Der General Intellect erscheint im Lesekreis Martin Birkner moritz320, pixabay

Der General Intellect erscheint im Lesekreis

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In Lesekreisen versammeln sich Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen, Vorkenntnissen und Sozialisierungen, um gemeinsam Texte zu lesen und zu diskutieren. Das ist manchmal zwar ganz schön anstrengend, bringt aber meistens einen deutlichen »Mehrwert« gegenüber der vereinzelten Lektüre im stillen Kämmerlein.

Im Zeitalter allgegenwärtiger Digitalisierung über »richtige« Bücher zu sprechen, erscheint fortschrittsoptimistischen Linken möglicherweise als romantisch, also verzichtbar. Und dann erst »Lesekreis« – alleine schon das Wort riecht nach dem Muff männlich dominierter Post-68er-Mühseligkeiten. »Wir studiern, wir studiern, es vertrocknet unser Hirn«, sang die frühe EAV, damals noch so etwas wie die Band des Grazer KSV, in schlechtester intellektuellen ­feindlicher Manier. Warum also 2022 über Lesekreise schreiben?

Der folgende Text von Martin Birkner versucht eine Antwort in fünf Thesen, gefolgt von einer kleinen Handreichung für die Praxis.

Lesekreis macht sichtbar

Durch die multiperspektivische Sicht auf den Text – es gibt kaum zwei identi­sche Lektüren bzw. Interpretationen – ent­stehen diskursive Räume. Die Bereitschaft zum produktiven Austausch vorausgesetzt entstehen in diesen Räumen Sichtweisen auf Aspekte des Texts, die vorher für die Teilnehmer:innen nicht erkennbar waren. Damit verbundene Diskussionen gehen frei­lich nicht immer reibungslos vor sich, manchmal wird auch gestritten, mitunter kommt man auch nach längerer Diskussion auf keinen »grünen Zweig«. Aber selbst – oder vielleicht gerade – in diesen Momen­ten zeigt sich, dass es keinen sich selbster­klärenden Text gibt, dass es um seine Inter­pretation geht. Und kollektive Interpreta­tion ist komplexer, multidimensionaler und erkenntnisreicher. Mit Marx gesprochen könnte man sagen, der »General Intellect«, also das implizite Wissen der »gesellschaft­lichen Gesamtarbeiterin« erscheint im Rah­men kollektiver intellektueller Anstren­gung.

Lesekreis macht dicke Bücher bewältigbar

Im Groben gibt es zwei Arten von Lesekrei­sen: Entweder man liest mehrere eher kür­zere Texte zu einem bestimmten Themen­komplex, oder aber es geht um die gemein­same Lektüre komplexer, meist umfangrei­cher Bücher. Letzteres kann dabei helfen, Bücher durchzuackern, die man alleine sonst nicht lesen würde. Gerade bei viel­schichtigen Argumentationssträngen ver­liert der bzw. die Einzelne oft das große Ganze aus den Augen, viele Augen können hier jedoch Abhilfe schaffen. Wichtig erscheint mir dabei eine gute Dokumenta­tion des Diskussions- und Leseprozesses, damit auch Teilnehmer:innen, die einmal nicht anwesend waren, gut wieder einstei­gen können. Dabei entstehende Protokolle sind auch für andere Leser:innen desselben Textes, die nicht beim Lesekreis dabei waren, eine große Hilfe.

Lesekreis macht Haltung

Die kollektive Interpretation verändert die Welt. Dies mag der elften Marxschen Feuer­bachthese widersprechen, dies ist jedoch ein notwendiger Widerspruch. Politische und soziale Praxen sind nie völlig abge­trennt von der Interpretation der Welt zu betrachten, letztere sind vielmehr sowohl Teil als auch Voraussetzung eines politisch nicht im luftleeren Raum agierenden politi­schen Handelns. Es macht natürlich einen Unterschied, ob eher abstrakt-theoretische oder konkret politische Texte gelesen wer­den, aber dieser Unterschied tritt zumal bei linken Lesekreisen für gewöhnlich immer hinter die Verknüpfung von Erkenntnis und Interesse zurück. Wir lesen ja gemein­sam Texte, um – wie vermittelt auch immer – eine den realen Gegebenheiten adäqua­tere politische und soziale Praxis entwi­ckeln zu können. Und so kann auch die gewonnene Erkenntnis, dass es eben »nicht so geht«, wie es der gelesene Text nahelegt, eine wichtige Erkenntnis darstellen.

Lesekreis macht sozial

Manchmal bilden sich Untergruppen, die gemeinsam geteilte Sichtweisen gegenüber anderen vertreten, manchmal gibt es so viele Perspektiven und Meinungen wie Teilnehmer:innen, manchmal sind auch alle einer Meinung. Diese kann sich auf positive, aber auch in negativer Weise auf das Gelesene beziehen. Manche Lesekreise scheitern konstruktiv, da alle oder fast alle Teilnehmenden zur Überzeugung gelangen, dass es nicht wert ist, den Text weiter zu verfolgen – oder aber, dass die Differenzen in Interpretation und Diskussion zu groß sind, um noch konstruktiv weiterzulesen. Es gibt aber auch – und zum Glück auch mehrheitlich – positiv sozialisierende Momente. Man trifft sich über größere Zeiträume hinweg, lernt sich besser ken­nen: So mancher politische Zusammenhang hat sich ganz oder teilweise aus Lesekreisen heraus entwickelt, weil die Teilnehmer: innen Vertrauen zueinander gefasst haben, sich ihre Kompetenzen und Affekte gut ergänzten.

Lesekreis macht Spass

Last but not least macht ein guter Lesekreis Freude, Freude auf das Wiedersehen mit den Mit-Lesenden, Freude auf gute Inputs und spannende Diskussionen, Freude auf ein Bierchen danach, Freude auf das gemeinsame Planen des nächsten zu lesen­den Buches, Freude an der Tatsache, dass männliche Dominanzen – und ja, diese gibt es auch und vielleicht gerade in Lesekrei­sen – ein Stückchen zurückgedrängt wer­den konnten, Freude, sich zum Beispiel das Marxsche Kapital in seinen unzähligen Dimensionen, Schichten und Geschichten gemeinsam erschlossen zu haben. In die­sem Sinne: Schafft 2, 3, viele Lesekreise!

Dos und Don’ts

Der richtige Text

Er kann ruhig schwierig und komplex sein, aber er soll Räume für Befragungen öffnen, »gut diskutierbar sein«. Es gibt Texte, die in ihrer Hermetik nur wenig Spielräume für konstruktive Diskussionen öffnen. Manch­mal sind es gar nicht die argumentativ »besten« Texte, die auch am besten zu lesen und zu diskutieren sind.

Die richtige Größe

Sehr kleine Lesekreise können zwar unge­mein produktiv sein, oft aber schon beim Ausfall weniger Teilnehmer:innen zusam­menbrechen; sehr große Lesekreise beför­dern wiederum Hierarchisierungen in den Diskussionen (ev. Moderation andenken!), sie erschweren es tendenziell auch zurückhaltenden Teilnehmer:innen mit­zudiskutieren. Eine gute Größe ist in etwa 7, 8 Personen. Auch bei den Textabschnit­ten auf die richtige Größe und Zeitbe­schränkungen achten – erfahrungsgemäß nimmt man sich eher zu viel vor.

Angenehme Atmosphäre

Eine ruhige Umgebung, ansprechendes Ambiente, kulinarische Genüsse, ev. Pau­sen einplanen und genügend Zeit für soziale Interaktionen lassen. Dazu gehört auch die gegenseitige Rücksichtnahme, indem z.B. lange Monologe vermieden werden. Produktiv ist Runden einzu­bauen, bei denen alle zu Wort kommen.

Gute Vorbereitung

Eine gute Debatte braucht gute Vorberei­tung. Möglichst alle sollen die jeweiligen Textstellen gelesen haben, ein konziser, auch auf Leerstellen und Widersprüche hinweisender Input zu Beginn ist hilf­reich.

Dokumentation

Sie hilft nicht nur jenen, die einmal feh­len, sondern auch beim abschließenden Fazit. Bei längeren Texten sind ansonsten frühere Leseeinheiten gerne schon in Ver­gessenheit geraten.

Aufhören können

Ein Lesekreis, der zur Pflichtübung ver­kommt, ist ein schlechter Lesekreis. Dann lieber einen Spritzer trinken und plau­dern. Vielleicht taucht dabei ja ein neues Buch am Horizont auf.

Martin Birkner arbeitet im Mandelbaum Verlag. Er liest andauernd, seit über 20 Jahren gerne auch in Lesekreisen. Er ist noch unsicher, ob er Graeber/Wengrows Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit oder Jane Bennetts Lebhafte Mate­rie. Eine politische Ökonomie der Dinge als nächs­tes vorschlagen soll. Sein Lieblingslesekreis war jener zu Paolo Virnos Grammatik der Multitude im Rahmen der Zeitschrift Grundrisse im Jahr 2005.

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Gelesen 1884 mal Letzte Änderung am Freitag, 15 Juli 2022 08:53
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