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Bärbel Danneberg über den Bus nach Bingöl von Richard Schuberth

 

»Die Geradlinigkeit erprobt sich erst in der Beweglichkeit und der gerade Weg führt zu keiner Erfahrung.«

Ahmet Arslan: Sozialarbeiter, türkischer Kurde, kurdischer Linker, Bauernsohn, Intellektueller an Wiener Instituten, jugendlich-politischer Widerstandskämpfer, alternder Heimatsuchender, Immigrant, Träumer und Realist, ein Zerrissener in den Gefühlswelten des Seins. Die Hauptfigur im Roman von Richard Schuberth macht sich im Bus nach Bingöl auf den Weg in seine Heimat, dem kleinen Dorf Holike in der kurdischen Provinz Dersim. Jahrelang saß er in Wien als Dozent »auf Podien, auf die uns wohlmeinende Österreicher einluden, welche unsere unausgesprochenen Konflikte nicht kannten«. In den Augen der Wiener Liboşlar aus der Türkei war er das »unkorrumpierbare Ausrufezeichen vor ihrer Anpassung«. Noch immer hielten sie es mit den Kemalisten. »Es waren dieselben Leute, welche, um von den Grünen und den Multikultifeministinnen gemocht zu werden, jede Kopftuchträgerin mit liberalen Theorien verteidigten, aber beim Istanbultrip mit größter Verächtlichkeit über sie spotteten.« Diese Gedanken gehen Ahmet Arslan durch den Kopf, als er im Bus nach Bingöl sitzt und die Mitreisenden betrachtet, diese eigenartige Menschenmischung, die ein Spiegel der Gesellschaft ist.

Schon am Flughafen in Istanbul wird unser Blick auf die Widersprüche dieses Landes und seine Menschen gelenkt. Der Airport wurde nach der Ziehtochter Kemal Atatürks, Sabiha Gökçen, benannt. Der »Leitstern weiblicher Emanzipation« war die erste Frau in der Türkei, die ein Flugzeug flog, die zur Kampfpilotin ausgebildet wurde und die aus der Luft Kurd*innen tötete: sie flog erste Einsätze während der Dersim-Massaker 1937 und ‘38 gegen kurdische Dörfer. Erst 2004 gelang dem Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Hrant Dink der Nachweis, dass Sabiha Gökçen aus einer armenischen Familie stammte, die den Massakern von 1915 zum Opfer gefallen war. Als Ahmet Arslan im April 2008 die Kontrollen dieses Flughafens passiert, überkommt ihn nach 28 Jahren Abwesenheit aus der Heimat eine alte Angst: »Durfte er dieser alerten, gut gelaunten ServiceTürkei trauen?« Im Bus nach Bingöl begegnen wir ähnlich widersprüchlichen Gestalten und sehen uns mit unseren schnellen Vorurteilen gegenüber ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Lebenswelt konfrontiert: der deutsche Schriftsteller reist, um sein Leben zu beenden; das ängstliche Mädchen reist, um von den Strapazen einer illegalen Abtreibung zurück in ihr Dorf zu kommen; die auffallend selbstbewusste Kemalistin reist, um ihren reichen Papa zu besuchen; die kopftuchbedeckte Aktivistin der AKP-Frauenorganisation mit Drogenvergangenheit reist, um andere Frauen mit ihrem neureligiösen, regierungstreuen Glauben moralisch zu erpressen; der Rekrut reist, um sein Land vor Terror zu schützen; die tote Frau im Sarg des Kofferraums reist, um beerdigt zu werden.

In seinem Dorf angekommen, wird Ahmet Arslan von ebendiesen Widersprüchen eingeholt: der »Peinlichkeit des neuen türkischen Mittelstandes der Ära Erdogan«, der religiösen Macht von Traditionen, den Sehnsüchten in den Mythen und Liedern, der Ungeduld eines Aufbruchs in eine neue Zeit und der Behäbigkeit des Stillstands. Wann er Kurde wurde, wird er irgendwann gefragt. »Im Gefängnis von Elazig haben sie mich als Kurden geschlagen. Seitdem bin ich einer.« Richard Schuberth nimmt die Lesenden mit auf eine spannende Reise zwischen den Kulturen und politischen Positionen.

Richard Schuberth: Bus nach Bingöl, Roman. Drava 2020

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Ein pädagogisches Antitoxin von Florian Haderer

 

Zentrale Impulse und Ansätze der Entwicklung von kritischer Bubenarbeit, Männer*forschung und Männlichkeitstheorie sind aus feministischen und queeren Bewegungen und Forschungstraditionen entstanden. In ihren Zielen wünscht gendersensible Bubenarbeit nichts weniger als in ihrer Männlichkeit reflektierte und empathische junge Männer* und ein (geschlechter-)solidarisches Leben für alle.

Einen Erfolg feministischer Kämpfe seit der Moderne markiert, dass die Kategorie Geschlecht in der Reflexion und Analyse gesellschaftlicher und kultureller Praxen etabliert ist. Es sind Frauen*, Lesben und Schwule, People of Color und andere, die sich mit ihren Bewegungen Räume erkämpfen und schaffen, aus denen heraus sie in aktivistischen Bündnissen nicht nur fundamentale Gesellschaftskritik formulieren, sondern auch widerständige Strategien entwickeln und umsetzen. Mit dem Begriff des Patriarchats etabliert die Frauen*bewegung einen performativen Kampfbegriff feministischer Kritik, der ab Mitte des 20. Jahrhunderts Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse auffasst und einen Zustand der Ungerechtigkeit beschreibt, den es zu überwinden gilt. Sehr stark zeigt die feministische Selbstreflexion die historisch gewachsene Verschränkung von patriarchalen Strukturen mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sowie die die Geschlechterverhältnisse fortschreibende hegemoniale Rolle des Staates auf. Die Wahrnehmung des systemischen und systematischen Charakters von geschlechtsbasierter Diskriminierung und Unterdrückung wird mit Aufkommen der Gender- und Queer-Studies von Frauen auf FLINT* (Frauen*, Lesben, Intersex-, Nonbinary- und Transpersonen) ausdifferenziert, die Kritik am Patriarchat um die Kritik an der Heteronormativität sozialer Ausverhandlungsprozesse verschärft. Auch die Geschlechtsidentität von Männern wird mit dem Begriff des Cis-Mannes begrifflich neu gefasst und damit für andere Identifikationen (z.B. für Transmänner) geöffnet. Allen Anstrengungen gemeinsam ist das Bedürfnis, stärkere und solidarischere Akteur*innen im Kampf gegen Diskriminierungsmechanismen sein zu können. Diese Mechanismen zeigen sich in kulturellen und juristischen Beschränkungen für FLINT*, welche sich durch die Interdependenz mit rassistischer und klassistischer Unterdrückung maßgeblich auf die soziale Welt und die gedankliche und materielle Unabhängigkeit von FLINT* auswirken.

Gendersensible Bubenarbeit wäre ohne diese Vorarbeit nicht denkbar und entwickelte sich als Alternative zur schon etablierten Mädchenarbeit. Eine gendersensible Förderung von Jungen steht dabei, wie manchmal moniert, nicht im Widerspruch zu einer Förderung von anderen Geschlechtern, zu Feminismus oder Frauenbewegung. Allen diesen Traditionen ist gemeinsam, dass sie auf geschlechtliche und sexuelle Gleichberechtigung und gesellschaftliche Gerechtigkeit abzielen.

Wenn die Annahme stimmt, dass patriarchale und heteronormative Strukturen vor allem auch von Cis-Männern und ihren Männlichkeitsbildern perpetuiert werden, dann kann es doch nur hilfreich sein, die Burschen und jungen Männer* in ihrer Selbstreflexion und Identitätsfindung zu unterstützen. In den neueren Diskursen ist der Begriff der »toxischen Männlichkeit« Mode geworden und beschreibt Handlungen von Männern, die sich an stereotypen Normen orientieren, die sie dazu veranlassen, sich selbst und anderen zu schaden. Also so in etwa das Gegenteil eines sich um sich und das Wohlbefinden seines Umfelds kümmernde Person. Diese Männlichkeit ist giftig und nährt sich aus idealtypischen Männlichkeitsbildern. Ein Gegengift sieht die kritische Bubenarbeit in der Arbeit an alternativen, identitätsstiftenden Bilder, in die Burschen sich einpassen, wenn sie von anderen als Männer betrachtet werden bzw. werden wollen. Es geht um Anforderungen, um als »richtiger« Mann akzeptiert zu werden und diese Anforderungen werden von der Gesellschaft, der Familie, der Erwachsenenwelt, den peer groups, politischen und religiösen Institutionen und/oder popkulturellen Vorbildern in Musik und Sport formuliert. In der Arbeit mit den Buben und jungen Männern heißt das, nachzufragen, was sie von sich fordern, was oder wem sie nacheifern, wem sie gehorchen (müssen), wen oder was sie als stark empfinden, welche Wünsche sie in sich tragen, was sie wütend macht und wie sie mit ihrer Wut umzugehen gelernt haben, wo und bei wem sie sich verstanden fühlen – und es birgt den Versuch, ihnen alternative Identifikationsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Dafür muss aber erst ein Zugang zu den Buben gefunden werden, um direkt mit den Buben zu arbeiten, sie wahrzunehmen und ihnen zuzuhören. »Wir fragen viel und geben keine Antworten«, sagt Phillipp Leeb, der Gründer und Obmann des Wiener Vereins Poika (Verein zur Förderung gendersensibler Bubenarbeit in Unterricht und Erziehung) im Interview mit dem Augustin vom 17. November 2020. »Das sind sie nicht gewohnt, sie bekommen immer Antworten von Lehrern, Eltern, vom Internet. Wer hört den Jugendlichen aber wirklich zu?« Wer interessiert ist an dem, was Jugendliche denken, müsse sie fragen, was sie denken. Und das geht, indem man ihnen Räume anbietet, sich mit sich selbst, ihren Männlichkeitsbildern und den Vorstellungen von ihnen selbst auseinanderzusetzen. »Während feministische Mädchenarbeit schon lange safe spaces schafft, um darin über Problematiken oder schwierig besetzte Themen zu sprechen, haben Schulen und Jugendzentren die Burschen während dieser Zeit einfach auf den Fußballplatz geschickt«, stellt Rick Reuther, der auch bei Poika mit Burschen und jungen Männern arbeitet, in einem Interview in der April-2019-Ausgabe vom feministischen Magazin an.schläge fest.

Männlichkeitskonstruktionen bzw. männliche Identitäten verknüpfen sich häufig eng mit Erwerbsorientierung. Burschen binden Familienplanung oft an ihre Fähigkeit, eine Familie alleine finanzieren zu können, manche wenden sich von der Schule ab, weil sie davon ausgehen, dass sie ohnehin arbeitslos werden und sich daher Schule nicht lohnt. Die Buben dazu zu bringen, sich konstruktiv mit ihrer Berufs- und Lebensplanung zu beschäftigen, kann einen wichtiger Schub bringen, durch den Burschen eine Vorstellung von sich kreieren, an die sie auch glauben können und die nicht mit Verantwortung überfrachtet ist. Buben können dem Männlichkeitsversprechen des Versorgers zumeist genauso viel abgewinnen wie dem Versprechen von Souveränität und Überlegenheit. »Gekränkte Männlichkeit, jugendliche Enttäuschung trifft auf politische Extremisten, auf jemanden, der sagt, ich verstehe dich, räche dich an der Gesellschaft, schlag zu«, erläutert Philipp Leeb. In diesem Zusammenhang bietet genderkritische Bubenarbeit frühe Arbeit zur Rechtsextremismus- und Radikalisierungsprävention.

Gendersensible Bubenarbeit hat jedoch immer auch die Frage im Auge, wie geschlechterreflektiert gearbeitet werden kann, ohne Geschlechterstereotype zu verstärken. Die Buben gibt es nicht. Bubenrealitäten unterscheiden sich nach gesellschaftlichen Ungleichheitslinien wie Rassismus, sozio-ökonomischen Klassen bzw. Milieus, sexueller Orientierung etc. Eine Auseinandersetzung mit den Überschneidungen zwischen Geschlecht und anderen Linien der Ungleichheit ist mithin notwendig, um Geschlechterstereotype über Jungen nicht noch zu verschärfen, um Motivationen und Anlässe für Jungen zu unterschiedlichen Formen dominanten Verhaltens zu verstehen, um Geschlecht nicht gegen andere Unterscheidungslinien auszuspielen, kurz: um eine subjektorientierte und adressatengerechte Pädagogik zu machen.

Florian Haderer lebt nach einigen Jahren als Lehrer in Sarajewo und Halle wieder in Wien und unterrichtet an einer MS. Dazwischen schreibt er Prosa und Theaterstücke. Der Text folgt in weiten Teilen den Ausführungen in: *Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung. Herausgeber_ innen: Dissens e.V. & Katharina Debus, Bernard Könnecke, Klaus Schwerma, Olaf Stuve. 2012 Dissens e.V., Berlin

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Die Musiker*in und Aktivist*in Dafina Sylejmani in einem Interview mit Heide Hammer über Musik, Liebe, Politik und vieles dazwischen.

Du bist unter verschiedenen Namen bekannt: Duffy, Dacid Go8lin oder Femme DMC. Könntest du deine verschiedenen Identitäten kurz beschreiben? Was machst du unter welchem Label?

DAFINA SYLEJMANI: Duffy koordiniert alles. Dacid Go8lin rappt und macht Musik. Go8lins ist alles, es gibt kein Genre. Ich möchte eine Sinfonie schreiben können, Leute produzieren, alles machen. Ich hatte nie Musikunterricht. Früher fand ich das bedauerlich, jetzt aber weiß ich, dass ich so viel freier bin. So bricht man eher Normen. Meine Songs, meine Beats hören sich sehr trippy an, sie sind eine Mischung von allem Möglichen. Femme DMC ist ein kollektiver Name, es ist ein Movement, es ist weder Verein noch Label, es ist wie eine Schule, die stark macht und das Potenzial jeder Künstlerin in den Vordergrund hebt. Femme DMC gibt es seit 23. Oktober 2015, die erste Generation waren Frauen, die ich schon kannte: Bella Diabolo, Soul Cat, DJ Countessa. Für die zweite Generation – Lady Il-ya, EC, Zion Flex (aus Großbritannien) und VJ-M-Jane, die Visuals machte – gab es die erste Show nach zwei Monaten. Die Verbreitung lief über Mundpropaganda und die Leute haben uns von Anfang an gefeiert, weil es so echt war, alle superstark auf sehr verschiedene Art. Heute bin ich der Motor von Femme DMC und an meinem Beginn in Wien war da Denice Bourbon, die mich gebucht hat und mir geholfen hat, Femme DMC auf die Beine zu stellen und mich ins kalte Wasser gestoßen hat, um die starke Frau zu werden, die ich heute durch diese Erfahrungen geworden bin. Ich bin auch schon mit 39 Grad Fieber aufgetreten, es ist eine große Verantwortung und jenseits von Egoismus. Ich weiß, dass es als Frau schwierig ist, Räume zu betreten, besonders jene Räume, die weitgehend von Männern und ihren Codes dominiert werden. Deshalb ist es so wichtig, miteinander zu lernen und andere zu unterstützen. Wir müssen uns zusammenschließen, auch mit Männern, zugleich braucht es Frauenräume. Klar gibt es zwischendurch irgendwelche Dramen, jeder Mensch entwickelt sich in seiner eigenen Geschwindigkeit und es gibt auch Konflikte.

Im Rap spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Du machst viele dreisprachige Songs (Albanisch, Englisch, Deutsch). Erklärst du deinem oft einsprachigen Publikum, worum es geht? In welchen Sprachen träumst du?

DAFINA SYLEJMANI: Drei Sprachen machen mich vollkommen, machen die Energie eins. Deutsch ist eine sehr genaue Sprache, am Anfang wurde ich oft missverstanden. Jahrelang hatte ich damit Probleme, es geht vielen Migrant*innen so. Mittlerweile haben sich diese drei Sprachen in mir ausgebreitet. Ich träume nicht in Worten, mehr in Bildern und Gefühlen, ich denke ebenso. Sprache ist Macht, ich bin eine Bereicherung für Österreich. Ich komme aus einem superstarken Land, bin im Krieg aufgewachsen. Teilweise tue ich mir schwer, empathisch für so kleine Probleme zu sein. Das Leben, das ich gehen musste, hat viel zu viel von mir verlangt. Wir sind oft so unsicher, entfernen uns voneinander. Wie soll ich gut für die Welt sein, wenn ich mich nicht selbst liebe? Aber wie? Irgendwann auf meinem Weg der Politisierung dachte ich auch, jeder weiße Mensch ist scheiße. Wenn ich mich nur auf das Schlechte konzentriere, dann dringt auch keine Energie durch. Diese negativen Gefühle verhindern Austausch, Beziehung und alles wird immer schlimmer. Das Ergebnis waren bei mir zum Beispiel Panikattacken. Dann wählte ich eher einen albanischen Zugang: Im Kosovo feiern dich die Leute, wenn du unsere Sachen magst – Cultural Appropriation (Kulturelle Aneignung), ja klar.

Dir gelingt es, auch sehr schmerzhafte Erfahrungen – Krieg und Flucht ebenso wie das Ende einer Liebesbeziehung oder den Tod einer Kolleg*in – in deiner künstlerischen Arbeit zu thematisieren. Ist das nochmal schmerzhaft? Vielleicht sogar heilsam?

DAFINA SYLEJMANI: Ich hatte eine erste Panikattacke 2017 und ich habe erst 2020 angefangen, über 2017 zu schreiben. Für manche Sachen brauche ich einfach länger, weil ich nicht alles gleich verarbeiten kann. Früher war ich in einem eher aggressiven mood, jetzt bin ich vielfach bewusster. Als ich dachte, ich sterbe, tat es mir leid, meinen Auftrag nicht erfüllt zu habe. Denn Femme DMC ist ein Auftrag, den ich für diese Welt leisten kann, dem Geschlechterkampf die Musik zu geben, Frauen zusammen, egal woher und egal wo, Räume einzunehmen, Frau sein neu zu entdecken, neu zu erschaffen; patriarchale Vorstellungen von dem, was es heißt, Frau zu sein, zu kontrastieren. Deshalb müssen wir unsere eigenen Räume einnehmen. Trennungen, Spaltungen halten uns klein. Ich kann nicht jede*n glücklich machen, aber die Verantwortung des Motors geht über mich hinaus, es geht nicht um mich. Den Opferstatus, den Frauen ebenso wie andere marginalisierte Personen und Gruppen einnehmen, müssen wir auch wieder verlassen, sonst spielen wir dasselbe Spiel immer weiter. Solange du das Privileg hast, über dich und deine Gefühle zu sprechen, bist du kein Opfer. Diese ständig negativen Gefühle machen auch etwas mit dem Rest der Welt, unser Handeln hat Effekt auf die Welt. Ich muss mir eine Antwort geben können auf die Frage: Warum erlebe ich so viel Scheiße? Meine Antwort lautet heute: Deinen Schmerz trage ich nicht. Ich habe meinen eigenen, den kann ich niemand umhängen. Die Erkenntnis lautet also: Raus aus der Opferposition/ -rolle. Ich will endlich meine Macht spüren, den Effekt, die Resonanz, die ich erschaffe, die dann auch zurückkommt.

Du hast hunderte Songs gemacht. Sind manche super, mache gut und manche mau? Arbeitest du rund um die Uhr oder machst du auch mal nichts? Und was ist mit dem Groupies?

DAFINA SYLEJMANI: Ich finde alle meine Songs super gut. Ich habe auch schon drei Songs für Filme verkauft. Als Künstler*in geht es darum, Resonanz zu erzeugen, es geht darum zu machen, nicht zu urteilen. Es geht nicht um mich, es geht um die Message, Story Telling in den Lyrics. Ich schreibe immer dann, wenn ich mich nicht verstanden fühle. Die meisten Songs sind persönliche Geschichten. Das, was mir gefällt, ist nicht unbedingt das, was dem Publikum gefällt. Am Anfang konnte ich vor einem Auftritt zwei, drei Wochen nicht schlafen, war super fertig. Heute mache ich keinen fixen Plan, ich habe alle meine Beats dabei, die Texte im Kopf, schließlich habe ich sie geschrieben, die zugrundeliegenden Geschichten erlebt. Das Ziel ist eine Welle, worin sich die Menschen selber spüren. Es ist schwer in Österreich, Menschen in Bewegung zu bringen. Dabei geht es auch um Magie – Menschen sollen sich spüren, abschalten, loslassen, sich selbst fühlen, ihre Energie, den Herzschlag, die Schwingungen, ihre Gedanken. Ich bin ein*e Alchimist*in, ich liebe es, aus dem Minimum ein Maximum herauszuholen. Ich mache Musik nicht wegen der Groupies. Ich hasse es, sexualisiert zu werden. Offenbar erleben wir eine sexuelle Revolution, eine Glorifizierung von Sexualität und zugleich hassen sich viele Frauen, können sich nicht fallen lassen. Ich habe mein Tinder-Profil jetzt auf Musik umgestellt, eine kleine Werbeplattform. Und ja, doch – ich mach auch mal nichts, muss auch mal raus. Dabei hasse ich es, wenn etwas nicht fertig ist. Ich hasse nichts mehr, als wenn ich Zeit vergeude, daher schau ich schlechte Filme auch bis zum Ende. Liebe ist ganz kompliziert, niemand gehört dir, Menschen teilen die Zeit. Liebe bedeutet, wir gehen einen Weg gemeinsam, so lange es geht, wir bauen uns gegenseitig auf. Kein Zwang, keine Abhängigkeit, das ist für mich keine Liebe, eine offene Beziehung ist für mich keine Liebe. Es geht darum, sich gemeinsam fliegend zu machen. Ich hatte einige toxische Beziehungen und zum Glück auch einige wunderbare. Ich hasse es, auf Dates zu gehen, ich will nichts Konventionelles. Ich muss mich auf den ersten Blick verlieben.

Du warst bei vielen do! Demos auf der Bühne, bist eine der wenigen »Embeded Artists« von LINKS. Du bist im Wien-Wahlkampf oftmals aufgetreten, hast im 8. Bezirk kandidiert. Aus welcher politischen Überzeugung heraus machst du das? Warum LINKS?

DAFINA SYLEJMANI: Politik kann man nur in den Institutionen machen. Es ist ein Privileg, politisch korrekt zu sein. Leute wie wir müssen in die Politik. Die FPÖ ist deswegen so stark geworden. Aktivistische Menschen müssen sich dauerhaft in den politischen Raum begeben. Demos machen, das ist nur ein kurzes Schütteln, unser Platz ist da oben, wo es gilt, die Strukturen zu verändern. Es geht um uns alle, es geht nicht um mich. Politisch geht es um die unterdrückten Menschen, daher gilt es, das Ego runterschrauben. Menschen – links und rechts – sind nicht dumm, oftmals uninformiert. Ich will nicht gewollt werden, nur weil ich lesbische Migrantin bin. Ich bin gegen diese Spaltungen, gegen ein Pronomen: kein er und kein sie, weder Mann noch Frau, weder Ausländer*in noch Österreich*in, weder weiß noch schwarz. Das soll alles nicht zählen, was zählt, ist die Essenz. Ich hasse diese Integrationskacke, wo es nur darum geht, Menschen niederzuhalten, ihnen zu sagen: »Du kannst dich nicht anpassen!« Linke sind oft zu akademisch, dein Wissen kommt vom Buch, aber das ist nur halbes Wissen und kommt aggressiver und ignoranter rüber. Unsere Sprache hat viele Wörter, aber wenig Seele. Ich + Du = Wir. Eine einfache Message, aber darum geht es. Wie bei Femme DMC geht es auch bei LINKS darum, das Konkurrenzdenken zu verjagen – für alle! Es ist der Platz, wo wir unsere Kräfte zusammentun. Jeder Mensch ist ein eigenes Universum, das entdeckt werden muss. Wenn so viele Menschen kommen, kann man das nicht ignorieren, alle zusammen ist viel cooler: Awareness, Zusammenhalt. Durch diese Spaltungen limitieren wir uns. Ich bin muslimisch aufgewachsen, da kann ich nicht verleugnen, dass ich auch Christ und Jüdin bin. Was ich von allen Religionen gelernt habe: Der größte Fehler ist, dass wir in Menschengeschlechtern denken. Die größte Frage ist: Warum wissen wir nichts über unseren Körper? Da fängt Rap an. Musik ist der Weg, wie ich mit Gott und der Welt kommuniziere.

Was sollte in der Kunst- und Kulturförderung anders laufen, damit Künstler* innen sich ihrer Arbeit widmen können?

DAFINA SYLEJMANI: Klar sind Förderungen wichtig und es braucht mehr davon. Die Community ist nicht so groß wie in anderen Städten, aber die Leute gewöhnen sich an dich und du wirst selbstverständlich. Jede*r auf einem Konzert sollte dich fragen: »Kannst du dich noch halten, während du uns hier unterhältst?«

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Von Amir Sturm

»Ich war, ich bin, ich werde sein« – dies attestierte Rosa Luxemburg der sozialistischen Revolution in ihrem letzten Aufruf an das deutsche Proletariat vor ihrer Ermordung 1919. Dasselbe könnte man auch von ihr selbst behaupten, angesichts der breiten Rezeption, die sie und ihr Leben auch über 100 Jahre später noch erfahren. Anlässlich ihres 150. Geburtstags diskutieren wir im Folgenden einige wenige Gesichtspunkte des – mitunter umstrittenen – Vermächtnisses Rosa Luxemburgs. Dafür greift der Beitrag zwei Aspekte ihres Lebens und Werks auf, um im Anschluss den Versuch zu wagen, sie für Fragen der Gegenwart fruchtbar zu machen: erstens Luxemburgs Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten linker Regierungsbeteiligung im bürgerlichen Staat und zweitens die ihr stellenweise zugeschriebene Rolle als feministische Theoretikerin.

 

Biographische Positionen

Aus einer prekären jüdisch polnischen Kaufmannsfamilie stammend, war Luxemburg schon von Kindheit an ein feinsinniger und politischer Mensch. Sie schrieb in der Schulzeit politische Gedichte, trat als Gymnasiastin gegen schulische Ungerechtigkeit auf und kam bereits als Jugendliche mit der polnischen Arbeiter*innenbewegung in Kontakt. Ende der 1880er Jahre begann sie ihr Studium der Rechtswissenschaften und Nationalökonomie und nahm aktiv am Aufbau der und Diskussionen inder polnischen Sozialdemokratie teil. Ein Dauerbrenner, der letztlich auch eine Spaltung der Partei unter ihrer Führung provozierte, war die Unabhängigkeit Polens, die Luxemburg Zeit ihres Lebens auf das Schärfste ablehnte. Als sie in den späten1890ern nach Deutschland übersiedelte, trat sie sogleich in die SPD ein und agitierte unter der deutschen und polnischen Arbeiter*innenschaft für Solidarität und Sozialismus. Bereits kurz nach ihrem Eintritt machte sie mit ihrer Schrift »Sozialreform oder Revolution?« auf sich aufmerksam, in der sie dem Revisionismus Eduard Bernsteins ein vernichtendes Zeugnis ausstellte – erneut hatte sie sich mit ihrer Haltung einige Feinde gemacht. Ebenso widerwillig nahm die SPD Führung Luxemburgs Rezeption der russischen Revolution 1905 zur Kenntnis, die sie als leuchtendes Beispiel für Deutschland verstanden wissen wollte. Bis zur völligen Unvereinbarkeit zugespitzt wurde der Konflikt mit der Parteiführung im Zuge des Ersten Weltkrieges: Während die Parteispitze in »Burgfrieden« und patriotischen Taumel verfiel, lehnte Luxemburg das Völkerschlachten als imperialistischen Raubkrieg zutiefst ab. Nachdem die Sozialdemokratie endgültig abgewirtschaftet war, gründete sie mit dem linken Flügel der Partei zunächst den Spartakusbund und schließlich die Kommunistische Partei Deutschlands. Als diese die deutsche Novemberrevolution bis zum Sozialismus voranbringen wollte, wandelte sich die Ablehnung der SPD ihr gegenüber zu blankem Hass: Die von der SPD unter Friedrich Ebert bezahlten Freikorps ermordeten Luxemburg kaltblütig unter dem Applaus von Parteispitze und Reaktion.

Zurück in der Gegenwart wundert man sich ob dieser Tatsachen über so manchen Luxemburg-Bewunderer. Wenn beispielsweise die Friedrich-Ebert-Stiftung – deren Namensgeber Luxemburg als »Schutzwand der Bourgeoisie« bezeichnete, mit dem es abzurechnen gelte – ihre »Gedanken- und Ideenwelt als »anregend und wichtig« bezeichnet, kommt man doch etwas ins Grübeln. In dieser Lesart wird Luxemburg als das Gegenteil Lenins und allen, die sich auf ihn berufen, stilisiert und ihr eine Art parlamentarisch-demokratischer Antiautoritarismus zugeschrieben. Diese Charakterisierung trifft aber auf keine Periode in ihrem Denken zu. Schon 1898 legte sie in »Sozialreform oder Revolution« ihr instrumentelles Verständnis zum Parlamentarismus dar und stellte klar, dass ihr Ziel die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus und Errichtung des Sozialismus ist. In ihren Artikeln in der Roten Fahne im November 1918 werden die revolutionären Reflexionen zu konkreten Taktiken, die die Tagesaufgaben für die deutsche Revolution formulieren. Und dass Luxemburgs Kritik am Bolschewismus nicht mit dessen völliger Ablehnung zu identifizieren ist, hat Clara Zetkin bereits in den frühen 1920ern dargelegt. Entgegen der verbreiteten Rezeption historisch losgelöster Zitate, aber auch unter Ablehnung eines Dogmatismus, der Parallelen zu heute zieht, wo keine sind, schlagen wir eine pragmatische Umsetzung ihrer Kerngedanken vor: Für welche Probleme der Gegenwart lassen sich Anleihen aus ihrer Argumentation entnehmen? Wie kann uns Luxemburgs Interpretation der historischen Umstände helfen, Schwierigkeiten der Kapitalismusanalyse zu überwinden, wo sind ihr aber auch Grenzen gesetzt?

 

Aktualität in der Krise

Gegenwärtig befinden wir uns in den schwersten sozialen und wirtschaftlichen Krisen seit den 1930er Jahren; die Schlagkraft linker Politik in Österreich bleibt in Diskurs und Wirtschaft aus. Vor diesem Hintergrund gewinnen Debatten an Aufwind, die sich linken Strategien der Krisenbewältigung widmen. Ohne auf die Details entsprechender Kampagnen einzugehen, drängen sich in diesem Zusammenhang Fragen nach dem Verhältnis zwischen linker Regierungskritik und Regierung selbst auf. In Luxemburgs Abhandlungen zum »Fall Millerand« diskutiert sie anhand des französischen Fallbeispiels linker Regierungsbeteiligung die Rolle sozialistischer Politik; analysiert dabei die Kluft zwischen sozialistischer Praxis und marxistischer Theorie. Ihr Fazit ist eindeutig: Der Platz einer revolutionären Partei, will sie nicht zum Steigbügelhalter des bürgerlichen Staats verkommen, ist die Oppositionsbank. Reformen sind stets als Zweck und nicht als politisches Ziel zu betrachten; sie bewegen sich als Teil »revolutionärer Realpolitik« im Spannungsfeld zwischen erfolgreicher Lebensstandardverbesserung und Agitationskraft einerseits, kapitalistische Vereinnahmung und Resignation andererseits. Im Kontext linker Regierungsbeteiligung kritisiert sie den »vollkommen utopische[n] Plan [...] zu denken, ein Ressort der Regierung könne bürgerliche, ein anderes sozialistische Politik treiben, und die Zentralverwaltung könne somit stückweise, nach einzelnen Ressorts für die Arbeiterklasse erobert werden«.

Angesichts der aktuellen Schwäche der Linken stellen sich Fragen in dieser Form nicht. Jedoch lässt sich mit Luxemburgs Hilfe kritisch fragend in die Debatte intervenieren: Was ist angesichts der realen Kräfteverhältnisse die Aufgabe der Linken – oppositionelle Regierungskritik oder alternativer Krisenverwaltungsvorschlag? Wie können wir das »Maximum fordern, um weniges zu erreichen« ohne dabei in Verbalradikalismus zu verfallen? Und wie müssen Forderungen formuliert werden, damit sie, selbst bei einer bloß partiellen Umsetzung, noch die Bevölkerung erreichen? Diese Fragen können an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden; sie stellen lediglich einen Versuch da, mit Luxemburg einen Schritt hinter die Konfrontationslinien der – nun doch endlich stattfindenden – Debatte zurückzutreten, um sie auf ihre realen Möglichkeiten hin abzutasten.

 

Rosa, die Feministin?

Zweitens wurden angesichts des überragenden Lebenswerks der Revolutionärin auch Versuche unternommen, die »Feministin Rosa Luxemburg« zu entdecken. Allerdings waren andere Themen – Revolutionstheorie, Reformismuskritik, Sozialismus und nationale Frage – ihr schöpferischer Schwerpunkt, wobei die »Frauenfrage« nur am Rande explizit von ihr behandelt wurde. Ein rigoroses Beispiel für derartige Vorhaben liefert die feministische Ökonomie. Innerhalb der sogenannten »Hausarbeitsdebatte« fand eine bestimmte Rezeption Luxemburgs »Die Akkumulation des Kapitals« für die Frage der sozialen Reproduktion Verbreitung. Die zentrale These dabei: Luxemburgs Verständnis der Angewiesenheit des Kapitalismus auf »nicht-kapitalistische Produktionsformen« kann auf die mehrheitlich unbezahlte Reproduktionsarbeit in den Zentren der kapitalistischen Produktion angewendet werden. In der Bewertung dieses Ansatzes hat sich nicht nur der theoretisch grobe Vergleich von Frauenunterdrückung und Kolonialismus – diesem Verständnis nach zwei analog ausgebeutete Sphären der kapitalistischen Produktion – als analytisch unhaltbar erwiesen, auch die Bedienung an den Begriffen von Marx und Luxemburg bei gleichzeitiger Verwässerung ihrer Bedeutungen sorgte für kritische Repliken. Das überzeugendste Argument liefert der Frauenarbeitskreis des Institut für marxistischeStudien und Forschung, wenn die Autorinnen darauf verweisen, dass das Charakteristische der Hausarbeit – nämlich ihre kontinuierliche Ausbeutung und ständige Reproduktion – genau nicht mit Luxemburgs Akkumulationstheorie erfasst werden kann. Sie schreiben: »Rosa Luxemburg sieht ja gerade im Angewiesensein des Kapitals auf ein nicht-kapitalistisches Milieu und dessen allmähliche Zerstörung die Schranke der Produktionsweise.« In der Gegenwart zeigt sich aber, dass weder die kapitalistische Produktionsweise noch die Hausarbeit im Niedergang begriffen sind. Der theoretisch akrobatische Versuch, das Werk der Ökonomin in feministische Reproduktionstheorien einzugliedern, droht zu scheitern und nimmt es auch gewissermaßen nicht Ernst. Muss Luxemburg – eben weil sie eine Frau ist – zwangläufig die feministische Theorie bereichern?

Der Versuch, Luxemburgs Bedeutung für die Frauenbewegung anhand theoretischer Beiträge zum Feminismus festzumachen, verfehlt den wahren Wert ihres Lebenswerks. Der feministischen Theorie als solche, die Frauen und Fragen der sozialen Reproduktion explizit zum Thema machen, haben sich historisch andere Persönlichkeiten gewidmet. Was sich Feminist * innen von Luxemburg abschauen können, ist vielmehr die Praxis weiblicher Teilhabe am politischen Geschehen. Luxemburgs Mut, sich mit radikalen Standpunkten einzumischen und dabei so manche sozialistische Altherrenrunde aufzuschrecken, zeugt von enormer politischer Kraft. Dass es für sie als Frau irgendeine spezielle politische Stellung zu geben habe, die sich von ihren männlichen Genossen unterscheiden würde, war ihr nicht mal einen Gedanken Wert – es war für sie völlig klar, dass eine Frau als Kampfgenossin mit genau denselben Aufgaben betraut ist.

Es bleibt die Schwierigkeit zeitgenössischen Denkens, an politische Tradition anzuknüpfen und von ihr zu lernen, ohne dabei einer Vereinfachung oder Überzeichnung aufzusitzen. Zum 150. Geburtstag Rosa Luxemburgs setzen wir in diesem Sinne einen kritischen Apell, für und mit einer Revolutionärin, die sich selbst Zeit ihres Lebens dem kritischen Denken verschrieben hat.

Amir Sturm, geboren 1995, Student der Geschichte und Anglistik. Aktiv in der KPÖ Meidling und bei Junge Linke Wien.

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Eine kritische Auseinandersetzung mit der vorliegenden Novelle des Universitätsgesetzes

Von Elisabeth Günther und Dagmar Fink

Am 15. Janaur endete die Begutachtungsfrist für die Novelle des Universitätsgesetzes, die im Dezember noch eben schnell auf den Weg gebracht wurde. In Zeiten der Pandemie, des Arbeitens und Studierens innerhalb der eigenen vier Wände, ist es schwierig, die angedachten Änderungen gemeinsam zu diskutieren, sich über Alternativen auszutauschen und sich zu organisieren. Eine Schelmin, die denkt, es könnte durchaus im Sinne der Regierung sein, Protestmöglichkeiten gering zu halten. Doch aller Widrigkeiten zum Trotz formiert sich breiter Widerstand: Unzählige kritische Stellungnahmen wurden eingereicht, Demonstrationen fanden und finden in verschiedenen Städten statt und über tausend Wissenschafter: innen sprechen sich für ein anderes Universitätsgesetz als das vorgelegte aus. Worum geht es?

Zugang zu Bildung

Universitäten haben die Aufgabe, Wissen zu erzeugen und Wissen mit der Gesellschaft zu teilen. Die Wissensvermittlung erfolgt zu einem großen Teil dadurch, dass Studierenden in der Lehre wesentliche Erkenntnisse näher gebracht und sie befähigt werden, Wissen kritisch zu hinterfragen. In der Lehre sollen Student:innen sich also Wissen aneignen und ihre Kompetenzen ausbauen können. Dabei sollte das Studium die Möglichkeit bieten, den eigenen Interessen nachzugehen und/oder sich für einen Beruf zu qualifizieren.

Dieser freie Zugang zu Wissen, diese Form der Bildung – und eben nicht allein AUSbildung – ist ein hohes Gut.

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Bedingungen, zu denen studiert werden kann und muss, sehr verändert. Studien pläne wurden stärker strukturiert, Aufnahmetests in bestimmten Fächern eingeführt, das zu vermittelnde Wissen gerafft. Manche der bisherigen Änderungen könnten potenziell einen Beitrag dazu leisten, einer breiteren Vielfalt von Personen ein Studium zu ermöglichen. So kann eine stärkere Strukturierung durchaus eine Hilfestellung sein, wenn sich eine:r in den akademischen Gefilden nicht auskennt. Eine zu starre Vorgabe kann aber auch jene behindern, die neben dem Studium noch andere Verpflichtungen haben. Die stärkere Strukturierung, um nicht zu sagen: Verschulung, kann abschreckende Wirkung haben – wie die Evaluierung der Aufnahmetests andeutet.

Vor diesem Hintergrund ist es auffällig, dass in der vorliegende Novelle vorgeschlagen wird, eine Mindestleistung für Studierende einzuführen. Auf den ersten Blick erscheint die vorgeschlagene Mindestleistung durchaus machbar, wenn nicht sogar vernachlässigbar. Doch wird damit ein Paradigmen-Wechsel eingeführt. Student:innen müssen nun ihre Leistungsbereitschaft der Universität gegenüber beweisen, sonst werden sie für zehn Jahre von diesem Studium ausgeschlossen. Dabei wird keine Rücksicht darauf genommen, ob eine:r ein anderes Studium belegt oder sich berufsbegleitend (weiter)bilden möchte. Und: Es ist nicht ausgeschlossen, dass die geforderte Mindestleistung zu einem späteren Zeitpunkt erhöht wird. Es ist daher zu befürchten, dass diese zusätzliche Anforderung, die kaum durch Angebote an Student:innen und Studien-Interessierte abgemildert wird, abschreckend wirkt. Und zwar gerade für jene, denen Bildung nicht »in die Wiege gelegt« wurde, die sich ihren Weg durch ein sehr ausschließendes Bildungssystem erkämpfen müssen, deren Eltern sie nicht in die akademische Welt einführen können. Darüber hinaus sollen mit der Novelle quasi zwei Klassen von Student: innen eingeführt werden: Jene, die schon viele (100) credit points erreicht haben, und jene, die weniger haben. Diejenigen, die zügig studieren können, werden also noch weiter bevorteilt. Für wen also ist diese Novelle gedacht? Wer sind die – im Hinterkopf mitgedachten oder vielleicht auch erwünschten – Student:innen von morgen?

Demokratie in der Universität

Neben den Änderungen in Hinblick auf Student:innen sind auch Machtverschiebungen innerhalb der Universität geplant. Die Struktur von Universitäten – mit den unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen – ist durchaus komplex. Universitäten werden derzeit vom Rektorat geführt, wobei die studienrechtliche Verantwortung beim Senat liegt und der Universitätsrat – vergleichbar mit einem Aufsichtsrat – auch mitbestimmt. Der Senat ist das einzige von Universitätsangehörigen gewählte Gremium (wobei die Professor:innen hier eine absolute Mehrheit haben). Er entsendet die Hälfte der Mitglieder des Universitätsrates, die andere Hälfte wird von der Bundesregierung entsandt. Senat und Universitätsrat gemeinsam wählen das Rektorat für jeweils vier Jahre. Nach diesen vier Jahren kann sich ein:e Rektor:in der Wiederwahl stellen. Bisher müssen der Senat und der Universitätsrat der Wiederwahl zustimmen, in Zukunft jedoch soll nur noch (der zur Hälfte politisch besetzte) Universitätsrat ein Rektorat erstmalig wiederbestellen können. Der Senat als einziges direkt gewähltes Gremium soll nur noch ein Anhörungsrecht erhalten. Zudem sollen Rektorate in Zukunft grobe Richtlinien für Studienpläne erlassen können. Eine Aufgabe, die bisher den Senaten vorbehalten war.

Die ohnehin schon sehr eingeschränkten Möglichkeiten Universitätsangehöriger, das strategische Gestalten von Universitäten mitzubestimmen, werden also noch weiter eingeschränkt. Um nicht zu sagen: gestrichen.

Gleichzeitig soll ausgerechnet die Zusammensetzung jenes Gremiums verändert werden, das sich für Diskriminierungsschutz einsetzt: der Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (AKG). Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, dann sollen auch im AKG zukünftig die Professor: innen – bzw. eigentlich Professoren – die absolute Stimmmehrheit haben. Es sollen nicht mehr kompetente und engagierte Mitglieder entsandt, sondern aus Listen und Berufsgruppen gewählt werden. Das Problem ist, dass Minderheitenschutz selten von der privilegierten Mehrheit hochgehalten wird. Wäre dies der Fall, bräuchte es keinen Arbeits kreis für Gleichbehandlungsfragen. Wenn aber nun der AKG von Personen besetzt wird, die kaum Wissen zu oder Sensibilität gegenüber Diskriminierungserfahrungen haben, wie sollen Betroffene dann hier Unterstützung erhalten?

Weiterer Druck auf die prekär Beschäftigten

Ein ausgelobtes Ziel der vorgelegten Novelle ist »Verbesserung der Rahmenbedingungen für befristete Arbeitsverhältnisse« (siehe parlament.gv.at). Dies soll dadurch erreicht werden, dass sogenannte Kettenverträge verunmöglicht werden. Dazu muss man wissen, dass das Universitätsgesetz einiges regelt, was für andere Berufe im allgemeinen Arbeitsgesetz geregelt ist.

Das derzeit gültige Universitätsgesetz sieht bspw. vor, dass bestimmte Angestellte nur befristet angestellt werden dürfen (wenn diese über sogenannte Projektmittel finanziert werden) und dass mehrere befristete Arbeitsverträge möglich sind. Je nachdem ob eine:r teil- oder vollzeit-beschäftigt ist, können bis zu zwölf Jahre befristete Verträge vergeben werden (in einer Kette). Danach sollten die Mitarbeiter:innen unbefristete Verträge erhalten. In der Praxis sieht dies selbstredend anders aus. In der Regel vergeben Universitäten keine unbefristeten Verträge an die befristet angestellten Forscher:innen und Lehrenden. Vielmehr werden die Arbeit-nehmer:innen mehr oder weniger explizit aufgefordert, ein Jahr zu pausieren (bspw. sich arbeitslos zu melden), danach können sie wieder einen befristeten Vertrag erhalten. Und so reiht sich eine Kette an die nächste. Dieser Zustand ist für viele an der Universität Tätigen eine große Belastung, insofern gibt es hier durchaus großen Handlungsbedarf.

Die Novelle sieht nun eine Einschränkung dieser Aneinanderreihung von »Ketten« vor. In Zukunft sollen befristet Beschäftigte nur noch bis zu maximal acht Jahre an einer Universität befristet beschäftigt werden dürfen. Danach können diese nur noch einen unbefristeten Vertrag erhalten. Die kolportierte Intention dahinter ist, dass Universitäten damit motiviert werden sollen, den Mitarbeiter:innen, die sie bisher schon befristet beschäftigten, entweder eine langfristige Perspektive zu bieten, oder aber klar zu kommunizieren: »Das wird nix.«

Klingt doch gut – was ist das Problem? Es wird übersehen, dass dies sehr ungleiche Ausgangsbedingungen sind. Die jetzt prekär Beschäftigten haben kaum etwas in der Hand, um einen anderen Vertrag zu verlangen. Denn es ist zu bezweifeln, dass es mehr unbefristete Verträge geben wird. Damit steht im Raum, dass die Universitäten den Druck auf die prekären Mitarbeiter:innen auslagern. Warum auch sollten Universitäten auf einmal mehr unbefristete Verträge ausstellen? Im gegenwärtigen Zustand können sie die Kosten und das Risiko auf die prekarisierten Mitarbeiter:innen auslagern. Der Blick über die Grenzen nach Deutschland zeigt, dass solche Beschränkungen meist zu Lasten jener gehen, deren Wissenschaftskarrieren nicht dem idealtypischen Mainstream entsprechen. Für viele derzeit Lehrende und Forschende kommt diese Änderung – wenn es keine flankierenden Maßnahmen gibt – einem Berufsverbot gleich. Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft langwierig ausgebildete und hochqualifizierte Forschende und Lehrende mit Mitte vierzig »ausgemustert« und durch jüngere Absolvent:innen ersetzt werden, die wieder befristet werden können. Auch wenn manche behaupten, dass auf diese Weise »frischer Wind« an die Universitäten gelange und der »Nachwuchs« eine Chance erhalte, wird so Wissen und Expertise verschleudert. Dieses System dient vor allem dazu, möglichst unbegrenzt mit befristeten Anstellungen zu arbeiten. Für Dozent:innen, d. h. habilitierte Lehrende ohne Professur, kann die neue Regelung darüber hinaus dazu führen, dass sie sich zwischen unbezahlter Arbeit oder dem Verlust ihrer Venia (Lehrbefugnis) und daher dem Dozent:innen-Status entscheiden müssten. Es bleibt auch zu befürchten, dass hier bestimmte Fachbereiche, die jetzt schon schlechter ausgestattet sind als andere, wie beispielsweise die Gender Studies, in Zukunft noch mehr unter Druck geraten. In Summe kommen wir nicht umhin festzustellen: Das ist nicht das Universitätsgesetz, das wir brauchen. Ein anderes Universitätsgesetz ist nötig und möglich!

Elisabeth Günther, Sozialwissenschaftlerin, Universitätsassistentin am Zen-trum für Lehrer: innen bildung der Universität Wien, Vorstandsmitglied der ÖGGF.

Dagmar Fink, ›freie‹ Literatur- und Kulturwissenschafterin, Übersetzerin und Lehrbeauftragte. Derzeit Obperson der ÖGGF und im Beirat des VfW.

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Von Alex Hartl

 

Brecht sagt: »Die Darstellung der Wirklichkeit ist eine schwierige Aufgabe.«

— Und die Wirklichkeit der Darstellung?

— Die Wirklichkeit der Darstellung … Da kommt das Politische dann zu sich, verstehst du? Hier entscheidet sich, ob die Aufgabe gelungen ist oder nicht, in welche Richtung die Darstellung führt: In der Wirklichkeit der Darstellung fallen Schreiben und Lesen in eins.

— Scharang sagt ja: »Lesen heißt lernen«, oder so ähnlich. Hab’ ich unlängst in einem Zeitungsgespräch mit ihm gelesen. Ein guter Satz: Lesen heißt lernen ...

— Für uns Kommunisten und Kommunistinnen, zweifellos.

— Und dann hab’ ich mich gefragt: was ist das für ein Lernen? Wenn ich einen Roman lese, wie lerne ich da?

— Ich glaube, Lernen das bedeutet für uns in erster Linie: verstehen. Ein Wort, das in jüngster Zeit – vor allem in der Literatur – zu kurz kommt. Wem geht es in diesem Literaturbetrieb denn noch darum, verstanden zu werden?

— Verstehen ist Arbeit. Mir scheint, hier hat uns die Entfremdung selbst da eingeholt, wo wir uns noch sicher gefühlt haben. Und das Verstanden-werden-wollen, das ist nochmal eine andere Sache.

— Weißt du, wir Kommunistinnen und Kommunisten, wir haben unsere eigenen Universitäten.

— Und die wären?

— Menschen, Bücher … Aber wiederum nur die von der menschlichen Sorte. Die auf Erfahrung bauen.

— Scharangs »Aufruhr« zum Beispiel wäre doch so ein menschliches Buch – und eines, das verstanden werden will. Auch der »Charly Traktor« aus den 70er Jahren.

— Unsere Literatur lebt davon, dass ihre Essenz demokratisch ist. Wir wollen keine Verfremdung um der Verfremdung willen, keine Arroganz und Heuchelei. Das passt nicht zu uns. Scharang hat eine klare Haltung, seit Langem. Er schreibt nicht, um sich zu profilieren, er schreibt für alle, für uns alle.

— Für die, die ihn verstehen können?

— Ja. Wir, das sind die, die darauf beharren, verstehen zu können: Wir haben keine Assoziationen, sondern Gedanken. Wir beten nicht das Wort an, sondern wir lesen den Satz. Unsere Erfahrungen sind keine Bruchstücke, jeden einzelnen von uns verbinden sie mit den andern. Das kannst du bei Scharang lernen. Es lohnt sich also, ihn zu lesen.

— Verstehen heißt dann auch Praxis …

— Natürlich.

— Sollte das Lesen dazu führen, dass man das Buch zuklappt?

— Unter gewissen Bedingungen.

— Und zwar?

— Zum Beispiel unter der Bedingung, dass die darauffolgende Praxis konkret ist. »Die Kommunistin, der Kommunist arbeitet politisch dort, wo die Arbeit ihn hinverschlägt«, sagt Scharang.

— Egal an welchem Ort?

— Überall.

 

Ethan Young über die aktuelle politische Konstellation in den USA

Donald Trump hat seinen Joseph McCarthy-Moment gehabt. McCarthy ist als wütender antikommunistischer Senator in den 50er Jahren in Erinnerung geblieben, der eine Grenze überschritt und jeden Rückhalt des rechten Establishments verlor, das immer noch die US-Politik dominierte. Im Falle von Trump gab es schon früher viele Momente, auf die dieses Kriterium zutraf – seine »Sün-den« übertrafen jene Nixons bereits zur Halbzeit seiner Amtsperiode bei Weitem. Aber nichts hat Washington so in Schock versetzt als ein noch amtierender Präsident, der seine rabiate Anhängerschaft dazu aufrief, das Kapitol zu stürmen und die Bundesgesetzgeber:innen physisch zu bedrohen. Und immer noch kommen Ungeheuerlichkeiten ans Licht. Daher verliert Trump nicht nur sein Amt, es droht ihm auch reale Strafverfolgung.

Das Zweiparteiensystem und seine Kammern

Insofern kann gesagt werden, dass sich die US-amerikanische Politik am 6. Jänner 2021 in nur wenigen Stunden um 180 Grad gewendet hat. An jenem Tag wurden dieser erbärmlichen Ära zwei entscheidende Absagen verpasst: Zuerst wurden die Ergebnisse von zwei Stichwahlen des Bundes-staats Georgia für den Senat verkündet. Beide Sitze gingen an Kandidat:innen der Demokrat:innen, ein riesiger Erfolg, der bewies, dass der Republikaner Trump nicht mehr länger der Königsmacher war, nachdem er im November davor die Wiederwahl verloren hatte. Wichtiger noch war vielleicht, dass dies den Demokrat:innen einen entscheidenden Stimmenüberhang im Senat verschaffte, wodurch die Republikaner: innen im Bereich der Gesetzgebung an Einfluss einbüßten und ihnen die Machtfülle, über die sie von 2016–18 verfügten, wieder genommen wurde. Das hätte an sich schon gereicht. Aber der von Wahnideen geplagte Soziopath, dem vier Jahre lang die »Führung« des Landes anvertraut war, die in der Pandemie ihren unrühmlichen Höhepunkt fand, schaffte es, die Sache nur noch schlimmer zu machen, sowohl für sich selbst, seine ihm treu ergebenen, ebenso von wahnhaften Vorstellungen heimgesuchten Anhänger:innen als auch für die Standards der liberalen Demokratie, die lange als Markenzeichen der US-amerikanischen Hegemonie in der Welt galten. Um diese Wende zu verstehen, bedarf es eines genaueren Blicks auf viele Aspekte der gesellschaftlichen und politischen Ver-werfungen der Trump-Ära. Im Jahr 2016 erkannten die republikanischen Strateg: innen, was ihre Gegner:innen im Hinblick auf Trump und die US-Gesellschaft übersahen. Sie erkannten, dass, während Obama noch immer beliebt war, noch immer genügend rassistische Vorurteile in einzelnen Staaten gärten, was man sich zunutze machen konnte, um einen der ihren durchzubringen und zwar durch das indirekte Wahlverfahren, das bestimme Staaten gegenüber anderen begünstigte, selbst dann, wenn die Demokrat:innen die Mehrheit der Gesamtwähler:innenstimmen (popular vote) erringen sollten. Die demokratischen Strateg:innen haben dies vor 2016 nicht vorhergesehen. Sie wussten, dass sie einen Vorsprung bei der Auszählung der Gesamtstimmen hatten. Des Weiteren glaubten sie, dass die Welle an fremdenfeindlichem Populismus, die einen offenkundigen Hochstapler in die Rolle des republikanischen Präsidentschaftskandidaten beförderte, den Konservativen schaden würde. Es scheint, dass die demokratischen Berater:innen politischer Muster anderswo nicht gewahr waren und daher nur mit Entsetzen zuschauen konnten, als ihnen der Wahlsieg unter der Nase weggezogen wurde.

Marginalisierung und Widerstand

Das alles war sehr zum Nachteil von Einwander:innen aus dem globalen Süden, insbesondere aus Lateinamerika; von Muslim: innen, die auf klassische Weise stigmatisiert wurden; von Angehörigen der Arbeiter:innenklasse, die eine Welle an Ermordungen durch die Polizei erlebten. Die Wähler:innenbasis der Demokrat:innen radikalisierte sich zusehends, als eine dem Faschismus nicht unähnliche Macht in Washington vor ihren Augen Gestalt annahm. Dies zeigte sich an – sowohl friedlich als auch gewalttätig verlaufenden – Massenmobilisierungen für Frauenrechte, für die Reglementierung von Waffenbesitz, für den Umweltschutz, für Maßnahmen gegen Polizeiterror. Der Präsidentschaftswahlkampf von Bernie Sanders und die Wahl von anti-neoliberalen Linken zum Kongress beförderte Ängste bei der gesellschaftlichen Mitte vor einem Kandidaten, der als »sozialistisch« dämonisiert wurde. In der Zwischenzeit verhalf die mit der aufrechten Amtszeit einhergehende Autoritätsfülle des Präsidenten der extremen Rechten dazu, sich zu einer politischen Kraft zu konsolidieren, ausgestattet mit einer Macht, wie sie sie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr in ihren Händen hatte. Dies war das Vorspiel zur aktuellen Umkehr der politischen Kräfteverhältnisse. Die Rechten, die unter Reagan die Republikanische Partei übernommen hatten, haben sich verkalkuliert, als sie es zuließen, dass die extreme Rechte an der Macht teilhatte, um die Wahl Trumps indirekt zu sichern. Der Mitte-rechts-Flügel, der Verbindungen zum Großkapital hatte, wurde hinausgedrängt. Das spaltete die Milliardär:innen, die die Republikaner:innen als ihre zuverlässigsten Vertreter:innen angesehen hatten. Und stattete eine Horde Internet-Junkies, religiöser Fanatiker:innen, bewaffneter Rassist:innen und extrem regierungsfeindlicher, verantwortungsloser Egoist: innen mit Macht aus. Dies alles unter Aufsicht eines Schwindlers ohne jedwede Geschichte von Parteiloyalität.

Die Parteien und ihre Flügel

Im Jahr 2020 spielte die demokratische Führung ihr eigenes Spiel, spielte es aber sicher und es hat sich ausgezahlt, wenngleich ganz knapp. Sie haben in den Vorwahlen ihre besten jungen Bewerber:innen aufgestellt, um zu sehen, ob sich jemand von ihnen in der Stichwahl für die Nomi-nierung gegen Sanders und in der Präsi-dentschaftswahl gegen Trump würde durchsetzen können. Keinem:Keiner gelang es, Sanders zu schlagen, weshalb sie die Zahl der Bewerber:innen reduzierten und ihr ganzes Geld auf Biden setzten, ein zuverlässiges Schlachtross der Partei, der sich bereits wiederholte Male erfolglos um die Präsidentschaftskandidatur beworben hatte. Biden gelang es, die Unterstützung jenes Teils der Mitte-rechts Wähler:innenschaft zu gewinnen, der mit allem, was in seiner Macht stand, Trump loswerden wollte. Die Linke unterstütze mehrheitlich Biden, einschließlich Sanders und die neu gewählten »Berniekrat:innen« und ihrer Anhänger:innen. Dieses Bündnis formierte sich in Windeseile und hatte nie Zeit, richtig zusammenzuwachsen, aber es reichte, um den größten Fehler zu beenden, den die bürgerliche Demokratie in den USA bis dato gemacht hat. Jetzt sitzt Biden sicher im Amt, obwohl über dem Machtzentrum noch immer der Schatten der Gewalt hängt. Die extreme Rechte ist aus mehreren Gründen schwer angeschlagen. Zu diesen zählen das Scheitern ihres kläglichen Putsches, Trumps Distanzierung davon, nachdem er ihn vorher angezettelt hatte, das plötzliche Verschwinden ihres Passes für die Reise an die Macht und des sie antreibenden Personenkults. Sie lecken ihre Wunden, wissen aber nicht, wohin sie sich nun wenden sollen. Binnen einer Woche wurden sie an den Rand der Gesellschaft zurückgezwungen. Der größte Erfolg der extremen Rechten bestand nicht in Insider-Positionen, die sie ergattern konnten – diese waren ihnen von Trumps Berater:innen zum Geschenk gemacht worden. Der Vormarsch der extremen Rechten war ihre Infiltration in die Polizei, das Militär und die Justiz sowie die effektive Ausnutzung von Haltungen, die die Polizei als Beschützer und gegen das Aufbrechen eines weiß-suprematistischen Konsenses unterstützen. Aus diesem Grund wurde auch zugelassen, dass einige der Randalierer gegen das Kapitol, von denen Videoaufnahmen zeigen, wie sie Verbrechen begingen, freigingen. Innerhalb dieses Settings kommt es einer Überraschung gleich, dass die politische Mitte sich nun in zahlreichen Fragen mit der Linken in einem Boot befindet. Dies bedeutet u. a., dass das Bundesbudget unter dem wachsamen Auge von Bernie Sanders entsteht, der nun die Funktion des Vorsitzenden des Budgetkomitees des Senats innehat. Der erweiterte linke Flügel im Repräsentantenhaus – die meisten von ihnen sind offen sozialistische Demokrat:innen, was bis vor kurzem unerhört war – bekommt nun mehr Aufmerksamkeit in den Medien. Hat aus der Perspektive der politischen Mitte der Amoklauf auf das Kapitol das Phantasma von der linken Gefahr – und des für die Mitte daraus folgenden drohenden Kontrollverlusts – besänftigt? Die Linke selbst ist noch immer marginalisiert, obwohl dank Sanders und der neuen Gesichter ihre Ansichten bei mehr Menschen als je zuvor Gehör finden. Die diffuse Wahlbewegung in jedem Staat ist zumeist unabhängig und steht links von der Bundesorganisation der Partei, wird von jungen Aktivist:innen getragen, die sehr schnell lernen, weshalb viele amtierende Republikaner:innen (und Demokrat: innen) den frischen Gegenwind zu spüren bekommen. Die Rechte ringt nun um Klarheit darüber, ob sie sich loyal zu dem Demagogen verhalten soll, der, wie der Ex-Präsident selbst es ausdrücken würde, »sich im Sinkflug befindet«. Trump könnte wieder aufsteigen, davon sind viele überzeugt, und er ist sehr rachedurstig gegenüber ehemaligen Verbündeten. Wahrscheinlicher jedoch liegt die Zukunft der Republikanischen Partei in den Händen von mit eigener Macht ausgestatteten Insidern, die Trump von Anfang an durchschauten, und den »Ratten, die das sinkende Schiff verlassen«. Verbindungen zur extremen Rechten werden von einigen Möchtegern- Konservativen als Rettungsleine und von anderen als Anker gesehen werden, wobei deren Zahl davon abhängig sein wird, wie weit der Kongress und das Weiße Haus Rechtsextreme – einschließlich Trump – aufgrund verschiedener Vergehen strafrechtlich verfolgen. Innerhalb dieses Settings ist ein Mitte- Links-Bündnis, aber unter Führung der politischen Mitte mehr im Interesse der politischen Mitte als zu irgendeiner anderen Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein ist weder die Mitte noch die Linke in einer guten Position die Krisen zu bewältigen, was die Mitte nun zunehmend zu erkennen scheint. Die von der Linken ausgehende potentielle Bedrohung der etablierten Machtverhältnisse wird durch ihre Fragmentierung und ihre politische Uneinigkeit abgeschwächt. In der aktuellen Situation kann sich das aber rasch ändern. Das wird davon abhängen, ob die Linke wachsen – ohne ihre Forderungen, tiefer in die alte Machtstruktur einzugreifen, fallen zu lassen – und das Streben der politischen Mitte zur extremen Rechten aufhalten kann.

Ethan Young, Autor und Herausgeber aus Brooklyn, Mitglied der Demokratischen Sozialist:innen Amerikas. Moderator der Nachrichten- und Analysesendung Global Left Midweek für Portside.org. Autor mehrerer Studien für die Rosa-Luxemburg- Stiftung in New York.

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Über den Abgang von Donald Trump schreibt Joe Grim Feinberg

Nach dem bizarrsten Wahlkampf und der verrücktesten Nachwahlzeit in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika hat Joe Biden Donald Trump im Weißen Haus abgelöst. Manchmal sind die bizarrsten Momente in der Geschichte eines Systems jene, die offenbaren, wie verrückt das System seit jeher war und was es – in weniger spektakulärer Form – bereits hervorgebracht hat. Aber dennoch, wenn es schließlich nach langer Trächtigkeit ein Monster zur Welt bringt, ist nichts mehr so wie vorher.

Der Trumpismus und seine republikanischen Zutaten

Donald Trump ist zweifellos einzigartig, ein Mensch, so seltsam, dass alle Vergleiche versagen. Und doch waren alle Elemente, die den Trumpismus ausmachen, schon vorhanden, bevor Trump sie aufgriff und zusammenfügte. Der Trumpismus kombiniert Hassreden, Respektlosigkeit gegenüber demokratischen Verfahren und eine religionsähnliche Anbetung von Männern mit Geld. Die Republikanische Partei ist mindestens seit dem späten neunzehnten Jahrhundert die Partei der Wirtschaftseliten, sie mobilisiert seit Jahrzehnten Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Frauenfeindlichkeit. Sie hat eine lange Geschichte der Erschwerung des Wahlrechts für People of Color und kann mit der Demokratischen Partei überhaupt nur aufgrund eines Wahlsystems konkurrieren, das weiße ländliche Gemeinden der Mittelschicht überrepräsentiert. Trump also nahm alle rhetorischen Standardpositionen seiner Partei und sprach jene nur ein bisschen lauter aus, mit weniger Nuancen und mehr Idiotie. In einem politischen Theater, das an geschmeidiges Marketing, sorgfältige Vorbereitung und eine strenge Ökonomie der Verbote und Anspielungen gewöhnt ist, kann allerdings auch schon der kleinste Mangel an Nuancen viel Aufmerksamkeit generieren. Trumps Idiotie durchbrach das respektable Furnier eines Systems, das das Publikum bereits müde war, zu respektieren. Für Zuschauer, die noch nie in ihrem Leben die Worte »fuck« und »shit« gehört oder, trotz einer ständigen Flut von mit Bikinis gefüllten Werbespots, eine entblößte Brust im Fernsehen gesehen haben, war Trump wie ein Film mit Altersfreigabe, der endlich das bietet, was so lange unterdrückt und durch Unterdrückung begehrenswert gemacht wurde. Es war, als würde sich das gesamte politische System vor uns entkleiden. Das war nicht schön, aber wir konnten unsere Augen nicht davon abwenden. Trump konnte eine Allianz zwischen den spektakulär Reichen und der bedrohten Mitte beschwören, gegen die alten bescheidenen Eliten, die, weniger sichtbar in ihrem Reichtum als Trump und seine Hintermänner, ihren Erfolg versteckten Kräften zu verdanken schienen. Ihre Appelle zu Mäßigung und mildem Teilen klangen unaufrichtig neben Trumps stolzer Feier von Gier und Bestechung, die Trump zu einem verallgemeinerten Programm machte: Jeder Trumpianer konnte seinen Anteil an der Beute von Trumps »Deals« bekommen. Diese versprachen den Rest der Welt und die nichts besseres verdienenden Armen und Minderheiten im eigenen Land zu schröpfen und alle »zahlen« zu lassen – alle außer dem großen Banditen selbst, der mit seiner eigenen Steuerhinterziehung und seiner Weigerung, seinen Teil der Verträge einzuhalten, prahlte. Auf einer symbolischen Ebene ist die Vorstellung, von einem gierigen Arschloch vertreten zu werden, eine mächtige Sache. Vor allem, wenn es scheint, dass seit Jahren alle Arschlöcher sowieso gegen dich sind. Die Unterstützung für Trump war ein symbolischer Anspruch auf ein Stück der Beute in Trumps Banditenkreuzzug. Es war der Anspruch darauf, zu jenen Leuten zu gehören, die clever genug sind, das System zu schröpfen, das gegen sie aufgestellt zu sein scheint. »America First« weltweit, ich zuerst in Amerika. Als die Sowjetunion fiel und der Kampf gegen die Gleichheit sich nicht mehr als Kampf für die Demokratie gegen den Kommunismus darstellen konnte, löste sich die Gier von der Demokratie und wurde zu einem eigenen Programm. Der Trumpismus konnte sich als eine Bewegung präsentieren, die Privatinitiative, egoistisches Vergnügen und Ansprüche auf ethnische Privilegien von all dem demokratischen Ballast befreit, der sie noch zurückhielt. Aber freilich hatte die Republikanische Partei bereits vor Trump dieses Programm der antidemokratischen Gier entwickelt. Nur unterhaltsam war sie dabei nie. Die Partei hatte ihren Kult der privaten Macht und Gier nie in ein Spektakel verwandelt, welches so schwer nicht zu beachten war.

Trumps Aufmerksamkeitsökonomie

Trump besitzt ein großes Talent: Er weiß, wie man Aufmerksamkeit gewinnt. Ständig unterbricht er und wechselt das Thema zu etwas Neuem, Überraschendem, höchst Skurrilem oder geradezu Verrücktem. Wenn wir ihn zum Beispiel fragen: »Wie sollte die Regierung der aktuellen Pandemie begegnen?« wird Trump antworten: »Welche Pandemie? Wir haben alle genug über die Pandemie gehört. Covid, Covid, Covid ...« Oder wenn wir fragen, ob Trump mit den Vorschlägen seines Rivalen Joe Biden einverstanden ist, würde er sich doch niemals dazu erniedrigen, sich auf eine politische Debatte mit einer so langweiligen Figur wie »Sleepy Joe« einzulassen. Wir könnten Trump fragen, was er tun wird, wenn er die Wahl verliert, und er wird antworten, dass er unmöglich verlieren kann, und wenn er verliert, dann wird der Oberste Gerichtshof das Ergebnis zu seinen Gunsten kippen, und wenn nicht, dann sollten seine Anhänger gegen das Capitol marschieren, damit er gewinnt, und wenn sie es nicht tun, dann wird er sich vielleicht einfach in Florida entspannen, oder vielleicht wird er das Land verlassen, warum nicht? Als Trump-Anhänger das symbolische Zentrum der amerikanischen Legislative stürmten, reagierten die meisten Beobachter – zu Recht – entsetzt. Die Aufständischen wurden beschuldigt, einen Putsch zu planen und Trump, sie dabei zu unterstützen. Andere Beobachter, wie Mike Davis in einem Blog für die New Left Review, taten die ganze Sache als eine Farce ab. Das Problem ist, dass beide Positionen richtig und falsch gleichzeitig sind. Die Aufrührer:innen hatten keinen kohärenten Plan. Aber sie hatten Gewehre und mindestens einen Speer. Sie verprügelten die Polizei mit Hockeyschlägern und einem Feuerlöscher und drohten, gewählte Vertreter:innen zu ermorden. Aber vielleicht trugen sie nur Waffen, weil sie überall Waffen tragen, und vielleicht war der Speer nur ein Scherz, außer dass der Mann, der ihn trug und ein Kojotenfell und Büffelhörner trug, auch ein bekannter Extremist ist, der gedroht hat, den Vizeprä-sidenten »vor Gericht« zu stellen. Aber vielleicht war auch das nur ein Scherz. Das Wort »Coup« impliziert normalerweise eine koordinierte Anstrengung. Aber Trump koordiniert sich nie mit jemandem. Trump hat ihnen gesagt, sie sollen gegen das Kapitol marschieren, aber hat er das wirklich ernst gemeint? Sie – viele von ihnen Mitglieder des Militärs und der Polizei – befolgten seine Befehle. Aber an welchem Punkt haben sie entschieden, dass sie seine Befehle ernst nehmen? Wann hörte es auf, ein großes Spiel zu sein – eine Fortsetzung eines Online-Spiels – und wurde Realität? Die wirkliche Innovation des Trumpismus ist, dass es unmöglich ist diese Frage zu beantworten. Es ist immer Überreaktion zu behaupten, dass die Trumpianer bereit sind, einen Putsch zu starten und immer auch Unterreaktion, zu meinen, dass es sich nur um einen Haufen von Worten handelt. Milan Kundera hat angedeutet, dass eines der Merkmale des Stalinismus war, dass er alles ernst nahm und die Menschen die Bedeutung von Witzen vergaßen. Beim Trumpismus wird nichts, was der Führer sagt, ernst genommen, und alles scheint ein Witz zu sein. Meint Trump, was er sagt? Lügt er uns ins Gesicht? Auf einer gewissen Ebene sind solche Fragen nebensächlich. Ein Clown scherzt, auch wenn er es ernst meint. Ein:e Schauspieler:in lügt auch dann, wenn er:sie aufrichtig ist. Die Politik als einen großen komischen Akt zu behandeln … unerhört!? Ja und nein.

Die politische Sphäre

Politik, wie auch die sie umgebende Unterhaltungsindustrie, basiert auf der Macht der Illusion. Der Begriff der Politik selbst ist historisch entstanden, als der Raum, die Lebenssphäre, die für die Behandlung von Fragen des Staates und des Rechts eingerichtet wurde, im Unterschied zu anderen Sphären, die dem »privaten« und »sozialen« Leben vorbehalten sind. In der sozialen und privaten Sphäre arbeiten wir Beziehungen zwischen Menschen aus. In der politischen Sphäre beschäftigen wir uns mit Beziehungen zu etwas, das wir nicht sehen oder fühlen. Wir sehen den Staat in Form von politischen Repräsentationen, und diese Repräsentationen müssen die soziale Realität nicht genau widerspiegeln, um wirksam zu sein. Trump hat diese grundlegende Trennung der politischen Repräsentation von der sozialen Realität vollzogen, aber diese Autonomie der politischen Sphäre ist nicht einzigartig für den Trumpismus. Sie ist auch eine Säule des Liberalismus, für den Freiheit in der politischen Sphäre gleichbedeutend ist mit dem Widerwillen, gegen Unterdrückung in der privaten und sozialen Sphäre einzuschreiten. Auf andere Weise war die Autonomie des Politischen ein Pfeiler des Faschismus, der grandiose Repräsentationen in der politischen Sphäre und aktive Herrschaft in allen anderen Sphären bot. Der Trumpismus folgt dem Faschismus, indem er Größe als rein politische Repräsentation verspricht, aber er unterscheidet sich vom historischen Faschismus in der Art und Weise, wie er Repräsentationen arrangiert. Wenn Mussolini ein Rhapsode war, der Epen der Starken sang, ist Trump ein Komödiant, der die Schwachen lächerlich macht. Die Leute lachen, um zu beweisen, dass der Witz nicht auf ihre Kosten wirkt. Einige Eliten der Demokratischen Partei machten sich ihrerseits über Trump lustig, weil er nur so tat, als sei er Milliardär. Sie erkannten nicht, dass dies Teil seiner Anziehungskraft war. Ein falscher Milliardär – das übertriebene Spektakel eines Milliardärs, der von Gold, Supermodels und Pornostars umgeben ist, das Bild eines starken weißen Mannes, der tun kann, was er will – ist für die Öffentlichkeit akzeptabler als ein echter Milliardär, der mit unbewegter Mine und rechtschaffenen Worten von der Arbeit anderer lebt. Während traditionelle Mitte-Links-Politik die moderate Umverteilung von echtem Reichtum anbietet, sorgfältig berechnet, rational investiert und langweilig, bietet Trump ein Bild von Reichtum, durch das die Massen indirekt verbotene Vergnügen erleben können, die weit größer sind als jede reale Verteilung, die angeboten wird. Aber wir sollten uns vor Aufrufen hüten, die »Wahrheit« als Gegengift zu Trumps Lügen hochhalten. Soziale Emanzipation kann Wahrheit nicht als bereits gegeben hinnehmen. Die ganze Herausforderung besteht darin, die soziale Realität in all ihrer Mehrdeutigkeit in die Sphäre der poli-tischen Repräsentation zu bringen, die Politik zu zwingen, sich mit ebenjenen Problemen der sozialen Welt zu befassen, die Politiker:innen so sehr zu meiden versuchen. Was Joe Biden bot, war schließlich auch in erster Linie ein Image. Wenn Trumps Wähler:innen sich mit dem Bild eines rücksichtslosen Tyrannen wohlfühlen konnten, konnten sich Bidens Wähler:innen mit dem Bild eines anständigen, verantwortungsbewussten und moralisch aufrechten Staats-mannes identifizieren – und dank Trumps vierjähriger Wahnsinnsherrschaft hat das alte und langweilige Establishment noch nie so attraktiv ausgesehen. Aber das Establishment hat noch keines der Probleme gelöst, die Trumps Revolte so attraktiv gemacht haben. Warten wir mal darauf, zu sehen, was sich hinter dem neuen Image verbirgt.

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von Karl Reitter

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorweg klargestellt, dass es zahlreiche Menschen christlichen Glaubens gibt, die sich sozial und humanistisch engagieren. So beteiligten sich viele katholische Organisationen am Appell, endlich Flüchtlinge aus ihren unzumutbaren Bedingungen zu retten und ihnen in Österreich Asyl zu gewähren. In vielen gesellschaftlichen Bereichen gedeiht die Zusammenarbeit zwischen christlichen und marxistischen Kreisen ausgezeichnet und ist von gegenseitiger Achtung und Respekt bestimmt. Diese kleine Geschichte handelt aber von einer ganz anderen Spezies, den Katholiban. Statt christlicher Nächstenliebe wird die Gewöhnung an hässliche Bilder gepredigt und es gilt ehern das Bibelwort »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus)« (Eph 5,22). Wir müssten ihnen eigentlich keine besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn sie nicht zu den Einflüsterern im Bundeskanzleramt zählen würden. Hier der Report über ihren Aufstieg in der ÖVP in fünf Akten.

Eins: Der Messias erscheint

Im Mai 2017 erklomm er endgültig das Lampenlicht der Öffentlichkeit. Sebastian Kurz wurde Bundesparteiobmann der ÖVP. Gut unterrichtete Kreise behaupten, der junge Feschak sei von der alten Garde der Katholiban gepusht worden. Allen voran vom Ehepaar Schüssel, wobei Krista Schüssel dem Vernehmen nach eine sehr spezifische Rolle spielte.

Zwei: Wo ein Messias ist, sind die Katholiban nicht weit.

Als Weggefährte der ersten Stunde ist Bernhard Bonelli zu nennen, Kabinettchef im Bundeskanzleramt. Und da großen Geistern Österreich oft zu beschränkt ist, betreut er ebenso das International Catholic Legislators Network (ICLN), ein Netzwerk von Politiker:innen des wahren Glaubens. Ursprünglich hieß Bonelli mit seinem Taufnahmen Adametz, nahm aber bei seiner Hochzeit den Namen seiner Braut an. Als Trauzeuge fungierte niemand Geringerer als Sebastian Kurz. Dieses Sakrament der Ehe dürfte unter dem besonderen Schutz der Heiligen stehen, seine Angetraute ist nämlich die Cousine von Raphael Maria Bonelli, der sich selbst bescheiden als »Neurowissenschaftler, Psychiater, Buchautor sowie Vortragender« (www.raphael-bonelli.com) bezeichnet. Raphael M. Bonelli widmet sich nicht nur besonders der Heilung von Homosexuellen, sondern erklärt auch einfühlsam und populär: »Warum Gender-Mainstreaming Männer kastriert und Frauen frustriert«. So viele Bonellis, da ist Verwechslung vorprogrammiert. So erklärte der Weggefährte des »Heilsbringers« (bürgerlicher Name Kurz), Bernhard Bonelli, auch überzeugend, nicht er, sondern sein Cousin Raphael Bonelli sei Mitglied bei Opus Dei, zu Deutsch beim Werk Gottes. Zu weiteren Vertreter:innen dieses Spezies zählt neben Dr. Gudrun Kugler, die es allerdings nur bis in Parlament schaffte, auch Mag.a Aleksandra Ledóchowski, der der Sprung vom Bundesministerium für Familien und Jugend in das Bundeskanzleramt gelang. Auch den Namen Ledóchowski sollten wir uns merken. Denn ihr Ehegatte Jan Ledóchowski zählt zweifellos zu den umtriebigsten Vertreter:innen: So soll er nicht nur regelmäßig in Rom gesehen werden, er hatte auch die Ehre, als langjähriger Präsident der Plattform Christdemokratie ein Gespräch mit dem Gründer des Gebetshauses in Augsburg, Johannes Hartl, zu führen. Dieser erklärte im lockeren Plauderton: »Im Christentum ist eine dialogische Grundstruktur enthalten. Es ist kein Zufall, dass das Christentum so gut mit Demokratie zusammen funktioniert und im Wesentlichen nur christliche Staaten Demokratien entwickelt haben.«1 Ja, die Gesprächskultur der Inquisition oder die Überzeugungsarbeit gegenüber Ketzern und Andersgläubigen muss schon gewürdigt werden, auch wenn der Dialog manches Mal etwas einseitig verlief.

Drei: Harte Prüfungen für die Rechtgläubigen

Die für ihre Ehrlichkeit und Offenheit bekannte ÖVP führte bei der letzten Wien Wahl im Oktober 2020 ein internes Prozedere der Vorzugsstimmen ein. Und tatsächlich, die beiden Katholiban Jan Ledóchowski (Plattform Christdemokratie) und Suha Dejmek-Kahlil (Freikirchen) bekamen 1.758 sowie 1.168 Vorzugsstimmen, was vom Institut für Ehe und Familie (www.ief.at) als »fulminantes Ergebnis« gefeiert wurde. Nur so zum Vergleich: Die ÖVP brachte es auf 148.238 Stimmen. Immerhin über 1 Prozent für Ledó-chowski. Nach dem Triumph folgte die Schmach. Die nach der Wahlordnung vorgereihte Antonia Heiml war jedoch nicht bereit, zurückzutreten und pfiff auf das vorher von ihr unterschriebene Fairnessabkommen, welches das parteiinterne Vorzugsstimmensystem über das der Gemeindewahlordnung stellt. Ihr kommendes Schicksal beim Jüngsten Gericht ist noch ungewiss, Tatsache ist nur ihr Ausschluss aus der ÖVP. Aber Ehre dem Gerechten: Ledóchowski wurde Sprecher für Christdemokratie des Landtagsklubs der ÖVP Wien und kommentierte seinen neuen Job mit Sendungsbewusstsein eines Vertreters des Herrn auf Erden: »Sprecherrollen werden im Normalfall nur von verdienten Gemeinderäten wahrgenommen. In die-ser Funktion kann ich für all die Anliegen eintreten, die so vielen von uns wichtig sind und in vielerlei Hinsicht wirkungsvoller, wie als einfacher Gemeinderat«. (www.ief.at) Über die finanzielle Regelung ist leider nichts bekannt, aber irgendwie wurde der Verlust seines Einkommen aus dem verweigerten Gemeinderatsmandat wahrscheinlich schon ausgeglichen.

Vier: Endlich, Gebete auf höchster Ebene

Im Dezember letzten Jahres war es dann sei weit: Es wurde im Parlament gebetet. Dem wahren Charakter unseres schönen Landes wurde endlich Rechnung getragen. Aufklärung hin, Laizismus her, was soll’s?, die Trennung von Staat und Kirche wurde so und so nie konsequent vollzogen. »Österreich ist auf christlichen Werten aufgebaut. Diese Werte können vom Staat nicht per Gesetz erzwungen und per Mehrheitsbeschluss eingeführt oder abgeschafft werden«, sagt Jan Ledóchowski. (Quelle: zackzack.at) Worum sich das »Gespräch mit Gott«, für Nicht-Katholik: innen »beten«, eigentlich drehte, wurde leider nicht bekannt. Gottlose Atheisten waren sofort zur Stelle, um das Ereignis von Stille und Einkehr herunterzumachen. Und das »in einer Krise und im Advent!« so Jan Ledóchowski am 21. Dezember im DerStandard, und setzt fort: »Diese Gebetsfeier steht in einer internationalen Tradition und ist Ausdruck eines entspannten, reifen Verhältnisses zu Glaube und Religion in unserer Gesellschaft.«

Fünf: Wo ein Messias und Gebete, da sei auch ein Seliger

Eine Partei, in der Gläubige des wahren, wirklichen, christlichen Glaubens sich mühsam, aber doch Gehör schaffen können, eine Partei, die einen Messias an ihrer Spitze ihr eigen nennt, das kann keine Partei wie jede andere sein. Den Habsburgern war das Gottesgnadentum sicher, aber müsste es nicht auch in der ÖVP, die ihn ihrem türkisen Gewand endlich zu sich selbst gefunden hat, Rechtgläubige von vorbildlichem Lebenswandel geben? Wer tot ist, kann sich nicht mehr wehren, also fiel die Wahl auf Leopold Figl. Ob für eine Seligsprechung tatsächlich noch immer Wunder des Verstorbenen nachzuweisen sind, dürfte angesichts der geringen Auskunftsfreude des Vatikans schwer zu eruieren sein. Der Märtyrertod scheidet wohl aus, aber ein »heroischer Tugendgrad« (heroicitas virtutum) wird sich schon nachweisen lassen. Laut Wikipedia sollen bei einer Seligsprechung »etwa 250.000 Euro an Kosten« anfallen. Daran dürfte es wohl nicht scheitern. Es keimt jedoch ein schlimmer Verdacht auf: Es wird sich bei den Katholiban doch nicht gar um eine Parallelgesellschaft handeln?

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