen, als Dank für ihre Sendeberichte. »Ob Europa oder Übersee – immer ihr Begleiter«, steht auf einer Metalltafel mit eingestanztem ORF-Oval, darunter eine Weltkarte mit Sendesignal, das sich punktförmig entlang der Längengrade ausdehnt. Sie wirkt wie eine surreale Skizze jener Wege, die Adam abschreitet. In Rudolf Hausners Bild ist er der erste Mensch, der für alle steht. Er entwickelt sich, weil er durch Welten wandert.

Barbara Eder ist freie Autorin und Redakteurin der Tageszeitung junge Welt.

 

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Leonore Beranek über die notwendige Gegenbewegung

Im ersten Moment wirkt der Versuch von Karl Mahrer (ehemaliger Wr. Polizeikommandant und Obmann der ÖVP Wien), den Brunnenmarkt für seinesgleichen zu erobern, ja fast witzig in seiner Unbeholfenheit. Unterlegt mit martialischer Trommelmusik wird gegen den Verlust eines Wiener Wahrzeichens gewettert, das aus Sicht Mahrers fest in der Hand von falschen Leuten ist. Eingebettet in eine Kampagne über weitere Orte, die zu »Unsicherheitszonen« erklärt werden. Die Aussagen Mahrers sind inzwischen widerlegt. Ein peinliches Video, viel Aufregung und Gegenstimmen. Alles gut, könnte der Eindruck sein. Ist es aber leider nicht.

Die ÖVP hat jede Mitte hinter sich gelassen und ist beim offenen Rassismus angekommen. Mahrer reiht sich mit seinen Ausritten ein. Bei ihm traf es im ersten Aufschlag einen gentrifizierten Ort, demgemäß gab es viel Kritik. Es ist nur einer von vielen Orten in Wien, die aus Sicht von Mahrer »No-Go-Zonen« sind. Es ist aber auch nur ein Beispiel dafür, dass die ÖVP sich für einen Weg der Hetze und Ausgrenzung entschieden hat, der eigentlich von der FPÖ bekannt ist.

Argumentiert wird der Weg mit einer nicht näher erklärten »schweigenden Mitte«, der angeblich Gehör verschafft werden müsse und damit, dieses Feld eben nicht der FPÖ zu überlassen. Ohne die einzelnen Sager und teilweise rechtswidrigen Maßnahmenankündigungen hier zu wiederholen, es geht um die Spaltung der Gesellschaft, um Schuldzuweisungen und Diffamierungen.

Die Umdeutung von Flüchtlingen zu »Migranten«, die Illegalisierung der Asyl suche und die Abschottungspolitik der EU an ihren Außengrenzen, die von der der zeitigen Bundesregierung vorangetrieben wird, ist ein Beispiel dafür, wie schnell sich Sprache und Erzählung verändert, wird sie nur oft genug wiederholt. Die gleiche Vorgehensweise wird nun hier angewandt. Ungeachtet der Fakten werden Szenarien gezeichnet, die im Endeffekt Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen sollen. Die geballten Angriffe zielen auch hier auf die Umdeutung ab, die Menschen vorwirft, etwas in Anspruch zu nehmen, das sie nicht verdient hätten oder an einem Platz zu sein, wo sie nicht hingehören würden. Wenn Nehammer davon spricht, die Fehler der 70er-Jahre bei der Anwerbung von »Gastarbeitern« nicht zu wiederholen, geht es beispielsweise um nichts anderes, als Bevölkerungsgruppen als nicht zugehörig zu diffamieren. Das macht sie angreifbar.

Steuern zahlen, keine Ansprüche stellen

In dem der Bundeskanzler diese Thematik in dieser speziellen Form aufnimmt, sendet Nehammer Signale an den Wirtschaftsflügel der ÖVP, der nach Zuwanderung ruft. Kommen sollen offenbar Arbeitskräfte zu günstigen Löhnen, die, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, wieder verschwinden. Dazwischen Steuern zahlen und möglichst keine Ansprüche stellen. Das verstetigt das Auseinanderdividieren der Beschäftigten, die mit unterschiedlichen Rechten nebeneinander arbeiten. Es wirkt dämpfend auf das Lohnniveau und hält die Profite hoch. Der Druck auf alle Lohnabhängigen wird höher. Hier wird das Wort Integration gar nicht erst in den Mund genommen. Zahlt sich nicht aus und ist auch nicht erwünscht, sie gehen ja wieder. Damit, so die implizite Rechnung der ÖVP, könnte der aktuelle Arbeitskräftemangel vermindert werden, ohne die Position aller Beschäftigten nachhaltig zu verbessern.

Derzeit finden sich teilweise noch Aufruhr und breite Gegenbewegungen, zumindest in Wien. Aber wie lange wird sich diese Aufmerksamkeit halten? Die Schlagzahl der rassistischen Entgleisungen der ÖVP ist hoch, die FPÖ muss in ihrem Kernthema nachlegen.

Viele Gegenstimmen haben eine Schlagseite. Reflexartig wird darauf verwiesen, dass die Menschen am Brunnenmarkt ein Beispiel für gelungene Integration sind, ihre Steuern zahlen und Leistung erbringen. Die Guten also. Zum einen macht das die rassistischen Angriffe umso empörender. Zum anderen schwingt da eine Form der Ausgrenzung und Ablehnung mit, die tief in die Debatte eingedrungen ist und spätestens seit dem viel zitierten Köln-Silvester bei eher links der Mitte Einzu stufenden argumentativ verankert wurde. Die Unterscheidung der »Guten« und »Bösen« führt zu einem Weitertragen von Bildern im Kopf, beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Ein kleiner Rassismus sozusagen.

Ein kurzer Blick in die Mainstream-Medien bestätigt diese Wahrnehmung. Nun ist es ein Standpunkt, der sicherlich nicht falsch ist, sich schützend vor die Angegriffenen zu stellen und die Aussagen vehement zurückzuweisen. Dabei sollten wir aber nicht in die Falle gehen, unsererseits Teile auszugrenzen. Denn die Unterteilung in jene, die es unschuldig trifft, weil sie integriert sind, und in die Anderen ist eben auch eine Spaltung. Es ist auch eine Zuschreibung, und die Bilder, die damit transportiert werden, sind eben auch rassistisch. Sie folgen einer Ausdeutung von Integration, die mehr Assimilation als Anerkennung zum Ziel hat. Denn es wird ein Unterschied gemacht. Eben zwischen jenen, denen aufgrund der Anpassung ein »Hiersein« zugestanden wird und Anderen, die unter Umständen Regeln verletzen oder ihnen dies zugeschrieben wird. Die notwendige Gegenbewegung ist das Einfordern von Gleichheit, die schon viel zu lange in viel zu vielen Bereichen, sei es das Wahlrecht oder der Arbeitsmarktzugang, bestimmten Menschen verwehrt wird.

Legitimation für Ungleichheit

Aber zurück zur ÖVP. Es ist immer weniger wahrscheinlich, dass ihr Kalkül nur das Abgraben von Stimmen der FPÖ ist. Das geht nicht auf, wie die Umfragen deutlich zeigen. Sie nutzt ihren Rassismus als Legi timation von Ungleichheit. Damit legitimiert sie klassisch Ausbeutung und Ausgrenzung. Insbesondere der Bundeskanzler setzt sich – vermutlich ganz bewusst – immer stärker und in einer beleidigenden Wortwahl mit Halbwahrheiten und Erfundenem in Szene. Weitere folgen, die Beispiele sind zahlreich, seien es eben Mahrer, Raab oder die ÖVP in Niederösterreich. Die Koalitionspartnerin trägt das alles mit, vielleicht zähneknirschend und mit Widerworten, aber die berühmte »rote Linie« ist für sie nicht überschritten. Unter Umständen glauben sie wirklich, dass sie das Schlimmste verhindern können. Sie tragen aber dazu bei, dass die rassistischen Ausritte, die diffamierende Sprache und die immer tiefere Spaltung gesellschaftsfähig werden. Sie tragen es mit, weil sie die Koalition mittragen und gleichzeitig widerständiges Potenzial bei sich bündeln. Die Sozialdemokratie ist mit sich selbst beschäftigt. Ob ihre Mitglieder es schaffen, mit der Wahl der*des Vorsitzenden hier das richtige Zeichen zu setzen, darf im Moment bezweifelt werden.

Es bereitet Unbehagen und tut weh zu schreiben, dass wir wissen, wohin das führen kann. Wie SOS Mitmensch es ausdrückt: »Die Dämme in Richtung Rassismus und Spaltung brechen«. Der Gewöhnungseffekt ist dabei seit Jahren eine zentrale Gefahr. Denn die Spirale dreht sich und die empör te Aufmerksamkeit ist kurzweilig.

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Der KSV-LiLi geht mit dem besten Ergebnis im Rücken und mit Lola Fürst als Listenerste in die ÖH-Wahl 2023 von 9. bis 11. Mai.

Bei den ÖH-Wahlen 2021 hat der Kommunistische Student_innenverband - Linke Liste sein bisher bestes Ergebnis eingefahren und zwei Mandate in der ÖH-Bundesvertretung und 3 Mandate auf der Universitätsvertretung der Uni Wien erreicht.

Dieses Jahr tritt der KSV-LiLi nicht nur an der Uni Wien und bundesweit an, sondern legt neben Boku, VetMed, Ph Wien und FH Campus auch einen Fokus auf Innsbruck, wo an der Leopold-Franzens Uni und auch erstmals an der Medizinischen Uni kandidiert wird. Listenerste bundesweit und an der LFU Innsbruck ist 2023 die 21-jährige Philosophiestudentin und Buchhändlerin Lola Fürst.

Maximilian Maydl hat sie zum Interview getroffen:

Zu Beginn: Warum ist eine linke ÖH so wichtig?

LOLA FÜRST: Neoliberales Konkurrenzdenken hat an Hochschulen nichts verloren, deshalb braucht es eine ÖH, die die Interessen der Studierenden, nicht die von Wirtschaft und Politik, vertritt. Die ÖH hat durch ihr gesetzlich gesichertes allgemeinpolitisches Mandat auch einen gesellschaftlichen Einfluss; sie trägt die Verantwortung für eine emanzipatorische, feministische und antirassistische Politik einzustehen.

Durch die aktuellen Preiserhöhungen sind so viele Studierende wie nie zuvor in finanzielle Not geraten. Wie wollt ihr Studierenden dahingehend helfen?

LOLA FÜRST: Wir kämpfen für die Abschaffung jeglicher Studiengebühren und eine Grundsicherung für alle Studierenden, damit jede*r es sich leisten kann, eine Hochschule zu besuchen.

Wir fordern auch Mensenessen um höchstens zwei Euro und eine kostenlose automatische Krankenversicherung für alle Studierenden; dennoch ist uns klar, dass ohne die Abschaffung des Kapitalismus nie echte Gerechtigkeit herrschen kann – auch nicht an den Unis.

Ihr fordert feministische Hochschulen gegen das Patriarchat. Wie wollt ihr die Hochschulen feministischer machen?

LOLA FÜRST: Um den patriarchalen Strukturen an den Unis entgegenzuwirken, wollen wir ein Büro für die Meldung sexistischer Vorfälle und sexualisierter Gewalt. Wir setzen uns dafür ein, dass Menstruation als Fehlgrund anerkannt wird, Hochschulangestellte Weiterbildungen zu Geschlechtersensibilität bekommen und das Betreuungsangebot ausgeweitet wird. Außerdem fordern wir einen Abtreibungstopf, um ungewollt Schwangere finanziell zu unterstützen.

Eine andere Forderung von euch lautet »Rechte Albträume wahr machen«. Was kann man sich konkret darunter vorstellen?

LOLA FÜRST: Das bedeutet, dass wir rechtsextreme Kontinuitäten in der Gesellschaft und an den Hochschulen erkennen und bekämpfen wollen. Wir unterstützen aktiv antifaschistische Strukturen und wollen die ÖH selbst antifaschistisch gestalten. Auch ein Couleurverbot und kritische Forschung zu Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus sind notwendig, um sich als ÖH dem allgegenwärtigen Rechtsruck entgegenzustellen.

Wir haben letztes Jahr an vielen Hochschulen Hörsaalbesetzungen der Erde brennt-Bewegung gesehen. Was fordert ihr in Bezug auf den Klimawandel?

LOLA FÜRST: Wir haben die Besetzungen in Wien und Innsbruck unterstützt, denn es ist wichtig, dass sich Studierende gegen klimaschädliche Politik einsetzen. Die Hochschulen sollten ihre gesellschaftliche Rolle als Meinungsmacherinnen wahrnehmen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Denn die Verantwortung für die Klimakatastrophe liegt nicht bei Einzelpersonen, sondern beim Wirtschaftssystem.

Auch hier wissen wir, dass es im Kapitalismus keine Lösung geben wird. Antikapitalismus ist Klimaschutz!

Zu guter Letzt: Was sind eure Ziele für die ÖH-Wahl 2023?

LOLA FÜRST: 2021 haben wir unsere absolute Stimmenzahl steigern können. Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass nach der Pandemie die Wahlbeteiligung wieder höher ausfallen wird. Deshalb setzen wir uns als Ziel vor allem die weitere Steigerung unserer absoluten Stimmen.

Natürlich wollen wir unsere Mandate auf der Bundesebene und an der Uni Wien halten – und an der Uni Innsbruck ist es unser Hauptziel mit einem Einzug in die Universitätsvertretung die konservative Mehrheit von ÖVP-AG und Junos zu brechen.

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von Bärbel Dannerberg

Der Untertitel »Wie feministische Kämpfe Arbeit, Ökologie und Politik verändern« ist vielversprechend. Das zum 40-jährigen Bestehen der Frauen*solidarität erschienene Buch berichtet von dem Mut und der Fantasie von Frauen ebenso wie von den politischen Hindernissen und Hürden im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. In acht Kapiteln, unterteilt in die Themen (Anti-)Rassismus und Postkolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit, Umwelt und Klima, kommen feministische Gegenstimmen aus fast allen Gegenden der Welt zu Wort. Die Herausgeberinnen Andrea Ernst, Ulrike Lunacek, Gerda Neyer, Rosa Zechner und Andrea Zelinka stellen den vielstimmigen Berichten in jedem Kapitel eine kurze Einleitung zum Thema voran und ermöglichen dadurch eine gesellschaftspolitische und geographische Orientierung feministischer Weltaneignung. Besonders schön finde ich die Hommage an Sigrun Berger (1934 – 2021), die Mitbegründerin der Frauen*solidarität, der auch dieses Buch gewidmet ist. Gundi Dick und Rosa Zechner würdigen die langjährige Obfrau und Ehrenvorsitzende der Frauen*solidarität mit einem Abriss aus ihrem bewegten Leben, das sie u. a. in Bolivien und Chile verbrachte.

In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeberinnen, dass (fast) alles erlaubt war an Textarten, von Lyrik, Reportagen über Wissenschaft bis zur Streitschrift, vom Interview bis zum Essay – bis auf eine Einschränkung: »Nur die Schreibweisen wurden festgelegt. So steht LGBTIQ+ für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter, queer und das ›+‹ für weitere sexuelle und geschlechtliche Identitäten.« Hilfreich für das Verständnis beim Lesen sind die Schreib- und Begriffserklärungen im Vorwort. Das in Kursiv gesetzten weiß steht für Privilegien einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, das großgeschriebene Schwarz soll identitätsstiftend sein und rassistische Unterdrückung bewusst machen, und die Kürzel PoC, BIPoC stehen für Black, Indigenous, People of Color. Wir erfahren auch, weshalb das Sternchen der Frauen*solidarität zugefügt wurde, warum der Ausdruck »Dritte Welt« aus dem Untertitel der Zeitschrift verschwand, der Begriff »Entwicklungshilfe« in Entwicklungszusammenarbeit umbenannt und so einem feministischen Anspruch gerecht wurde. Im Vorwort erfahren wir auch viel vom Entstehen dieser Frauenorganisation und ihrem Entwicklungsweg bis heute, ein Bildteil vermittelt das anschaulich.

Am eindrucksvollsten sind die einzelnen Texte selbst. Sie versammeln einen breiten Einblick in das Leben und die Kämpfe von Frauen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa. Viele der von der Frauen*solidarität initiierten Projekte, wie die Clean- Clothes-Kampagne oder das erste österreichische EZA-Frauenprojekt über die Blumenproduktion in Kolumbien, haben die Produktions- und Arbeitsbedingungen in den Ländern für Frauen verbessert. Vieles ist noch zu erkämpfen und im neo-liberalen Schatten zu verteidigen.

Andrea Ernst, Ulrike Lunacek, Gerda Neyer, Rosa Zechner, Andrea Zelinka (Hrg.): GLOBAL FEMALE FUTURE Wie feministische Kämpfe Arbeit, Ökologie und Politik verändern. Kremayr & Scheriau 2022.

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Gedanken zur neuen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien von Eva Brenner

Im Jüdischen Museum Wien ist derzeit die kontroversielle und überaus gelungene Ausstellung »100 Missverständnisse über und unter Juden« zu sehen, die seit ihrer Eröffnung am 30. November 2022 hitzige Debatten – vor allem unter Jüdinnen und Juden – hervorgerufen hat. Auf den ersten Blick wirkt der Kulturstreit wie ein künstlich herbeigeredeter Skandal. Die Kritiker:innen der Schau, vornehmlich aus dem konservativen Lager kommend, sprechen von mangelhafter Recherche, einem Affront gegen Jüdinnen und Juden und einer »unangemessenen« Annäherung an Erinnerungskultur. Die Vorwürfe reichen von pietätlos bis zu antisemitisch, womit der mutige Neuaufbruch der kürzlich angetretenen Direktorin in unnötige Schieflage gebracht wird.

»Ein großer Teil des jüdischen Publikums empfindet die Ausstellung in ihrer jetzigen Form als untragbar«, wetterte etwa Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, der bekannte Publizist Paul Lendvai empfahl die Schließung. Ben Segenreich, langjähriger Israel-Korrespondent, hatte, wie er in einem Presse-Gastkommentar ausführte, durch den Besuch der Ausstellung »ständig Stöße vor den Kopf« erhalten. Über Wochen hinweg steigerte sich die Diskussion und nahm zuletzt die Züge einer skurrilen Hexenjagd an. Im Fokus scheint zu stehen, dass es die nicht-jüdische Neo-Direktorin, die sich zuvor u. a. als Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben einen Namen gemacht hatte, es wagt, heiße Eisen anzugreifen, wozu man ihr gratulieren muss.

Staudingers gemeinsam mit (dem ebenfalls nicht-jüdischen) Kurator Hannes Sulzenbacher gestaltete Schau unterzieht das Selbstverständnis heimischer Jüdinnen und Juden einem Härtetest. Den Gegner:innen der sehenswerten Schau steht ein oft verkürzendes Pro und Contra in den Medien sowie ein prominenter Offener Brief jüdischer Shoah-Überlebender gegenüber, die zu Sachlichkeit, Toleranz und Respekt aufzurufen: »Kritik ist immer wichtig (…) aber nichts rechtfertigt Rufmord und Hetze.«

Ein Museum im Aufbruch

»100 Missverständnisse« ist die erste große Ausstellung der neuen, seit Sommer 2022 amtierenden JMW-Direktorin Barbara Staudinger, in der sie jüdische Stereotype kritisch bis ironisch ins Zentrum rückt, gängige Klischees parodiert, die über und von Jüdinnen und Juden im Alltag grassieren, und neue Wege der Erinnerung aufzeigt. Antisemitische ebenso wie philosemitische Stereotype werden provokant aufgegriffen, um sie zu entkräften – sowohl ernsthaft wie auch humorvoll. Das reicht vom angeblich körperlich-schwachen Juden über das jüdische Genie bis zur perfiden Ritualmordlegende, nach der Juden das Blut christlicher Kindern für magische Zwecke missbrauchen. In einem Ausstellungsstück posiert ein Skinhead ketzerisch mit der Aufschrift »Judenfreund« am Lederjackett, wobei der Reichsadler – mit Davidstern statt Hakenkreuz – sich das Peace-Zeichen gekrallt hat.

Debatte und Kritik

Diskursiver und politischer soll das Jüdische Museum, das 1993 bzw. 2000 in der Wiener Innenstadt an zwei Standorten eröffnet wurde, fortan werden. Die ermutigende Neupositionierung sieht kritische, zeitgemäßen Ansprüchen Genüge leistende Ausstellungen für ein neues, vor allem jüngeres Publikum vor, ausgediente Praktiken und Vorstellungen des Ausstellungsmachens sollen aufgebrochen, die Rolle des Museums neu belebt werden. Ein jüdisches Museum sei »keine Heilanstalt gegen Antisemitismus«, meint selbstbewusst die neue Direktorin, die sich unängstlich gegen die Anwürfe abgrenzt. In der Tat hat sie gängige Vorurteile, Romantizismen und Aneignungen jüdischer Kultur und Lebensart ins Visier genommen. Zusätzlich bildet eine Unzahl von Thesenanschlägen das vergiftete Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft ab, die da u. a. sind: »Alle Juden sind kluge Denker bzw. Nobelpreisträger.« – »Eine schöne Frau ist gefährlich, besonders wenn sie eine Jüdin ist.« – »Jüdinnen und Juden sind überempfindlich.« Die Liste ließe sich fortsetzen.

Steine des Anstoßes

Das Bild von Jüdinnen und Juden ist in unseren Breiten in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft von Missverständnissen geprägt. Ob die Überhöhung des »jüdischen Familiensinns«, des »jüdischen Lernens«, einer klischeehaften Vorstellung »jüdischen Lebens« oder die Traurigkeit, die allem, was »jüdisch« ist, anhaftet: All dies basiert auf Missverständnissen, die sich in weiterer Folge in Vorurteilen und stereotypen Bildern ausdrücken. Die aktuelle Ausstellung spürt diesen Missverständnissen nach, sucht nach den Hintergründen, hinterfragt sie oder begegnet ihnen mit einem augenzwinkernden Lachen. Missverständnisse stammen nicht von der Mehrheitsgesellschaft allein, sondern basieren auch auf missverständlichen Vorstellungen unter Jüdinnen und Juden. Manche Missverständnisse sind alt, manche haben sich erst nach der Shoah herausgebildet.

Beispiele der 100 ausschließlich von jüdischen Künstler:innen geschaffenen Werke sind ein verkitschter Chanukka-Leuchter aus Chanel-Lippenstiften, der Bettvorleger »Hitler Rug« von Boaz Arad mit Hitlerkopf (2007) oder das Video der australischen Künstlerin Jane Korman »Dancing Auschwitz« (2010), in dem die Künstlerin, ihr Vater und Auschwitz-Überlebender sowie dessen Enkelkinder in Auschwitz auf Erde mit der Asche der Ermordeten, also der einzig für sie vorhandenen Gräber, tanzen während auf dem T-Shirt des lächelnden Auschwitz-Überlebenden Adolek Kohn, etwa in Brusthöhe, das Wort »Survivor« geschrieben steht.

Es sei nachvollziehbar, dass in Wien, so Staudinger, »das als ›Täter-Hauptstadt‹ bis heute kein Shoah-Museum hat«, das Auschwitz-Video empöre. An einer zentralen Stelle platziert Staudinger eine überstrahlende Lichtinstallation, ein Neonschriftzug in blau auf gelbem Grund von Sophie Lillie und Arye Wachsmuth: »Endsieger sind dennoch wir« (2001), eine Wortentwendung im Gedenken an den Auschwitz-Überlebenden Heinrich Sussmann (1904–1986).

 

Kontroverse belebt

Bei meinem Besuch vor einigen Wochen waren die Räume proppenvoll, wie ich das in diesem Museum zuvor nie erlebt hatte. Neben der üblichen Klientel eines gehobenen, kunstaffinen Bürger:innentums tummelten sich etliche Schulklassen, mehrere Führungen fanden gleichzeitig auf den verschiedenen Ebenen statt, nicht nur, aber auch in der Sonderausstellung, die Atmosphäre glich dem Rummel eines Volksfestes. Schon dafür ist der neuen Direktion Beifall auszusprechen, denn hier wird endlich aufgemischt, das jüdische Museum wirkt lebendig wie kaum zuvor, eben nicht primär museal, was für dieses Museum im sprichwörtlichen Sinn zu gelten hatte.

Im Foyer kreuzten sich die Menschenmassen, im Shop stand man Schlange um den Katalog zu ergattern, in der Sonderausstellung herrschte jedoch eine ungewöhnliche Stille – für mich ein Ausdruck besonderer Betroffenheit. Offensichtlich waren die Besucher:innen überrascht, beeindruckt oder schockiert über die schonungslose Darstellung des Juden, der Jüdin und des Jüdischen im Allgemeinen, wie es sich in unserem Alltag zeigt. Zumal die meisten Ausstellungsstücke, in weiten Teilen rezenter Provenienz und kaum historisierend, dem Alltag entlehnt wurden. Das ergibt den in diesen Hallen unüblichen aktuellen Blick auf das spannungsgeladene Thema.

Kritik und Dialog

In der Vergangenheit hat das Jüdische Museum sich wiederholt mit antisemitischen Missverständnissen über Judinnen und Juden auseinandergesetzt, nun zeigt es philosemitische Varianten. Die zahlreiche Negativbefunde der »100 Missverständnisse«, die in den Feuilletons kursierten, werden konterkariert von der anwachsenden Besucher:innenzahl, wobei Schülerinnen und Schüler stets geführt werden, um die Auseinandersetzung mit der tabubrechenden Schau zu steuern. Siehe da: Der Einsatz lohnt sich.

»Weiter so!« – das möchte man der neuen Direktorin zurufen. Von Hauptinteresse der Kritiker:innen ist die Tatsache, dass die neue Direktorin selbst nicht jüdisch ist. Angesichts dieser teils haltlosen, teils bösartigen Angriffe erweist sich ihre Entschlossenheit, den eingeschlagenen Kurs fortsetzen zu wollen, als richtige Antwort und befruchtend für den zukünftigen Dialog im Jüdischen Museum. Dass sie mit ihrer Antrittsvorstellung negative Reaktionen auslösen würde, muss sie gewusst haben. Das Risiko eingegangen zu sein, ist in der heimischen Kunstszene eine Seltenheit und umso mehr zu begrüßen. Der Erfolg der Ausstellung gibt Barbara Staudinger Recht, er ist im österreichischen Kontext zumindest ungewöhnlich.

Die Ausstellung im Museum Dorotheergasse ist noch bis 4. Juni 2023 zu sehen.

www.jmw.at

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Von Mo Sedlak

Fast alle hassen die Lohnarbeit. Fast alle probieren, eine zu haben. Das ist keine Dialektik und auch nicht widersprüchlicher, als einen Text für die Volksstimme auf dem Laptop zu tippen, den unterbezahlte Arbei-ter*innenhände im Globalen Süden zusammengeschraubt haben.

Vor allem für Marxist*innen ist Lohnarbeit, der erzwungene Verkauf der eigenen Arbeitskraft, ein Grundübel. Das gilt im Allgemeinen – die Trennung von denen die arbeiten und dem Produkt ihrer Arbeit macht bekanntlich den Kapitalismus ziemlich grundlegend aus – und auch im Konkreten, am Arbeitsplatz oder in der digitalen Warteschlange vorm eAMS.

Die Lohnarbeit ist eine politisch-ökonomische Struktur, das Wesen der Produktionsweise Kapitalismus, das grundlegende Produktionsverhältnis. Die marxistische Kritik der Lohnarbeit ist mehr als Unmut darüber, dass die Lohnarbeit das System am Laufen hält. Auch der individuelle Bann, in den der Lohn die einzelne Arbeiterin zieht, war schon früh Gegenstand der Kritik. Das beginnt mit Marx’ Kritik an der Entfremdung von der Arbeit und am Warenfetisch als grundlegendes Moment der Arbeitsteilung und geht bis zu den materiellen und psychischen Folgeerscheinungen für Engels’ »arbeitende Klasse in England«.

Alternativen müssen her, mindestens für die Zeit nach der revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Aber auch im Hier und Jetzt wäre es schön, sinnvoll, fast not wendig, sich vorstellen zu können, wie Arbeit ohne Arbeitszwang ausschaut. Damit der Kommunismus nicht Utopie, sondern wissenschaftlich zumindest denkmöglich ist.

Der sowjetische Ökonom Isaak Iljitsch Rubin schreibt, dass Marx’ Ökonomie vor allem die Frage nach der Arbeitsteilung im Kapitalismus ins Zentrum gestellt hat. Seine Kritik der Lohnarbeit soll vor allem Arbeitsmarkt und Konsumfreiheit entzaubern. Im gleichen Sinne braucht eine sozialistische Ökonomie ein alternatives Konzept zur Arbeitsteilung und -organisation.

Die politische Arbeit erscheint als mögliches Alternativkonzept. Gerade für Aktivist*innen ist sie ein naheliegender Ausgangspunkt. Wir verbringen im Schnitt viel Zeit damit, die meisten, ohne entlohnt zu werden. In der Geschichte sind Revolutionär*innen an die politische Arbeit oft disziplinierter herangegangen als an ihren Broterwerb.

Die Arbeit für linke Klein- und Kleinstparteien ist natürlich kein ausschöpfendes Alternativkonzept für die freie und gleiche Organisation der globalen Wirtschaft. Aber in den Mechanismen von kollektiver Entscheidung und Anerkennung, gemeinsamer Einsicht in das Notwendige und, wenn alles sehr gut läuft, Schimmer von Selbstwirksamkeit im Produkt der eigenen Arbeit, können wir durchaus Ansatzpunkte für Arbeitsprozesse nach der Lohnarbeit finden.

Unbezahlte Arbeit

Die österreichische soziale Marktwirtschaft kennt viel unbezahlte Arbeit. Ohne Lohn ist das erstmal keine Lohnarbeit. Viel Arbeit, bei der keine Euros die Besitzerin wechseln ist trotzdem fest ins System der Lohnarbeit eingebettet. Die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit, die vor allem FLINTA* Personen in Beziehungen und Familien übernehmen, stützt nicht nur die Lohnarbeit anderer Familienmitglieder. Die eigene finanzielle Abhängigkeit ist auch eine gegenüber jemandem, der selbst lohnarbeitet. Meistens jedenfalls.

Der Großteil der unbezahlten Arbeit ist auch in nicht-finanzielle, aber reaktionäre Strukturen eingebunden, die materielle Abhängigkeit im Familienverbund, oder hierarchische Kommandostrukturen bei freiwilliger Feuerwehr und Rettungsdiensten.

Ansatzpunkte für echt alternative Arbeitsorganisation finden wir aber an den Rändern von Ehrenamt und Sorgearbeit, bei selbstorganisierter Nachbar*innenhilfe, lokalen Initiativen und, teilweise, in der politischen Arbeit.

Lohnarbeit

Lohnarbeit hat einen einfachen, messbaren, universell vergleichbaren Motivator, den Lohn. Der ist notwendig, damit wir weiterleben können, und entschädigt für die Zumutung zu arbeiten aber über das Produkt unserer Arbeit keine Kontrolle zu haben. Die bürgerliche Ökonomie hat sich dafür den Begriff des Arbeitsleids ausgedacht, mit dem viele von uns intuitiv etwas anfangen können. Dieses Arbeitsleid wird mit Geld entschädigt.

Auch bei Adam Smith findet sich dieser Gedanke. Als er Lohnungleichheiten erklären möchte, meint er, die unpopulärsten, anstrengendsten oder moralisch abstoßenden Berufe würden als Ausgleich mehr Geld bekommen. In der Welt der Daten und Fakten gibt es dafür übrigens keinen Hinweis, tatsächlich sind die am besten bezahlten Jobs auch am angenehmsten, am wenigsten anstrengend und mit den meisten betrieblichen Angeboten zur Stressbewältigung und Hinterfragen des eigenen Tuns.

Die einfache Messbarkeit und konkrete Nützlichkeit des Lohns ist ein Hundling. Die scheinbare Freiheit der Lohnarbeit (verglichen mit Sklaverei und Leibeigenschaft) ist das Ergebnis von Klassenkämpfen, aber auch eine Brutalität gegen den Freiheitsdrang der Arbeiter*in:

»Es kostet Jahrhunderte, bis der ›freie‹ Arbeiter infolge entwickelter kapitalistischer Produktionsweise sich freiwillig dazu versteht, d. h. gesellschaftlich gezwungen ist, für den Preis seiner gewohnheitsmäßigen Lebensmittel seine ganze aktive Lebenszeit, ja seine Arbeitsfähigkeit selbst, seine Erstgeburt für ein Gericht Linsen zu verkaufen.«

So zitiert Christian Frings in der PROKLA 196 aus dem ersten Band Kapital.

Gesellschaftlich ist Lohnarbeit Voraussetzung für Kapitalakkumulation und Kapitalherrschaft. Sie ist – »negativ definiert« – Lohnarbeiter*in ist, wer kein Kapital besitzt und sich deshalb ihr*sein Einkommen anders beschaffen muss. Das Kapital ist also gleichzeitig Voraussetzung für die Lohnarbeit, und die Abschaffung des (privat besessenen) Kapitals Voraussetzung für die Abschaffung der Lohnarbeit.

Isaak Iljitsch Rubin (der 1937 als angeblicher Trotzkist verhaftet und ermordet wurde) geht soweit, zu argumentieren, dass die Trennung des Arbeitsprodukts von dem*der Arbeiter*in zur Entfremdung von der Arbeit selbst führt. Das macht erst den freien Verkauf der Ware Arbeitskraft möglich. Nur wenn Arbeiter*innen bereit sind, ihre Arbeitskraft dem meistbietenden Kapital anzubieten, weil der Inhalt des Arbeitstages mehr oder weniger wurscht ist, wird die Arbeitsteilung möglich, die für eine schnelle Kapitalakkumulation notwendig ist.

Politische Arbeit

Lohnarbeit ist ein ehrliches Geschäft. Wir erscheinen in der Früh und gehen erst, wenn wir dürfen, weil am Ende vom Monat Geld am Konto landet. Geld, dass wir für Waren und Dienstleistungen eintauschen können, Waren und Dienstleistungen, die wir anders nicht bekommen. Die Summe am Lohnzettel wird zur Maßzahl des eigenen Werts, motiviert hinzugehen, wenn es uns nicht freut, ein scheinbarer Beweis für das Funktionieren des warenförmigen Arbeitsmarktes.

Die politische Arbeit in der nicht-staatstragenden Linken ist anders motiviert, die meisten Aktivist*innen werden für ihre Arbeit nicht bezahlt. An der Oberfläche geht es um politische Ziele, wenn wir Infotische aufbauen und Artikel schreiben. Aber darunter, in der politischen Organisation, findet ebenfalls Arbeitsteilung statt, werden Aufgaben erfüllt, die keinen Spaß machen.

Entfremdung findet idealerweise in der politischen Arbeit keine statt. Die politische Aktivistin bestimmt, was sie produziert (auch wenn darüber kollektiv bestimmt wird), kann die Ergebnisse sehen, reflektieren, verwenden. Die oberflächliche Psychologie der Selbstwirksamkeit kann trotzdem nicht als alternativer Motivator für die Arbeit herhalten. Die meisten politischen Aktivitäten bringen weder schnellen noch nachhaltigen Erfolg. Dennoch bleiben Genoss*innen über Jahre und Jahrzehnte diszipliniert dabei.

Dazu kommt der scheinbare Widerspruch, dass erfolgreiche politische Organisierung oft auf entlohnte Arbeit zurückgreift. Ein kleiner Parteiapparat hat eine Tradition bei linken Parteien bis runter zur Kleingruppe.

Darüber hinaus orientieren sich viele Organisationen an der Idee des*der Berufsrevolutionär*in, die leninistischen offen und die nicht-leninistischen ein bisschen verhohlener. Damit ist kein bezahlter Aktivismus gemeint, sondern Aktivität, die über Freizeit und unmittelbares Selber-Wollen hinausgeht. Die Genoss*innen von der deutschen Gruppe Arbeiter*innenmacht drücken das in ihren »Thesen zu den frühen Stadien des Parteiaufbaus« so aus: »Lenin besteht darauf, dass die Partei zur Hauptsache aus Personen bestehen soll, die in revolutionären Aktivitäten berufsmäßig engagiert sind. Dies bedeutet nicht nur Vollzeit-Funktionäre im engen Sinn, Studenten und Beschäf-tigungslose, also jene, die ihre meiste Zeit der politischen Arbeit widmen können. Lenin macht klar, dass auch Vollzeit-Arbeiter mit eingeschlossen sind. Aber es schließt diejenigen aus, die nur ihre ›Freizeit‹ für Politik verwenden wollen. Sobald es die personellen und materiellen Möglichkeiten gestatten, sollte selbst die kleinste revolutionäre Gruppe einen kleinen Apparat mit haupt amtlichen Revolutionären einrichten.«

Das ist wieder keine Dialektik. Man kann Volksstimme-Texte auf einem kapitalistisch produzierten Laptop tippen, und man kann gleichzeitig ohne Aussicht auf Entlohnung Berufsrevolutionär*in zur Abschaffung der Lohnarbeit sein, aber als Partei Menschen anstellen.

Lohnarbeit ohne Kapital

Die politische Arbeit, die im Kollektiv entscheidet, wer was tut, und wo Anerkennung aus der gemeinsamen Debatte kommt, ist ein Ansatzpunkt der Arbeitsorganisation nach dem Kapitalismus. Wenn nicht Chefs und Manager*innen sondern Kolleg*innen bestimmen, gibt es keine ökonomische Grundlage für die Entfremdung.

Die Erfahrungen aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks lehren uns aber, dass auch ohne privates Kapital die Arbeitsorganisation des Kapitalismus simuliert werden kann. Lohnabhängigkeit und Quasi-Kommandostrukturen im Betrieb können auch von einer bürokratischen Kaste durchgesetzt werden.

Die Demokratisierung der Wirtschaft, also die konkrete Arbeiter*innenmacht, und die bewusste politische Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse ist ebenso notwendig wie die Entmachtung der Kapitalist*innen, damit die Abschaffung der Lohnarbeit auch bei den Lohnarbeiter*innen ankommt. Dazu gehört neben der Demokratisierung von Betrieb und Konsum auch die Aufhebung der Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit.

Die Rolle der politischen Arbeit heute ist in erster Linie, das vorzubereiten und zu erkämpfen. Aber aus der Rolle von kollektiver Debatte, zwangloser Disziplin und inhaltlicher Überzeugung für konkrete Tätigkeiten können wir einiges über die Arbeitsorganisation nach der Abschaffung der Lohnarbeit mitnehmen.

Mo Sedlak ist Aktivist im Koordinationsteam von LINKS und beim trotzkistischen Arbeiter*innenstandpunkt. In der Volksstimme 7–8 (2022) veröffentlichte der Autor: Inflation ist menschengemacht, Klassenkampf hilft.

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LGBTIQ+ Personen gehen oft Teilzeitarbeit nach. Die Gründe dafür sind vielfältig und selten nur selbstbestimmt. Von Zoe* Steinsberger

Mitte Feber musste Arbeitsminister Kocher hastig zurückrudern. Natürlich würden seine Vorschläge, die Sozial- und Familienleistungen für Personen in Teilzeitarbeit zu reduzieren, nicht auf Mütter mit Betreuungspflichten zielen, bemühte er sich zu betonen. Denn umgehend wurden Kochers Vorschläge als frauen- bzw. familienfeindlich kritisiert. Die Maßnahmen des Ministers würden dazu führen, dass sich die soziale Lage von Frauen weiter verschlechtert.

Doch bei all dem lauten und wichtigen Widerspruch ist auffällig, wie fast alle sozialpolitischen Akteur*innen in ihrer Kritik einer Perspektive folgen, die inter- und transgeschlechtliche Lebensrealitäten ebenso ignoriert, wie nicht hetero sexuell oder kleinfamiliär lebende Menschen. Eine solche Perspektive ist hetero-cis (also nicht trans*) und endo (also nicht inter*)-normativ. Denn während die Figur der implizit heterosexuell und cis-endogeschlechtlich gedachten Mutter im Zentrum der Kritik an den Bestrebungen Kochers stand, wurden LGBTIQ+ Personen übersehen.

Dabei weisen zahlreiche Erhebungen aus dem österreichischen und deutschen Raum darauf hin, dass LGBTIQ+ Personen deutlich seltener als hetero-cis-endo Personen vollzeiterwerbstätig sind. Eine Studie der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass nur 60 Prozent der LGBTIQ+ Personen Vollzeitarbeit nachgehen. Eine Studie für den Deutschen Bundestag 2010 ermittelte, dass trans* Frauen und transfeminine Personen im EU Schnitt nur zu rund dreißig Prozent und damit deutlich weniger als cis Frauen Vollzeit lohnarbeiten.

Frei von Lohnarbeit

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen werden LGBTIQ+ Personen noch immer in der Lohnarbeit diskriminiert. In Branchen, in denen es wenige Vollzeitstellen gibt, erhalten sie diese nur selten. Zugleich finden sich LGBTIQ+ Personen überproportional häufig in Feldern, in denen Vollzeitstellen selten sind oder (schein-)selbstständige Arbeit die Regel ist, wie etwa Unterhaltung, Gastronomie, der Sozialbereich, Wissenschaft oder Kreativberufe. LGBTIQ+ Personen finden sich hier häufig, weil diese Branchen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität als eher offen und tolerant gelten.

Anders am Arbeitsplatz

Viele LGBTIQ+ Personen entscheiden sich angesichts von Diskriminierung in der Lohnarbeit auch selbst dafür, nicht Vollzeit lohnzuarbeiten. Außerdem geht für sie das Versprechen sozialer Teilhabe über Lohnarbeit häufig nicht auf. Die Entscheidung, in Teilzeit lohnzuarbeiten, ist dann sowohl der Versuch, sich einem diskriminierenden Umfeld zu entziehen und andererseits Zeit im Leben für Beziehungen zu schaffen, in denen sie Anerkennung erfahren. Denn während heteronormativ lebende Personen sich sicher sein können, in der Lohnarbeit von PartnerInnen und Kindern erzählen zu können und dafür anerkannt zu werden, ist dies für LGBTIQ+ Personen nicht der Fall. Privates mit Kolleg*innen zu teilen ist für sie stets mit der Gefahr von Diskriminierung oder zumindest Unverständnis für die eigene Lebenswelt verbunden.

Frei zur Pflege

Schließlich haben LGBTIQ+ Personen nicht nur wie cis-endo heterosexuelle Frauen ebenso elterliche Verpflichtungen oder kümmern sich um ältere Verwandte. Die fortdauernde gesellschaftliche Diskriminierung für LGBTIQ+ macht darüber hinaus ein Mehr an Selbstsorge und an fürsorglichen Beziehungen zwischen LGBTIQ+ Personen nötig. Diese können in Form von Partner*innenschaften organisiert sein, aber auch als WGs, intensive Freund*innenschaften und selbstorganisierten Gruppen. Gerade weil sie dabei den Entwurf eines kleinfamiliären Haushalts überschreiten und oft ohne gesellschaftlich etablierte Vorbilder entwickelt werden, benötigen sie Zeit, die eine Vollzeitbeschäftigung kaum erlaubt.

So bleibt Kochers Rede in neoliberaler Manier ignorant für die gesellschaftlichen, geschlechtlichen und sexuellen Herrschaftsverhältnisse, welche verunmöglichen, Vollzeitlohnarbeit nachzugehen. Es sind nicht nur die als hetero, cis und endo gedachten Mütter, die massiv von Kochers Ansinnen betroffen wären. Ebenso greifen Kochers Pläne auch LGBTIQ+ Personen an, weil deren Leben zwischen offener Feindlichkeit und subtiler aber doch struktureller Cis-Endo-Heteronormativät nicht in das Modell Voll-zeitlohnarbeit passen.

Zoe* Steinsberger (sie*/ihre*) ist transfeministische Aktivistin* und Wissenschaftlerin* und promoviert an der Universität Innsbruck zur Prekarisierung transfemininen Lebens und Formen des Widerstands und Umgangs damit.

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