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Die chilenische Gesellschaft entdeckt wieder die Empathie. Aktivist*innen von Chile des­perto in Wien berichten über Hintergründe der aktuellen Umwelt- und Protestbewegung in Chile.

Von ALEXANDER STOFF

Die gegenwärtige Protestbewegung in Chile hat ihren Ausgang genommen, als Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr protestierten. Doch schnell hat die Bewe­gung auf den Rest der Gesellschaft überge­griffen und die Forderungen haben sich dabei vervielfältigt. Nach einer Verschnauf­pause über die Weihnachtsfeiertage, an denen die Menschen ihre Kräfte sammel­ten, gehen heute immer noch viele auf die Straße, inzwischen besser organisiert, so Gabriela Jorquera. Neue, kreative Protest­formen sollen zeigen, dass die Menschen füreinander einstehen. Auf Plätzen und Straßen wurden etwa große Tische aufge­stellt und Gemeinschaftsessen veranstaltet. Im Dezember ist besonders die feministi­sche Bewegung sichtbarer aufgetreten und hat anderen Gruppen der Protestbewegung Raum gelassen, um sich neu zu formieren. So hat sich die Performance »Un violador en tu camino« (Ein Vergewaltiger auf dei­nem Weg) des Kollektivs Las Tesis aus Val­paraiso wie ein Lauffeuer über Chile hinaus weltweit verbreitet.

Breite Proteste

Auch wenn bisher durch die Protestbewe­gung auf politischer Ebene nur bedingt etwas bewirkt wurde und die Regierung mit kleinen Zugeständnissen wie Lohnerhöhun­gen und einer Neubesetzung von Regie­rungsämtern reagiert hat, wurde innerhalb der chilenischen Gesellschaft etwas verän­dert. Die gegenwärtige Protestbewegung führt dazu, dass in den Familien wieder mehr geredet und Empathie stark gemacht wird, sagt Vanessa Saavedra. Der Neolibe­ralismus in Chile hat einen Individualismus hervorgebracht, der den Leuten vermit­telte, dass jede*r es zu etwas bringen könne, solange er*sie etwas leiste. Doch die Menschen erkennen nun, dass dem nicht so ist. Obwohl sie ihr Leben lang in die priva­ten Pensionskassen eingezahlt haben, bekommen die Menschen am Ende nichts heraus. Für Schulbildung und Gesundheits­versorgung müssen sich viele hoch ver­schulden. Auch über Klassenunterschiede hinweg wird heute mehr aufeinander geschaut, stellt Gabriela Jorquera fest. Bemerkenswert ist, dass die Protestbewe­gung sehr breit aufgestellt ist und sich auch Menschen daran beteiligen, die früher für Pinochet waren und kein Problem mit der Diktatur hatten. Die Hoffnung, etwas bewegen zu können, treibt die Leute wei­ter an, auf die Straße zu gehen. Die beschränkten Maßnahmen der Regierung reichen nicht, um die Menschen zufrieden zu stellen, denn sie kämpfen für grundle­gende Veränderungen. In den vergange­nen Jahrzehnten dominierte in Chile eine große Angst vor den Staatskräften. Die Menschen zogen sich ins Private zurück, jede*r kämpfte für sich und wollte Ruhe. Doch »jetzt haben die Leute keine Angst mehr. Sie gehen auf die Straße und wis­sen, sie können angeschossen werden, ihre Augen oder ihr Leben verlieren. Aber sie gehen weiter auf die Straße«, sagt Gabriela Jorquera.

Menschenrechtslage

Die Dynamik der Proteste entwickelte sich bald nach dem Beginn im Oktober 2019 zu einem Ausbruch, bei dem es auch zu Ran­dale und Sachbeschädigung kam. Doch die chilenische Regierung und Staatskräfte rea­gierten darauf mit Gewalt und es kam zu unzähligen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und während des vorü­bergehend verhängten Ausnahmezustandes auch durch das Militär. Mindestens 23 Menschen wurden im Zuge der Proteste getötet, tausende eingesperrt und viele misshandelt, darunter auch Kinder. Neben sexualisierter Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ-Personen durch Staatskräfte wur­den auch Menschen wie in Diktaturzeiten verschleppt, ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt ist. Mittlerweile haben mehr als 350 Menschen ein oder beide Augen verlo­ren, nachdem sie durch Geschoße der Polizei verletzt wurden. Die Regierung leugnet in der Öffentlichkeit, dass Menschenrechte in Chile verletzt werden.

Polizisten, die Menschenrechte verletzen, haben de facto mit keinen Konsequenzen zu rechnen. Regierung und Vorgesetzte lassen den Tätern freie Hand. Die Berichte von Amnesty International und der UN werden durch die Regierung nicht ernst genommen. Juristische Ermittlungen gegen einzelne Polizisten und sogar gegen Präsident Piñera sind im Laufen. Vertreter*innen von Chile desperto erwarten sich internationale und europäische Unterstützung, auch durch die Zivilgesellschaft, und hoffen darauf, dass politischer Druck auf die chilenische Regie­rung ausgeübt wird, damit die Verantwortli­chen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden, so Sergio Patricio.

Was will die Protestbewegung?

Inzwischen richtet sich die Protestbewegung gegen das neoliberal-kapitalistische Regime als Ganzes und eine zentrale Forderung ist der Rücktritt der Regierung des rechtsextre­men Präsidenten Sebastian Piñera. Die Kritik wendet sich auch gegen die Vorgängerregie­rungen, die in den fast 30 Jahren seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet an den sozioökonomischen und politischen Kontinuitäten wie der massiven sozialen Ungleichheit nichts geändert haben.

In den cabildos genannten Versammlungen trifft sich die Bevölkerung und es wird über verschiedene gesellschaftliche Themen debattiert. Schließlich werden Vorschläge zu Papier gebracht, von denen sich die Men­schen eine Lösung sozialer Probleme erwar­ten, und den parlamentarischen Gremien wie dem Kongress vorgelegt. Auch die wäh­rend der Pinochet-Diktatur beschlossene und immer noch gültige Verfassung ist Gegenstand von Diskussionen. Stimmen nach einer neuen Verfassung werden laut. Die Rechte der indigenen Mapuche und ihre Territorien werden aufgegriffen. Dazu kommt der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, besonders Wasser. Die Wasser­versorgung wurde privatisiert und vor allem spanische und transnationale Konzerne haben darauf Zugriff. Diese arbeiten rein profit-orientiert und bringen den Großteil des Wassers außer Landes. Ein weiterer Punkt ist die soziale Sicherheit. Denn in Chile sind die meisten Bereiche privati­siert, was auch als neoliberales Erbe auf die Diktatur zurückgeht. Soziale Versor­gung erhält nur, wer es sich leisten kann, und lebenswichtige Bereiche wie das Bil­dungs- und Gesundheitswesen sind extrem teuer.

Die Protestbewegung richtet ihre Kritik auch gegen die manipulative Berichter­stattung der bürgerlichen Medien in Chile. Gezeigt werden Bilder von ausge­brannten Autos und Zerstörungen, was nur Randphänomene bei den Protesten sind. »Es wird immer die Seite der Polizis­ten gezeigt. Verletzte Polizisten werden mit Kameras im Spital besucht. Aber die­jenigen, die ihre Augen verloren und 60 Schrotkugeln im Körper haben, werden nicht besucht und gefilmt«, sagt Gabriela Jorquera. Auch versuchen Medien, alte Ängste vor einer kommunistischen Ver­schwörung aus Venezuela und Kuba zu schüren. Regierungsvertreter*innen hat­ten zuvor behauptet, Außerirdische und eine koreanische Popband seien verant­wortlich für die Proteste. Doch all dies wirkt nicht, denn die Menschen auf der Straße lassen sich von solchen absurden Vorstellungen nicht beirren.

Jorquera stellt fest, dass Angehörige von indigenen Gruppen wie den Mapuche jetzt anders wahrgenommen werden. Es gibt mehr Selbstbewusstsein bei Indige­nen, und die Protestbewegung erklärt sich solidarisch mit ihren Forderungen. Wo früher ein abwertender Blick auf »schmutzige« Indigene vorhanden war, wird heute anerkannt, dass in Regionen, wo die Mapuche leben, für die Umwelt gesorgt wird – das Wasser ist sauber, die Fischbestände bleiben erhalten und die Wälder werden nicht gerodet. Bei den Protesten wird auch ein anderer Umgang mit dem kolonialen Erbe sichtbar, denn Denkmäler von spanischen Konquistado­ren und Heeresführern werden in vielen Städten niedergerissen oder verhüllt.

Solidarität

Sergio Patricio ist selbst noch während der Diktatur aufgewachsen und hat den politischen Übergang zur bürgerlichen Demokratie miterlebt. Er erinnert sich an ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seiner Generation. Im Moment hat Sergio Patricio Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen in Chile Veränderungen erreichen können. Dennoch ist die Situation schwierig, da Nachbarländer in der Krise sind. So gab es in Bolivien einen Putsch gegen Evo Mora­les. Für Sergio Patricio ist es eine erschre­ckende Erfahrung, nach der Diktatur ein zweites Mal in seinem Leben schwere Men­schenrechtsverletzungen mitansehen zu müssen: »Für uns ist es wirklich wie ein zweites Trauma.«

Chilen*innen im Ausland, die sich über das Internet informierten und sich wegen der Gewalteskalation Sorgen machten, haben sich mittlerweile in 30 Ländern zusammengefunden und begonnen, sich zu vernetzen, um auf die Situation in Chile aufmerksam zu machen. Eine der Gruppen von Chile desperto ist auch in Wien tätig. Im Vergleich zu anderen Städten wie Bar­celona und London ist die Gruppe in Wien allerdings von überschaubarer Größe. Den­noch konnten auch hier Aktionen wie eine Demonstration und Trauerkundgebung organisiert werden, an denen mehrere hundert Menschen teilgenommen haben. Für die nächste Zeit sind verschiedene Aktivitäten geplant wie eine asamblea (Ver­sammlung), Filmabende und eine Veran­staltung über Militär und Polizei in Chile. Am internationalen Frauentag, am 8. März, soll die Performance von Las Tesis noch einmal in Wien aufgeführt werden.

Nach einem Großbrand in der Stadt Val­paraiso zu Weihnachten sammelte der Ver­ein der chilenischen Community in Öster­reich, der keine politischen Ziele verfolgt, Geld für Nahrung, Materialien und Ärzt*innen und schickte es nach Chile. Über berührende Momente bei Chile desperto sagt Gabriela Jorquera: »Es war schön, wie Menschen aus der älteren Generation von Chilen*innen auf uns zugekommen sind und meinten: Wir haben eigentlich gedacht, dass der Kampf mit uns sterben wird. Wir haben die Diktatur überlebt, sind ins Exil gegangen und haben Solidaritätsar­beit geleistet. Mit Tränen in den Augen haben sie gesagt, dass es schön zu sehen ist, dass es noch eine andere Generation gibt, die weitermachen wird.«

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Die Erderwärmung als Herausforderung für Naturwissenschaften, Politik und Alternativen.

VON LUIS CORTÉS BARBADO

In den letzten beiden Jahrzehnten herrschte in den Naturwissenschaften nahezu uneingeschränkter Konsens zu den Kernaussagen den Klimawandel betreffend. Dieser Konsens wird im fünften Bewer­tungsbericht des Zwischenstaatlichen Expertengremiums für Klimaänderungen (IPCC) zum Ausdruck gebracht: Die Erder­wärmung ist real, es ist höchstwahrschein­lich, dass ihre Hauptursache in menschli­cher Aktivität liegt und dass sie schon in nächster Zukunft starke negative Auswir­kungen auf Mensch und Umwelt haben wird. Den Temperaturanstieg auf unter 2 °Celsius zu senken ist unvermeidbar, sol­len die schlimmsten Katastrophenszenarios verhindert werden. Außerdem stehen uns nur mehr zwölf Jahre zur Verfügung, um jene Schritte zu unternehmen, die notwen­dig sind, um die Treibhausgasemissionen drastisch zu verringern.

Obwohl wesentliche Erkenntnisse über den – durch Gasemissionen infolge mensch­licher Aktivität verursachten – Treibhaus­effekt vorliegen, die weiten Teilen der Bevölkerung auch relativ gut bekannt sind, gibt es andere wichtige Aspekte, über die ein breites Publikum wenig weiß. Ich möchte hier auf zwei wichtige hinweisen.

Irreversible Treibhausgasemissionen

Wenn wir die Emissionen verringern oder sie gar ganz abstellen, kann es uns gelingen den Temperaturanstieg zu verlangsamen oder ihn sogar aufzuhalten; aber alle Ver­änderungen, die wir letztlich herbeiführen, werden für lange Zeit irreversibel sein. Sind die Treibhausgase einmal in die Atmo­sphäre gelangt, verfügen wir über keine bekannte Methode, sie auf effiziente Art und Weise zu beseitigen; weder gibt es eine natürliche Möglichkeit noch kann dies unter Einsatz der heute bekannten techni­schen Hilfsmittel noch mit jenen, die in der nächsten Zukunft entwickelt werden, gelin­gen.

Selbstverstärkender Temperaturanstieg

Der Temperaturanstieg kann sich ab einem bestimmten Punkt auf unkontrollierbare Weise selbst verstärken; dies deshalb, weil es unter den Folgen des globalen Tempera­turanstiegs einige gibt, die die Temperatur noch weiter steigen lassen. Der Gehalt an Wasserdampf (einem natürlichen Treib­hausgas) in der Atmosphäre nimmt zusam­men mit der Temperatur zu. Das Schmelzen des Eises in den Polargebieten führt zu einer höheren Absorption an Sonnenlicht und in der Folge zu mehr Erwärmung. Das Auftauen des Permafrosts setzt große Men­gen an Methan (einem weiteren Treibhaus­gas) frei. Das Ausmaß und die Ausbreitung von Waldbränden aufgrund höherer Tem­peraturen tragen durch die Verbrennungs­prozesse zu Treibhausgasen bei und zerstö­ren die Wälder, die CO2 absorbieren. Ein derart sich selbst verstärkendes Katastro­phenszenario, würde – ungeachtet, ob wir es schaffen, die menschengemachten Emis­sionen zu stoppen – den Temperaturanstieg nicht verhindern, selbst wenn die Expert* innen des IPPC proklamieren, dass dies mit seiner Absenkung des Temperaturanstiegs auf unter 2 °Celsius erreicht werden könne.

Politische statt wissenschaftlicher Herausforderung

Alles, was die Naturwissenschaften sagen mussten, ist bereits gesagt. Sie werden uns weiterhin neue Dinge sagen und als Werk­zeug erhalten bleiben, die wir sicher brau­chen werden, um die auf uns zukommenden Herausforderungen zu bewältigen. Zum aktuellen Zeitpunkt ist unsere Herausforde­rung aber eine ausschließlich politische.

Die Naturwissenschaften haben genug Material zur Verfügung gestellt, das die Poli­tik schon längst zum Handeln veranlasst haben müsste. Was heute den Klimawandel betreffend als wissenschaftlicher Konsens gilt, wurde von dem Physiker Svante Arrhe­nius Ende des 19. Jahrhunderts als wissen­schaftlich begründete Hypothese aufgestellt, obwohl zum damaligen Zeitpunkt die negati­ven Folgen eines Temperaturanstiegs noch nicht vorhersehbar waren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gewann seine Hypothese mit den Fortschritten, die die Wissenschaft machte, an Plausibilität. Sie überdauerte alle zwischenzeitlich auftauchenden Kontrover­sen, die ihr den Weg verstellten, manche von ihnen aus wissenschaftlicher Sicht berech­tigt, die meisten allerdings falsch und von den Interessen der großen Energiekonzerne geleitet. Bereits 1988 brachte der Physiker James Hansen seine ersten berüchtigten Warnungen über die schädlichen Auswir­kungen der Erderwärmung vor.

Die Vorhersagen treten ein

Aktuell sind wir mit den ersten negativen Auswirkungen der bereits vor Jahrzehnten vorhergesagten Erderwärmung konfrontiert: Massenauswanderungen aus Zentralasien und Zentralamerika aufgrund von Dürren und anderen Veränderungen des Klimas oder die noch immer nicht eingedämmten Waldbrände in Australien sind deutliche Bei­spiele. Es ist wichtig, dass diejenigen, die noch immer Zweifel an den wissenschaftli­chen Vorhersagen haben, Folgendes erken­nen: Vergleichen wir die Vorhersagen der Wissenschaft mit dem, was sich bis 2020 tat­sächlich ereignet hat, können wir feststel­len, dass diese Prognosen äußerst genau waren. Aber selbst wenn die Prognosen wahr werden und eine kritische Situation einge­treten ist, sehen wir aufseiten der herr­schenden Politik und Wirtschaft nur Tonnen an Propaganda, in denen sie ihre guten Absichten bekunden, aber kein konkretes Handeln. Die große Enttäuschung der jüngs­ten COP25-Konferenz ist der letzte Beweis dafür.

Markt vor Klima

Die Erderwärmung ist das beste Beispiel dafür, wie die kapitalistische Ökonomie auf drastische Art und Weise dabei versagt, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Wir wissen, dass es viele weitere Beispiele dafür gibt, etwa die Zunahme von gesellschaftlicher Ungleichheit, die Langle­bigkeit der strukturellen Armut oder die rassistische und sexistische Diskriminie­rung. Während diese Probleme aber von den Sozialwissenschaften behandelt wer­den und dort (oftmals nur vordergründig) kritisiert werden, ist die Erderwärmung unbestreitbar ein Phänomen, das die Natur­wissenschaften angeht.

Wir sollten dieses Faktum als Speerspitze gegen die entfesselte Marktökonomie ein­setzen, die von sich weiterhin behauptet, sie sei überlegen darin, das Schicksal der Menschheit zu lenken. Das bedeutet aller­dings nicht, dass wir alle anderen sozialen Probleme als zweitrangig sehen. Eine Bewältigung des Klimawandels, die den Großteil der Gesellschaft zurücklässt, wäre nicht nur höchst ungerecht. Sie wäre auch unmöglich, da sie die politische Unterstüt­zung und Mobilisierung derjenigen braucht, die am meisten unter den Folgen jenes Wirtschaftsmodells leiden, das wir ändern müssen.

Was soll die Linke tun?

Angesichts der Dimension der Herausforde­rung wissen wir, dass ein vollständiger und schneller Wandel vonnöten ist. Aber diese Forderung auf den Straßen zu rufen, reicht nicht aus, die gesellschaftlichen Kräftever­hältnisse erlauben keine abrupte Kehrt­wende in der nötigen Kurzfristigkeit. Was also tun? Natürlich hat niemand eine Ant­wort darauf. Aber wir können vielleicht auf ein paar Dinge hinweisen, die wir nicht tun sollten. Aufzugeben angesichts dessen, was ein vor uns liegendes tödliches Schicksal ist, ist aus Prinzip keine Option für uns. Auch mag die Rolle des Außenseiters, der die harte Wirklichkeit beklagt und darauf wartet, dass die Dinge nur noch schlimmer werden, so dass sich die Menschen uns anschließen, verlockend klingen. Aber mei­nes Erachtens ist dies genauso falsch. In einer gänzlich verzweifelten Situation sind die Menschen eher versucht, die Sirenen­rufe der extremen Rechten mit ihren ein­gängigen Slogans zu hören als die bittere Wahrheit, zumindest bis es zu spät ist.

Österreich und Spanien: zwei verschiedenen Ansätze der Klimapolitik

Unsere linken Prinzipien über Bord zu wer­fen, nur um ein Programm mit scheinbar grünen Maßnahmen zu unterstützen, das aber bloß das herrschende Wirtschaftsmo­dell weiter stärkt, mag angesichts des Not­stands nicht nach der allerschlechtesten Option klingen. Dies scheint der Weg zu sein, den die österreichischen Grünen mit ihrer Regierungskoalition eingeschlagen haben. Ich möchte jedoch diese Möglichkeit mit jener der gerade in Spanien zwischen der Sozialistischen Partei und der alternati­ven linken Partei von Unidas Podemos ein­gegangenen Koalition vergleichen.

In beiden Regierungsprogrammen kommt den Maßnahmen grüner Politik offenbar ein ähnlich starkes Gewicht zu. Die österrei­chische Regierung wird allerdings den Weg der Steuersenkungen und »Marktanreize« für die Unternehmen, die ökologische Prak­tiken umsetzen, beschreiten; das bedeutet mehr Reichtum und Macht für jene, die dafür verantwortlich sind, dass wir uns in der gegenwärtigen Situation befinden. Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Milliar­däre in Europa ebenso wie deren Reichtum in einem geradezu überbordenden Ausmaß gestiegen, während die übrige Gesellschaft mit einer Krise kämpfte. Sind es wirklich noch mehr »Anreize«, die sie brauchen, um grün zu werden?

Die Regierung in Spanien hat sich im Gegensatz dazu für eine (zugegebenerma­ßen geringe) Steueranhebung für die Spit­zeneinkommen entschieden, um mehr öffentliche Ressourcen für die Umsetzung der notwendigen Politik, auch jener gegen den Klimawandel, zur Verfügung zu haben. Das geht in Richtung Schwächung der Macht der Großkonzerne, um sie in die Hände von demokratisch gewählten Einrich­tungen zu legen. Können Sie erraten, welche Richtung eingeschlagen werden sollte, wenn wir erwarten, eines Tages die Befugnis zu bekommen, die wirklich alternativen Politi­ken umzusetzen, die es eher früher als spä­ter braucht?

Luis Cortés Barbado ist Physiktheoretiker und Mitglied der Kommu­nistischen Partei Spaniens

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Die Beiträge von Dr. HELGA KROMP-KOLB zur Klimaproblematik, die seit Jahren vor der vernichtenden Entwicklung warnt, sind bis­her auf wenig Gehör gestoßen. Hat das Thema im türkis-grünen Regierungsprogramm mehr Gewicht?

Die wissenschaftlichen Aussagen zum Klimawandel sind seit langem eindeu­tig; die Wissenschaft weist spätestens seit 1985 auf die Notwendigkeit einer Klimapo­litik hin, um der Zunahme der Treibhaus­gaskonzentrationen durch Reduktion der Treibhausgasemissionen Einhalt zu gebie­ten. Vergebens. Erst die Schüler_innen, die in Sorge um ihre Zukunft auf die Straße gingen, änderten das Bild. Ganz deutlich in Österreich: Bei den Wahlen 2017 war Klima kein Thema, eineinhalb Jahre später domi­nierte es die Wahlen. Jetzt bemüht sich eine türkis-grüne Regierung, einen für beide Koalitionspartner tragbaren Weg zu finden.

Positive Klimaschutzansätze

Das Regierungsprogramm ist hinsichtlich Klimaschutz vielversprechend: Die Ziele, das Pariser Klimaabkommen umzusetzen, den von der neuen EU Kommission vorge­schlagenen Green Deal zu unterstützen und in Österreich bis 2040 auf Netto Null Treib­hausgasemissionen zu kommen, sind aus wis­senschaftlicher Sicht notwendig und zugleich ambitioniert. Es ist begrüßenswert, dass deren Erreichung die Verantwortung der gesamten Regierung ist, nicht nur bestimmter Ressorts. Das ist nicht nur politisch wichtig – auch der Bundeskanzler wird an der Zielerreichung gemessen werden, nicht nur der Vizekanzler oder die Umweltministerin –, es ist auch inhaltlich gerechtfertigt, werden doch in allen Ressorts Maßnahmen nötig sein, um die Ziele zu erreichen.

In diesem Sinn ist auch positiv, dass zentrale Klimaschutzmaßnahmen über verschiedene Ressorts verteilt sind, nicht alles einer Minis­terin zugeteilt wurde. Dennoch wurde die Zusammenführung einiger Schlüsselbereiche im Umweltressort fortgesetzt – angesichts der fruchtlosen Diskussion über 140 km/h Tempo­limits wahrscheinlich notwendig. Ein im Kanz­leramt angesiedeltes Klimakabinett soll eine zentrale Steuerung der Klimapolitik ermögli­chen. Grundsätzlich ist das begrüßenswert, allerdings hängt seine Wirksamkeit wesentlich davon ab, welchen Stellenwert der Kanzler diesem Kabinett zugesteht. Dazu gibt es der­zeit keine Aussagen und naturgemäß keine Erfahrungswerte.

Steuern – klassisches Politikfeld

Ein ganz zentrales Element jeder Klimapolitik muss eine sozial-ökologische Steuer sein, d.h. eine Steuer, die das tut, was Steuern tun sol­len, nämlich das Verhalten der Einzelnen, von Institutionen und der Wirtschaft steuern, d. h. lenken. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die es einfacher und billiger machen, klimafreundlich zu handeln, als klimaschäd­lich. Das Freisetzen von Treibhausgasen muss etwas kosten, und zwar spürbar. Das trifft alle, die Produkte oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die mit fossilen Energien erzeugt wurden – das sind derzeit praktisch alle. Im Schnitt werden die Mehrkosten für Wohlhabende höher sein als für Einkommens­schwächere, weil diese weniger Leistungen in Anspruch nehmen. Aber selbst geringe Mehr­kosten können für Einkommensschwache eine größere Belastung sein, als hohe Kosten für Wohlhabende. Daher muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass wenigstens ein Ausgleich stattfindet, wenn dies nicht sogar als ein Instrument für die notwendige Umver­ teilung genutzt wird. Dementsprechend sind die lukrierten Steuereinnahmen einzu­setzen. Es gibt verschiedene, auch bereits erprobte Möglichkeiten; welche gewählt wird, hängt von Wertvorstellungen ab und ist eine klassische Aufgabe der Politik.

Angesichts der Langfristigkeit der Auf­gabe – es ist von den nächsten 20 bis 30 Jah­ren die Rede – wäre es vernünftig, bezüg­lich der Ausformung der sozial-ökologi­schen Steuer parteienübergreifenden Kon­sens herzustellen. Soll das Klima noch sta­bilisiert werden, müssen die Emissionen bis 2030 auf die Hälfte und bis 2040 auf Netto-Null gesenkt werden. Da kann man sich kei­nen Zick-Zack-Kurs bedingt durch Regie­rungswechsel leisten. Insofern macht es Sinn, sich dafür zwei Jahre Zeit zu nehmen, wie das im Regierungsprogramm vorgese­hen ist. Tatsächlich sieht das Programm auch vor, die anderen Parteien einzubin­den. Ob das allerdings auch für die Task­force gilt, die zur Ausarbeitung der sozial-ökologischen Steuer vorgesehen ist, bleibt abzuwarten. Wichtig wäre überdies, dass in dieser Taskforce die Wissenschaft sehr stark vertreten ist, sollte es doch um von parteipolitischem Kalkül losgelöste Lösun­gen gehen.

Der Zeitfaktor

Dass die sozial-ökologische Steuer gegen­über den versprochenen Steuererleichte­rungen zeitverschoben umgesetzt wird, lässt allerdings befürchten, dass die zwei Jahre eher der Verzögerung dienen. Ein Kalkül könnte sein, dass der einen Partei die sofortigen Erleichterungen, und der anderen die potentiellen späteren Belas­tungen angelastet werden sollen. Damit würde Österreich, insbesondere der öster­reichischen Wirtschaft, ein schlechter Dienst erwiesen. Je später Planungssicher­heit herrscht und je später die Treibhaus­gasemissionen reduziert werden, desto schneller muss es gehen und desto weniger sozial- und wirtschaftsverträglich wird der Prozess sein.

Das Regierungsprogramm sieht auch ein Klimagesetz mit CO2-Budget vor, d. h. dass festgelegt wird, wieviel Treibhausgase ins­gesamt noch emittiert werden dürfen. Das ist wichtig, weil dieser Ansatz auch dem Pariser Klimaabkommen zugrunde liegt und weil das wissenschaftlich die entschei­dende Größe ist: Der Temperaturanstieg wird primär bestimmt durch die über die Jahre kumulierten Emissionen, nicht so sehr durch die Geschwindigkeit, mit der diese erfolgen. Dass alle Gesetze, Verordnungen, Förderungen etc. auf ihre Kompatibilität mit den Klimazie­len geprüft werden, ist notwendig, es müsste nur auch sichergestellt werden, dass das Ergebnis handlungsrelevant wird.

Das Regierungsprogramm enthält noch eine Fülle sinnvoller und notwendiger Maßnahmen – etwa die klimaneutrale Verwaltung, die Vor­bildrolle der öffentlichen Hand, den raschen Ausbau erneuerbarer Energien und des öffent­lichen Verkehrs, das 1-2-3-Ticket, die dramati­sche Senkung des Flächenverbrauches, usw. Alle wesentlichen Handlungsfelder, die z.B. im Nationalen Energie- und Klimaplan angeführt sind, der als Referenz für die Politik und Gesellschaft von der Wissenschaft ausgearbei­tet und publiziert wurde (Ref-NEKP), sind im Regierungsprogram angesprochen. Einige sind besser gelungen, andere weniger. So sind z.B. die Abschnitte zu Bildung und Forschung wenig innovativ, und auch die grüne Hand­schrift ist kaum erkennbar. Auch zur Einbin­dung der Bevölkerung findet man im Pro­gramm wenig Konkretes.

Druck auf Politik und Systemfrage

Als sehr problematisch müssen die Vorhaben zur fast vorbehaltlosen Digitalisierung angese­hen werden, auch aus Klimasicht. Digitalisie­rung hat ungeheures Potential, die Ressour­ceneffizienz zu steigern, aber noch viel größe­res, den Ressourcenverbrauch zu erhöhen. Damit die Digitalisierung tatsächlich einen Beitrag zu einer nachhaltigen Zukunftsent­wicklung leistet, muss die Entwicklung gelenkt werden. Annehmlichkeiten, die jetzt nieman­dem fehlen, werden, wenn einmal zur Selbst­verständlichkeit geworden, nicht mehr weg­zubringen sein. Hier bedarf es vorausschauen­der Politik mit sehr viel Fingerspitzengefühl und die Einbindung unterschiedlicher Diszipli­nen und Stakeholder.

Ganz entscheidend ist natürlich die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass das Pro­gramm auch umgesetzt wird. Ein wesentlicher Faktor für den Wahlerfolg der Grünen Partei war die Präsenz der Schüler_innen, später auch anderer Gruppierungen auf der Straße. Nur der Druck des Themas hat diese Koalition möglich gemacht. Es wird wichtig sein, dass die Umsetzung des Regierungs­programmes in Hinblick auf die Klima­politik kontrolliert und immer wieder eingefordert wird. Die Klimawissen­schafter_innen werden die Entwick­lungen jedenfalls sehr genau verfolgen. Angesichts der Kräfteverhältnisse in der Regierung und im Parlament muss aber der Druck auf die Politik trotz guten Programmes unbedingt aufrecht erhalten bleiben.

Abschließend sei noch die viel grundlegendere Frage angesprochen, ob die erklärten Klimaziele innerhalb des herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems überhaupt erreichbar sind? Wenn man diese Frage mit »nein« beantwortet, dann muss man sich die Frage stellen, ob eine Ablöse des »Systems« so unmittel­bar bevorsteht, dass man die Lösung der Klimaproblematik auf die Zeit nach einem Systemwechsel verlegen kann, denn die Zeit ist kurz. Dafür sind keine überzeugenden Anzeichen zu erken­nen. Das bedeutet, dass man jedenfalls unter den gegebenen Randbedingun­gen beginnen muss. Setzt man einen ernsthaften Willen voraus, die Klima­ziele zu erreichen, werden sich zwangsläufig Veränderungen im Sys­tem ergeben. Die im Referenz NEKP dargelegte Vision gibt einen Hinweis darauf, wie solche Veränderungen aus­sehen könnten. Sie sind noch viel tief­greifender, wenn man alle 17 nachhal­tigen Entwicklungsziele der UNO (SDGs) mitberücksichtigt. Selbst diese Veränderungen mögen manchen nicht weit genug gehen. Aber von allen der­zeit möglich erscheinenden Pfaden in die Zukunft erscheint der Weg über die Pariser Klimaziele und die SDGs als der erfolgversprechendste. Es wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre sein, die unvermeidba­ren Veränderungen im gesellschaftli­chen Konsens in nachhaltigere Bahnen zu lenken.

Helga Kromp-Kolb ist emeritierte Professorin an der Universität für Bodenkultur, Meteoro­login und Klimaforscherin.

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MELINA KEROU wirft einen Blick auf den von der GUE/NGL, der linken Fraktion im Europaparlament, veröffentlichten »Grünen und Sozialen New Deal für Europa«. Der Plan beharrt darauf, dass Klimaschutz und soziale wie wirtschaftliche Transformation Hand in Hand gehen müssen, soll eine Chance auf Erfolg bestehen.

CO2-Reduktion im Energiesektor

Durch den Vorschlag eines steileren Ziels in Form einer 70%igen Emissionsreduk­tion bis 2030 und einer gesetzlichen Bin­dung von Kohlendioxidneutralität an nega­tive Emissionen bis 2050 kommt der Plan schnell zur Sache: der Forderung, alle Ener­giebereiche in öffentliches Eigentum zu überführen und die Bürger*innen an einer ›Klimaregierung‹ zu beteiligen. Es soll beim Übergang zu einem vollständig auf erneuer­baren Energien fußenden Energiesystem nicht mehr »Wachstum« und Profite für die Eliten der Wirtschaft generiert werden, während für die Arbeiter*innenklasse nur die Misere übrigbleibt. Es soll ein »gerech­ter Übergang« stattfinden, der dem Schutz der Natur einerseits, den Rechten und Bedürfnissen der Menschen andererseits Vorrang einräumt. Daraus ergibt sich alles Übrige: leistbare und verfügbare erneuer­bare Energie mit staatlicher Preisregulie­rung für alle, kostenloser öffentlicher Ver­kehr, die Erfüllung verbindlicher Emissions­ziele, nachhaltige Arbeitsplätze, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen, öffentliche Investitionen in neuartige und effizien­tere erneuerbare Energie, Kohlendioxidab­scheidung und Technologien zur Müllver­wertung.

Unternehmen vs. Klima

Die Hauptfeinde des gerechten Übergangs sind jene 20 Unternehmen, die fossile Brennstoffe erzeugen und für einen CO2-Ausstoß im Wert von fast 480 Milliarden Tonnen, umgerechnet einem Drittel aller Kohlendioxid-Emissionen seit 1965, verantwortlich sind. Dazu kommen die fünf größten fleisch- und milchproduzierenden Unternehmen, die zusammen die jährlichen Treibhausgas (THG)-Emissionen von Exxon, Shell oder BP übertreffen und die Giganten der agrochemischen Industrie, wie z. B. Bayer, die stickstoffhaltige Dünger und Spritzmittel produzieren und für den Großteil des in der Landwirtschaft anfallenden Distickstoffmonoxids (N2O) verantwortlich sind.

Der jedem Vorschlag für ein Klimaschutz­gesetz zugrundeliegende Schlüssel besteht in der »Zähmung« dieser Industriegigan­ten, deren Bruttogewinne bei weitem das EU-Budget übertreffen, das für Klimaschutz vorgesehen ist. Die fünf größten börsen­notierten Unternehmen (BP, Chevron, ExxonMobil, Shell, Total) geben jährlich 200 Millionen Dollar für Lobbying aus, um Klimaschutzpolitik zu verzögern oder offen zu blockieren. Dieser politische Hebel hat ihnen bisher ermöglicht, ihr ›Business as usual‹ fortzusetzen und sich enorme Sum­men via Steuerflucht zu ersparen. Gleich­zeitig wandten sie nur magere Anteile an ihren Gewinnen für Straf- und Kompensati­onszahlungen aufgrund des Verursacher­prinzips und für den äußerst problemati­schen Emissionshandel, und noch geringere für die Forschung im Bereich erneuerbarer Energien auf. Die Wiederaneignung des Energiesektors, eine der lukrativsten Quel­len kapitalistischen Wachstums, kann des­halb nicht ohne die Rücknahme der neoli­beralen Politiken, Regulierungen und Ver­träge erfolgen, die die Grundlage des Vor­gehens der EU bilden. Bezeichnenderweise bestand eine der Forderungen der (aus Institutionen wie der Europäischen Zen­tralbank, der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds bestehenden) Troika gegenüber den von Aus­teritätspolitik und Krisen geschüttelten Län­dern wie Griechenland in der Deregulierung und Privatisierung der staatlichen Wasser- und Energiesektoren. Darin besteht einer der bedeutendsten Kämpfe, mit denen die Linke konfrontiert ist.

Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion neu denken

Ein zweites, den gesamten Grünen und Sozia­len New Deal für Europa der GUE/NGL ebenso wie den Grünen EU-Deal durchziehendes Thema ist die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung der Lebensmittelproduktion. Die von der EU vorgeschlagene »Vom-Erzeuger zum-Verbraucher«-Strategie zielt darauf ab, die Landwirtschaft, den Fischfang und die angeschlossenen Distributionsketten in Rich­tung Nachhaltigkeit umzugestalten, während gleichzeitig der Lebensunterhalt von Bauern und Bäuerinnen und Fischer*innen gesichert ist.

Die damit verknüpften Probleme sind zahl­reich und komplex: Die industrialisierte Land­wirtschaft ist aufgrund von Überdüngung mit Stickstoffdüngern, einem Prozess, der auch die nitratbedingte Verunreinigung des Grund­wassers verursacht, für 75 Prozent der von Menschen erzeugten Distickstoffoxid (N2O)-Emissionen verantwortlich, eines Treibhaus­gases mit einem um ein 300-faches höheren Erderwärmungspotenzial als CO2. Ein Großteil der Feldfrüchte wird zur Verfütterung an Tiere angebaut, um unsere zumeist auf Fleischkonsum abgestellte Ernährung auf­rechtzuerhalten, was wiederum für 25 Prozent der menschengemachten Methanemissionen durch Rinder verantwortlich ist. Zusätzlich dazu setzt der veränderte Gebrauch des Bodens weg von Waldnutzung hin zu landwirt­schaftlicher oder Weidenutzung Kohlenstoff aus der Erde frei.

Umstellung der Eiweißversorgung

Die Förderung organischer, kleinflächiger Landwirtschaft und die Sorge um das Wohler­gehen der Tiere sind löblich. Der von der GUE/NGL vorgelegte Plan berührt ein weiteres heikles Thema: Wie kann ein Wandel in der Eiweißversorgung (»Proteine Transition«) herbeigeführt werden? Die weltweite Bevorzu­gung einer an tierischem Eiweiß reichen Ernährung, in Kombination mit der Bevölke­rungswachstumsrate, ist nicht nachhaltig. Daher wird die Förderung einer gesunden Ernährung, die wenig tierisches Eiweiß ent­hält und aus leistbaren, lokal erzeugten Lebensmitteln besteht, die den transport­bedingten CO2-Fußabdruck möglichst ver­meiden und ohne die exzessive Verwen­dung von Kunstdüngern und Spritzmitteln erzeugt werden, eine ebenso große Heraus­forderung für die kommenden Jahre dar­stellen wie die Lebensmittelüberproduktion und -konsumtion in der westlichen Welt. Wie zu erwarten, sind unsere primären Gegner diejenigen, die die Lebensmittelpro­duktion kontrollieren: die fleisch- und milchproduzierende Industrie, die Giganten der Agrochemie, die für die Lebensmittel­distribution zuständigen Monopole. Ange­sichts des Scheiterns der jüngsten europa­weiten Kampagnen zur Regulierung der auf Glyphosat basierten Unkrautvernichtungs­mittel von Monsanto (jetzt im Besitz von Bayer) wird diese Umstellung alles andere als leicht werden.

Bodenschutz

Der Plan der GUE/NGL schlägt eine Rah­menrichtlinie zum Schutz der Böden vor. Bodenerosion als Folge von durch den Kli­mawandel bedingte unregelmäßige Nieder­schläge und Temperaturmuster verringert ebenso wie die Änderung der Bodennut­zung infolge intensivierter Landwirtschaft und der Stadterweiterung ins Umland die Kapazität des Bodens, als Kohlendioxid­senke zu fungieren, d. h. CO2 zu binden. Die Abnutzung von bereits landwirtschaftlich genutztem Ackerland führt zu niedrigeren Ernteerträgen, wodurch wiederum mehr Dünger eingesetzt werden muss, um die Produktionsziele zu erreichen.

Die Neudefinition von Landwirtschaft als »Versorgung des Ökosystems«

Eine Umstellung auf organische Landwirt­schaft mit nachhaltigen Praktiken wird zu verringerten Ernteerträgen führen, wenn­gleich begleitet von einer Verbesserung der Lebensmittelqualität. Einer Studie zufolge, die für England und Wales ein Modell-Sze­nario erstellt hat, ist im Falle einer Umstel­lung mit einer Verringerung der Ernteer­träge um 40 Prozent und mit einer Reduk­tion der Emissionen um 20 Prozent zu rech­nen. Das gefährdet das bäuerliche Einkom­men, weshalb die Rolle der Bauern und Bäue­rinnen neu bestimmt werden muss, die weni­ger als Lebensmittelproduzent* innen denn als »Dienstleister*innen am Ökosystem« gesehen werden müssen, deren Aufgabe etwa in der Wahrung der Biodiversität, der Anwen­dung von Techniken der Kohlendioxidbin­dung und der Bewahrung und Verbesserung der Boden- und Wasserqualität besteht, wofür sie von der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) belohnt werden sollen. Dafür ist eine radikale Neuorientierung der GAP notwendig, weg von den extensiven und destruktiven monokulturellen Praxen der Vergangenheit, von einem problematischen Förderungssys­tem und der Begünstigung der Konzentration von Ackerland in den Händen von Konzernen und regionalen Monopolen.

Die globalen Folgen berücksichtigen

Der abschließende Punkt des GUE/NGL-Plans sieht eine radikale Veränderung der interna­tionalen Rolle Europas vor. Weg von einem Manager von Freihandelsabkommen, die eine Zunahme von Exporten und steigendes Wachstum zum Ziel haben, und hin zu einem Garanten für Menschenrechte und Wegberei­ter eines weltweiten ›Grünen und Sozial Gerechten Wandels‹. In erster Linie umfasst das den Rückzug aus destruktiven Projekten auf der ganzen Welt, etwas, was der EU der­zeit nicht möglich scheint – siehe das jüngste Scheitern von Bestrebungen, die Investitio­nen von Siemens in die australische Kohle­bergbauinfrastruktur zu verhindern. Der Ruf nach fairen und gerechten internationalen Handelsbeziehungen, die Klima- und soziale Ziele berücksichtigen, erfordert ein Abgehen von Vorstellungen des »unbegrenzten Wachs­tums«, wie sie in den EU-Gründungsverträgen festgeschrieben sind.

Schließlich sind die kühnsten Forderungen jene nach Schaffung des Status des »Klima­flüchtlings« und des internationalen Verbre­chens des Ökozids, die lang erwartete Aner­kennung einer schrecklichen Wirklichkeit, die schon längst menschliche Migrationsmus­ter hervorruft und die Welt, die wir kennen, verändert, wobei die Verantwortung für Ver­brechen gegen die Natur in aller Deutlichkeit dem einzigen, sei es auch noch so verdeckten Verursacher zugeschrieben wird, dem Kapita­lismus.

Melina Kerou ist Senior Scientist an der Univer­sität Wien, Fakultät für Lebenswissenschaften, Department für Ökoge­nomik und Systembio­logie.

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Mein Körper gehört mir – welche oder wer dies glaubt, weiß nichts oder sehr wenig, denn diese Ansage ist purer Mythos.

von LISBETH N. TRALLORI

Die Versuche, den weiblichen Körper anzueignen und ihn für andere Interes­sen auszubeuten, lassen sich über Jahrhun­derte hinweg verfolgen und durchziehen die gesamte westliche Wissenschaftsge­schichte. Nunmehr steht ein Wissen zur Verfügung, mit dem problemlos die Verein­nahmung erfolgen kann und des Weiteren die Vermarktung des Frauenkörpers zulässt. Spricht man von Vermarktung, dann tauchen die üblichen Bilder zu Prosti­tution, Sexismus, Verschleppung und Frau­enverkauf oder zu realer wie auch virtuel­ler Pornografisierung auf (Ekman 2016). Zumal diese Bilder eingerahmt sind von der neoliberalen Ökonomie, welche wiederum auf einem pervertierten Begriff von schein­barer Selbstbestimmung fußt.

Einmal davon abgesehen, zeigen sich patriarchal erhobene Zuständigkeiten über den Frauenkörper ganz deutlich. Im Visier von Medizin, Naturwissenschaften, Biolo­gie, diverser Religionen, konservativer Gesellschaftspolitik steht die weibliche Gebärfähigkeit, ebengleich zum privatim ernannten Freund, Partner, Ehemann.

Einzug in die Warenwelt

Neben diesen androzentrisch zu bewerten­den Ansprüchen, die sich zumeist herr­schafts-ideologisch artikulieren – »es war schon immer so«, »von Natur aus program­miert« oder »du gehörst mir« etc. – stellt sich die Frage, wie kommt es, dass aus bio­logischen Grundtatsachen, wie die eines Köpers, in einer demokratischen Gesell­schaft Waren werden können und der Ein­zug in die Warenwelt gelingt? Seit dem rasanten Aufstieg einer repro-genetisch formierten Biopolitik kennen wir auch die Antwort. Es ist der Technologieeinsatz unter den Bedingungen einer biokapitalis­tischen Verwertungsmaschinerie und Industrie (vgl. Trallori 2015).

Ich möchte daran erinnern, dass bis dahin das menschliche Fortpflanzungs-Potential zu jenen Bereichen gehörte, die eben nicht-marktförmig organisiert waren, vielmehr galt die generative Reproduktion als eine intime Angelegenheit und fern jeg­licher durchökonomisierter Warenwelt. Unter Anwendung repro-genetischer Tech­nologien und unter dem Aspekt der Profit­maximierung gelang der Vorstoß in das Innere des Körpers, zielgerichtet auf menschliche Fortpflanzungsorgane. Dabei handelt es sich nicht nur um die Produk­tion von heterosexualisierten Verhältnis­sen, vielmehr von einer beliebigen, zellulä­ren, technobasierten Aneignung zum Zwe­cke jeglicher reproduktiver Möglichkeiten zwischen allen Geschlechtern. Die Ausdeh­nung des Marktes resultiert auch aus dem Einbezug jener Personengruppen, die vor­mals von der Fortpflanzung ausgeschlossen waren, wie Angehörige der lesbian, gay, bisexual, intersexual bzw. transgender communities. Hochtechnisierte Verfahren zielen auf solche medizinische Interventio­nen, die für den Erhalt von Ovarien und Eierstockgewebe, Spermien oder von embryonalen Zellen zuständig sind. Danach erhalten sie ihren Status als Ware, die im Rahmen von Kliniken, Labors und Gewebe­banken regulär vermarktet werden.

In diesem Zusammenhang sei darauf ver­wiesen, dass es kaum ein Labor auf der Welt gibt, das nicht mit jenen von Henrietta Lacks, einer Afroamerikanerin, stammen­den Gebärmutterzellen bestückt ist und damit handelt (Skloot 2010). Ohne deren Wissen und Einwilligung sind ihre Tumor­zellen entnommen und später patentiert worden. Seither sind diese »HeLa-Zellen« die am häufigsten kommerziell genutzten Körpersubstanzen in der biotechnologi­schen Forschung. Es handelt sich dabei um einen Unternehmenssektor, der stetig zugelegt hat. Derzeit beläuft sich der Gesamtmarkt für menschliches »Biomate­rial« auf schätzungsweise 90 Milliarden US-Dollar (Kunow 2015, 58). Angesichts dieser Tatsachen erhebt sich eine Frage: Was ist eigentlich aus der humanistisch-feministi­schen Grundvorstellung von einer Unan­tastbarkeit des Leibes geworden? Und es ist davon auszugehen, dass diese Frage auch für die kommenden Generationen von Bedeutung sein wird.

Eizellen, Leih- und Mietmütter

Aus feministischer Sicht drängen sich bei­spielhaft zwei relativ neue Märkte auf: der Eizellenmarkt und der Leih- bzw. Mietmut­termarkt. In diesem marktintensiven Ver­wertungszusammenhang zeigt sich die bio­kapitalistische Ausrichtung der Life-Sci­ences-Industrie. Bei dieser Art der Vernut­zung verschwinden faktisch Frauen als Per­sonen hinter repro-genetischen Technolo­gien und biokapitalistischen Interessen, denn aus ihnen werden »Rohstofflieferan­tinnen« für die Fortpflanzungsindustrie. Betrachten wir nur einmal die zum Geschäftsobjekt reduzierten weiblicher Eizellen, die aus einem Frauenkörper erst herausgenommen bzw. operativ entfernt werden müssen, um sozusagen einen »Marktwert« zu erlangen. Eine vitale, repromedizinische Industrie verlangt die fortlaufende Ernte dieser Fortpflanzungs­zellen, die als Rarität auf dem Markt gelten. Der in der englischen Sprache übliche Begriff »Egg-Donation« im Sinne einer frei­willigen Spende kann komplett aus unse­rem Vokabular gestrichen werden, viel­mehr gibt es eine Reihe von ausweichenden Benennungen für die jeweilige marktübli­che Bezahlung, so die sogenannte »Auf­wandsentschädigung« oder Reisekosten- und/oder Hotelkosten-Ersatz etc. Ein unentgeltlicher Deal auf »freiwilliger« Basis ist illusorisch, Eizellen werden im Zuge von gynäkologischen Operationen »kalt« ange­eignet oder günstig eingekauft bzw. auf globaler Ebene gegen Geld erworben.

Auf den internationalen Geschäftsfeldern für reproduktive Körpersubstanzen werden wahre Schlachten um weibliche Eizellen geschlagen, weil diese im Vergleich zu den milliardenhaft vorhandenen und leicht zu gewinnenden männlichen Keimzellen eine Kostbarkeit darstellen. Denn nur in den fruchtbaren Jahren reifen im Körper der Frau insgesamt 300 bis 500 Eizellen zum befruchtungsfähigen Stadium heran (vgl. Werner-Felmayer 2008). Da die Nachfragen wesentlich größer als die Angebote sind, gestaltet sich die Preisbildung gemäß der kapitalistischen Logik in ungeahnten Höhenlagen bis zu 120.000 Dollar – aller­dings gilt dies nur für gebildete, weiße, junge New Yorker Frauen, die sich damit das Studium finanzieren können. Unter einer hinlänglich bekannten Rassifizierung können hingegen Frauen aus Ostländern oder Asien mit einem Entgelt von 500 Euro rechnen. Auf die profitable Ausnutzung sozialer, kultureller und ökonomischer Unterschiede macht der Dokumentarfilm »Google Baby« von Zippi Brand Frank auf­merksam. Der Trend zur ReproduktionsOrganisation mit eigenen Zulieferungs-, Verteilungs- und AbnehmerInnenketten rund um den Globus scheint unaufhaltsam zu sein. Darauf verweisen Reproduktions­firmen wie beispielsweise Global-Art-Klini­ken, die auf dem europäischen Markt, etwa in Rumänien, als auch auf anderen Konti­nenten, so in den USA, in Lateinamerika, Asien und in Ländern wie Israel agieren.

Zudem kommt, dass mit dem Verfahren von »Egg Freezing« für eine gezielte Lebensplanung, speziell für junge Frauen, geworben wird. Ihnen wird die medizini­sche Prozedur zur Eizellentnahme aus ihrem Körper nahe gelegt, um diese in tief­gekühlten Bio-Depots, klarerweise gegen erhebliche Lagerungsgebühren, einzufrie­ren. Nach etlichen Jahren könnte dann, bei Bedarf, noch immer die gefrorenen Eizellen aufgetaut, im Labor fertilisiert, dann mit speziellen Maschinen bebrütet und danach in den Uterus eingesetzt werden. – So jedenfalls die Werbung für ein Verfahren, das auch von Konzernen wie Google oder Apple unterstützt wird.

Verdinglichung weiblicher Körperlichkeit

Klarerweise zeigt sich auch auf den Miet­muttermärkten die rasant vorangeschrit­tene technologische Verdinglichung von weiblicher Körperlichkeit. Auch diese Märkte sind durch enorme Unterschiede zwischen den Preisen des An- und Verkaufs gezeichnet. An weiblicher Armut und Ungleichheit, besonders in den Niedrig­lohnländern, wird profitiert. Die austragen­den Mietmütter verrichten die vielfach unterbezahlte Schwangerschafts- und Gebärarbeit für die reiche Klientel aus der westlichen Welt. Vertragstexte schreiben ihnen den Tagesablauf, Kontroll-Untersu­chungen, sexuelle Enthaltsamkeit, Gefühl­losigkeit und zumeist einen Kaiserschnitt vor – ehe sie das neugeborene Baby ablie­fern müssen. Bei Fehlgeburten oder einem »nicht-normgerechten Baby-Produkt« gehen sie ohnedies leer aus. Insofern ist mit der Vorstellung, dass eine global organi­sierte Mietmutterschaft nichts anderes als schöne Babys und selbstlose Frauen seien, aufzuräumen; die Mietmutterindustrie ist eine rücksichtslose Industrie, deren Kassen vom menschlichen Elend, Täuschung, schlechter Gesundheit und Kindern als Waren anschwellen (Klein 2018).

Im beschönigenden Marketing wird nie­mals auf die ernsthaften potentiellen Gesundheitsrisiken für die jungen Frauen hingewiesen, die als »Trägerinnen der Schwangerschaft« dienen. Vor allem fehlt es m. E. in den öffentlichen Debatten an fundierten Informationen über diese The­matik. Selbst wenn solche Debatten statt­finden, dann bleibt oftmals unterbelichtet, dass es sich um eine eklatante Missachtung von Frauen- und Menschenrechten han­delt, denn Frauen sind menschliche Wesen und keine Waren! So ist auch evident, dass kleinere gesetzliche Korrekturen oder par­tielle Verbote nichts bringen – hier geht es insgesamt um eine komplette Transforma­tion auf den Grundlagen einer neuen links-feministischen Gesellschaft.

Literatur:

Ekman, Kajsa Ekis (2016): Ware Frau: Prostitution, Leihmutterschaft, Menschenhandel, Berlin: Orlanda.

Klein, Renate (2018): Mietmutterschaft. Eine Men­schenrechtsverletzung, Hamburg: Marta Press.

Kunow, Rüdiger (2015): »Wertkörper. Zur Ökonomi­sierung des menschlichen Körpers im Zeichen von Globalisierung und Neoliberalismus«, in: Prokla 178, 51–66.

Skloot, Rebecca (2010): Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks, München.

Trallori, Lisbeth N. (2015): Der Körper als Ware. Feministische Interventionen, Wien: Mandel­baum.

Werner-Felmayer, Gabriele (2008): »Menschliche Eizellen, ein kostbares Gut«, in: Andreas Exen­berger/Josef Nussbaumer (Hg.), Von Körpermärk­ten, Innsbruck: university press, 99–118.

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Warum sollte abseits des Plattform-Kapitalis­mus nicht auch etwas Plattform-Sozialismus möglich sein? Digitale Plattformen des 21. Jahrhunderts könnten dazu dienen, eine Selbstverwaltung auf der Höhe der Zeit umzu­setzen. Große Körperschaften wie Kranken­kassen, ORF oder Unis ließen sich durch alle Teilhabenden autonom selbst regieren.

Von HANS CHRISTIAN VOIGT

Unsere Zeit kennt den Begriff des Plattform-Kapitalismus. Seit Jahren existieren Begriff und Konzept eines Plattform-Kooperatismus. Da wäre es naheliegend, dass ein Begriff des Platt­form-Sozialismus Ausgangspunkt von Debatten wäre. Es gibt ihn nicht. Kein Ansatz, keine Debatte, nicht einmal Neu­gier. Wieso? Hier geht es um die Skizze, was wir unter Plattform-Sozialismus dis­kutieren könnten.

AirBnB, Alibaba, Amazon … bis Zalando: Die ungeheure Organisationsleistung gro­ßer Unternehmen steht heute außer Zweifel. Das gilt auch für eine prekäre Ausnahme im Venture-kapitalisierten Plattform-Kapitalismus wie Wikipedia. All den Plattform-Unternehmen ist das Inter­net die Plattform, auf der ihre disruptiven Geschäftsmodelle aufbauen. Die Realität der herrschenden Plattformen enthält freilich eine Anklage: Wieso so turbokapi­talistisch?

An das Unbehagen sollte die Aufforde­rung geknüpft werden, das Produktions- und Distributionsmittel Plattform anders zu denken als in der herrschenden, zu Gig-Economy und Monopolisierung füh­renden Logik. Wieso nicht etwas mehr als nur alternativen Kooperatismus in der Nische denken. Wieso nicht plattform-sozialistische Organisation von Arbeit, von Produktion, von Dienstleistung durch alle Teilhabenden wagen?

Selbstverwaltung und Resilienz

Vor über hundert Jahren schienen Räte­systeme denkbarer als heute. Selbstver­waltung von Krankenkassen war unmit­telbar vorstellbar, ohne Umweg über Repräsentation via Kammern und Gewerkschaft. Selbstverwaltung ist für die Sozialversicherung immerhin in der österreichischen Bundesverfassung gesetzlich verankert.

Die Umsetzung seit ›45 blieb freilich vom Bild tatsächlicher Mitsprache und Mitbestimmung dermaßen entfernt, dass ein Bewusstsein der Selbstverwaltung für die Masse der Versicherten gar nicht exis­tiert. Eingriffe schwarzblauer Regierun­gen in die Selbstverwaltung werden nicht als die Enteignung wahrgenommen, die sie sind. Wie viel resilienter wäre da eine plattform-sozialistisch selbstverwaltete Sozialversicherung, die Versicherte und für das Unternehmen Arbeitende vereint.

Alle Teilhabenden auf einer Plattform? Was würde die Selbstverwaltungsplattform etwa einer Sozialversicherung zu einer sol­chen konstituieren? Welche Funktionen sollte sie haben? Und nicht nur die der Sozialversicherung, sondern auch jede der öffentlich-rechtlichen Rundfunkorganisa­tion, der Unis, des sozialisierten Teleko­manbieters, Wasser- oder Stromversorgers, der Wohnbaugenossenschaft oder Gemein­debauten, der ÖBB oder der Wiener Linien.

Vier Säulen fluider Selbstverwaltung

Eine Organisation wie die Uni Wien stellt für alle Teilhabenden bereits seit langem Accounts zur Verfügung. Am E-Mail-Korb hängen weitere Funktionen. Die digitale Infrastruktur wird von der Uni selbst gestellt. Die Geschichte des Internets in Österreich hat hier ihren Ausgang genom­men. Über die Jahre und Jahrzehnte kom­men Funktionen hinzu, die am eigenen Benutzer_innenkonto hängen. Spielen wir das weiter und nehmen zusätzlich an, dass alle Teilhabenden das unabdingbare Recht auf einen Account und gleichberechtigten Zugang zu allen zentralen Funktionen der Selbstverwaltung haben.

Als Teilhabende seien definiert, alle Arbeitenden, ob in Produktion oder Ver­waltung, ob unbefristet angestellt oder temporär als atypisch Beschäftigte, alle Nutzer_innen, Beitragszahlende oder ihren Beitrag via Arbeit für die Organisation Leis­tende. Vier Säulen seien als zentrale Funk­tionen der plattformunterstützen Selbst­verwaltungen definiert:

Erstens die Säule der Deliberation: Die Möglichkeit, mit anderen Beziehungen zwi­schen Benutzer_innen-Konten einzugehen, Nachrichten auszutauschen, in Diskussions­foren zusammenzukommen, Arbeitsgrup­pen zu bilden, Dialog zu führen.

Zweitens die der Kontrolle: Das Berichts­wesen wäre entlang der Zeitleiste fluid und nicht auf finanzielle Angelegenheiten beschränkt. Was und in welcher Form, im Sinne von Checks and Balances, zwischen Organisationsteilen und den Teilhabenden an Feedbackschleifen eingerichtet ist, wäre aus der Verfassung abgeleitet, die sich die Organisation selber gibt.

Drittens die Säule, in der strategische Entscheide fallen: ähnlich wie Genossen­schaften, Vereine oder AGs von Zeit zu Zeit Grundlegendes in ihren Generalver­sammlungen zur Abstimmung bringen. Nur dass im Plattform-Sozialismus die Vollversammlung aller Teilhabenden zu jeder Zeit via Plattform über Szenarien abstimmen kann, die zuvor durch die Säu­len eins und zwei gegangen sind.

Viertens die Säule personeller Beset­zungen: In einzelnen anstehenden Fällen ist dazu nicht die Vollversammlung zu bemühen. Ein jeweils per Zufall über die Plattform bestimmtes Wahlpersonen-Komitee von tausend Personen sollte aus den Kandidat_innen auswählen. Die Zufallsauswahl wird durch Quoten struk­turiert, die je nach statutarischer Verfas­sung der Organisation Geschlecht, Ein­kommen, Bildungsabschlüsse, Alter, Region, Funktionen in der Organisation usw. betreffen.

Andere digitale Architekturen sind möglich

Eine digitale Plattform dieser Funktionali­tät mit mehreren Hunderttausend oder Millionen Benutzer_innen-Profilen, wenn wir an die Selbstverwaltung eines ORF oder der Sozialversicherung denken, wäre gleichermaßen revolutionär wie pragma­tisch naheliegend. Sie ist nichts eigentlich Besonderes, gemessen an der Realität bestehender Social-Media-Plattformen. Außergewöhnlich wäre der Zweck: Einmal nicht Disruption bestehender Geschäfts­modelle zur Senkung der Produktionskos­ten und zur Schaffung neuer Monopole, sondern die sozialistische Selbstorganisa­tion von Daseinsvorsorge in vielen großen autonomen Körperschaften und damit mehr Autonomie von Staat und Kapital.

Die digitale Plattform ist die geringere Herausforderung. Die Revolution würde sich in den Beziehungen zwischen Men­schen und Menschengruppen, der Kultur von Organisationen, in den Herrschafts­verhältnissen abspielen. Die Plattform ist schließlich nur Produktionsmittel. Orga­nisationen würden sich dagegen von Grund auf ändern und auf allen Ebenen. Das erklärt sich freilich im Begriff bereits von selbst. Sozialistische Selbstverwaltung ist für sich genommen revolutionär, ob mit digitaler Plattform oder à la neunzehntes Jahrhundert.

Im Plattform-Sozialismus wäre der Demos, der die Herrschaft über die Organi­sation von etwas ausübt, über stetige digi­tale Teilhabe konstituiert, nicht über reprä­sentative Wahlen alle paar Jahre. Das bedeutet ebenso Hürden wie auch mehr Inklusion. Den digital gap wird es nie nicht geben. Bildung wird immer relevant blei­ben. Abgebaut würden dafür andere Aus­schlüsse. Wenn alle Sozialversicherung Zahlenden automatisch und gleichberech­tigt dem relevanten Demos zugehörten, der über die Selbstverwaltung bestimmt, haben automatisch die staatsbürgerlichen Privile­gien, Migrationshintergrund, Vermögen und Einkommen deutliche weniger Ein­fluss.

Im Binnengefüge der plattform-sozialis­tisch regierten Körperschaft verschieben sich Prioritäten: Eingeführt, ausgeweitet und aufgewertet werden muss die Modera­tion der Vielstimmigkeit. Information muss kuratiert, übersetzt und in aufbereiteten Formen dargestellt werden. Die Form der Kommunikation, das Gespräch, muss sich von exkludierend auf inklusiv verändern. Das Arbeitsfeld der Moderation rückt quan­titativ und qualitativ ins Zentrum der Kör­perschaften. Der Zweck der Selbstverwal­tung strukturiert die Kommunikation. Obwohl auch sozialistische Plattformen soziale Netzwerk-Funktionen wie Twitter oder Facebook haben, geht es auf ihnen nicht um nichts oder alles, sondern um eine greifbare gemeinsame Sache.

Nach außen bekommt diese gemeinsame Sache das Gewicht, das eine Organisation ausspielen kann, die nicht auf Lobbyismus, Klientelverbindungen und Werbung setzen muss, sondern mehrere hunderttausend Nutzer_innen auf einer autonomen Platt­form versammelt. Soll die aktive Teilhabe auf einer Plattform ruhig bei nur drei Pro­zent liegen. Das wären immer noch sehr viele Aktive. Und es würden schnell mehr, sobald es um die allen eigenen Interessen geht.

Autonome und offene digitale Architektur

Selbst wenn die eigentliche Hürde die menschliche Organisation ist, auch die digi­tale Architektur wird nicht über Nacht pro­grammiert werden können. Irgendwo muss ein Anfang gemacht werden. Irgendwann sollte Plattform-Sozialismus bedeuten, dass die Grundarchitekturen unserer Plattfor­men public code sind und dass die Digital­wirtschaft ein völlig neues, bedeutendes Betätigungsfeld gewinnt, in dem es um freie Software vom Server bis zur App, um liquid-feedback-Systeme, um inklusive Architekturen und sorgsamen, sparsamen Einsatz personenbezogener Daten geht.

Sozialistische Selbstverwaltung auf der Höhe des 21. Jahrhunderts kann nur hei­ßen, dass die Teilhabenden die Kontrolle über Daten und Code haben. Die Arbeit von Informatiker_innen und Systemadministra­tor_innen ist hier so zentral wie die Arbeit der Moderation. Es braucht eine eigene Spezialisierung, eigene Server, eigenen Code. Dafür gibt es Vorläufer. Liquid feed­back Software nach dem Konzept von liquid democracy. Dezentrale Social-Media-Archi­tekturen in freier Software. Eine lebendige Tradition der Netzkultur, die gegen Über­wachung und Kommodifizierung kämpft.

Die politische Forderung dazu lautet, dass wir die Körperschaften unserer Daseinsvor­sorge selber verwalten wollen. Das Recht dazu haben wir.

Hans Christian Voigt ist ein Soziologe aus Wien mit besonderem Inte­resse an den Bedingun­gen der Möglichkeit für Dissidenz in sozialen Systemen (und erhöh­ter Aufmerksamkeit dafür, welche gesell­schaftlichen Verschie­bungen die digitale Revolution für Lohnab­hängige, Arbeitneh­mer_inneninteressen und die Organisierung der Arbeiterklasse bedeutet).

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Im spanischen Baskenland sitzt mit Mondra­gón eine der wohl größten ArbeiterInnen ­kooperativen der Welt. 80.000 Menschen arbeiten für sie.

CHRISTIAN KASERER war für einen Lokalaugenschein vor Ort.

Seit die Arbeit am aktuellen Buchprojekt über selbstverwaltete Betriebe und Projekte begonnen hatte, war klar, der Besuch im Baskenland wird ein ganz besonderer Höhepunkt all dieser Reisen werden. Nicht nur, dass im kleinen Ort Mondragón die gleichnamige ArbeiterIn­nenkooperative »Mondragón Corporación Cooperativa« ihren Sitz hat – immerhin ein Betrieb mit etwa 80.000 Arbeiterinnen und Arbeitern. Sondern auch, weil der Region im Norden Spaniens in ihrer wun­derbaren Natur und historischen Bedeu­tung ein einzigartiger Charakter inne­wohnt. Die Basken gelten als ältestes Volk Europas, ihre Geschichte jedoch ist geprägt von Fremdherrschaft und letztlich auch durch Teilung in ein spanisches und ein französisches Baskenland. Letztere haben seit der französischen Revolution keinerlei Selbständigkeit mehr und ihre Sprache ist, wie für alle regionalen Spra­chen und Dialekte in Frankreich üblich, keine offiziell anerkannte Amtssprache. Anders verhält es sich in Spanien, wo das Baskenland nicht nur eine ausgedehnte Autonomie genießt, sondern auch das Bas­kische als offizielle Verkehrssprache gesetzlich zugelassen ist. Hier blühen gerade in den letzten Jahren die baskische Sprache und Kultur geradezu auf und machen die Besonderheiten der Region innerhalb der iberischen Nation besonders deutlich.

Von Bilbao über Gernika nach Mondragón

37 Bilbao Guggenheim2Entscheidet man sich für eine Anreise in die Region via Flugzeug, so nimmt sich Bil­bao wohl als die naheliegendste Destination aus. Die frühere Industriestadt ist ein Fanal für die Folgen der Deindustrialisierung, aber zugleich auch ein positives Beispiel dafür, wie der vermeintlichen Ausweglosig­keit beizukommen sein kann. Nachdem die Industriebetriebe der unmittelbaren Umge­bung der Stadt abgewandert waren und an allen Ecken Arbeits- und Obdachlosigkeit grassierte, entschied man sich dafür, das Stadtbild grundlegend zu verändern. Bil­bao, auf Baskisch Bilbo, sollte zu einer Kul­tur- und Tourismusstadt werden, und so zog beispielsweise auch das berühmte Gug­genheim-Museum hierhin. Heute ist Bilbao, exemplarisch für das ganze Baskenland, eine wachsende Stadt mit zunehmender Lebensqualität und vielen jungen sowie hochpolitisierten Menschen. Plakate, Sti­cker und Fahnen für die katalanische Unab­hängigkeit beispielsweise findet man an allen Ecken. Bereits in Bilbao finden sich erste Anzeichen, dass Mondragón im Bas­kenland eine relevante Kraft ist. So ist etwa eine der Mondragón Universitäten, dazu später mehr, in der Stadt beheimatet. Das kleine Mondragón mit etwa 22.000 Einwoh­nern, baskisch Arrasate genannt, liegt etwas weniger als eine Stunde östlich, und ist man willens, die Fahrt um eine halbe Stunde zu verlängern und auf halbem Wege nördlich abzubiegen, so erreicht man den wohl berühmtesten Schauplatz des spani­schen Bürgerkriegs: Gernika. 1937 flogen deutsche Einheiten der Legion Condor für die verbündeten Francisten einen der vernichtendsten Luftangriffe des Bürgerkriegs auf das kleine Städtchen, gemeinhin unter seiner spanischen Schreibweise Guernica bekannt, und zerstörten es zu großen Tei­len. Heute erinnert wenig an die Gescheh­nisse von damals und Gernika ist ein pitto­reskes Nest. Mondragón, respektive Arra­sate, steht Gernika in seiner beschaulichen und geradezu romantischen Art um nichts nach und wenig würde auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass hier, nicht einmal im in der Talsohle gelegenen Stadtzentrum, sondern am Hang eines der umgebenden Berge, das Hauptquartier einer global agie­renden Genossenschaft liegen könnte.

»Sehen wir uns zuerst einen Film an«

Blick auf die Mondragon Universitaet in MondragonPassend zur Umgebung ist auch das Gebäude der Genossenschaft bescheiden gehalten. Zierten nicht Name und Logo der Kooperative ein Schild vor dem Eingang, möchte man glatt glauben, es handle sich hierbei eher um ein kleines Bürogebäude. »Habla usted ingles?«, frage ich den Sicher­heitsmann und bereite mich bereits darauf vor, mein schlechtes Spanisch, welches ich die Monate vor der Reise mir anzueignen begonnen hatte, hervorzukramen. »Un poquito.«. Ein bisschen Englisch kann er, welch Glück! Es dauert nicht lange bis uns, meine Lebensgefährtin und mich, Ander Etxeberria, Presseverantwortlicher von Mondragón, freundlich begrüßt: »Bevor wir mit den Fragen beginnen, sehen wir uns doch zuerst einen Film an, ja?« Ein hausei­gener Werbefilm, weshalb nicht? Tatsäch­lich verfügt die Zentrale über ein eigenes Kino und wie Ander erklärt, besuchen jähr­lich über 2000 Menschen die Genossen­schaft. »Einzelpersonen und Gruppen aus allen Teilen der Welt kommen zu uns und fragen, wie wir das hier aufgebaut haben, was unsere Geschichte ist. Leute von Start­Ups aus Californien ebenso wie Mitglieder europäischer Regierungen«, so Ander, bevor er den Film startet. Die 15 Minuten vergehen überraschend schnell und berich­ten uns über den Priester Jose Maria Ariz­mendiarrieta. Er gilt als Gründer von Mon­dragón. Arizmendiarrieta beschloss 1941, im Angesicht all der Zerstörung, die der spanische Bürgerkrieg im Baskenland hin entschloss er sich, mitsamt fünf Ingenieuren 1956 den Betrieb ULGOR zu gründen. ULGOR unterschied sich deutlich vom klassischen Bild eines Industriebetriebs: Wer hier arbeitete, war zugleich auch BesitzerIn und konnte somit gleichberechtigt mitbeckeln sollte. Ziel war es in erster Linie nicht, Kapital zu akkumulieren, sondern Menschen ein Auskommen zu verschaffen und mit dem Gewinn soziale Projekte zu fördern. Heute, über 60 Jahre später, heißt der kleine Betrieb, der den Menschen hier Hoffnung und eine Zukunft bringen sollte, Mondragón und arbeitet, trotz über 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, immer noch nach denselben Prinzipien, welche terlassen hatte, sich nicht nur für die Seel­sorge, sondern auch praktisch zu engagie­ren. Bildung und Mitbestimmung sollten der Schlüssel dazu sein, die Region wieder aufzubauen und überdies die tiefen Gräben zwischen FrankistInnen und Republikane­rInnen zuzuschütten. Dazu brachte er vor allem Jugendliche zusammen und organi­sierte Bildung und Freizeit mit ihnen. In Mondragón gab es dazumal lediglich einen großen Betrieb, welchem gar eine Schule angeschlossen war, die allerdings nur den Kindern der ArbeiterInnen offen stand. Der Priester wollte bewirken, dass die Schule allgemein geöffnet und überdies die Arbei­terInnen ein gleichberechtigtes Mitspra­cherecht im Betrieb bekommen sollten. Letzteres allerdings ohne Erfolg, und so ­­­stimmten, wohin der Betrieb sich entwi­Arizmendiarrieta dazumal aufgestellt hatte.

Wie demokratisch bleiben?

Die Entwicklung freilich ist beeindruckend, aber so eine kurze Präsentation hinterlässt vor allem Fragen, etwa: Wie demokratisch bleiben? »Mondragón ist nicht nur ein Betrieb, sondern sozusagen ein Konglome­rat, ein Zusammenschluss aus verschie­densten Firmen. Sie alle halten sich aller­dings, das ist die Bedingung, an unsere genossenschaftlichen Grundsätze. Wer bei uns arbeitet, der ist auch EigentümerIn und kann gleichberechtigt über die Abläufe im Betrieb mitbestimmen. Unsere Teilfirmen sind vor allem in der Industrie zu verorten, aber nicht nur. Eine riesige Konsumgenos­senschaft, also sozusagen ein Supermarkt, gehört auch dazu. Jene Betriebe, die Teil von Mondragon sind, wählen kollektiv Ver­treterinnen und Vertreter für den ganzen Zusammenschluss, und diese kommen daraufhin in regelmäßigen Abständen zusammen und beschließen, wohin wir uns alle entwickeln sollen. Transparenz, Parti­zipation und das Gemeinwohl stehen dabei immer an oberster Stelle. Den einzelnen Teilbetrieben steht es überdies frei, sofern sie sich demokratisch dazu entscheiden, Mondragon jederzeit zu verlassen und sich anders auszurichten«, so Ander.

Was passiert mit dem Gewinn? »Die Gewinne werden, je nach Beschluss, sozial investiert. Etwa in unsere Universitäten, die wir gegründet haben, damit Menschen – auch ohne mit uns irgendwas zu tun haben zu müssen – studieren können. Oder etwa in Kampagnen für die Umwelt. Es muss jedenfalls der jeweiligen Region, in welcher die Firma lokalisiert ist, zugute kommen. Ein Teil wird natürlich angespart, damit die finanziell erfolgreicheren Betriebe jenen, die aktuell Probleme haben, unter die Arme greifen können. Wir wollen nämlich niemanden bei uns entlassen. Und natürlich ist der Gewinn für die Arbeiterin­nen und Arbeiter da.« Das macht hellhörig. »Jede Person zahlt eine gewisse Summe in die Genossenschaft ein. Sozusagen als Anteil. Gerne auch in Raten. Wenn Perso­nen sich dann dazu entschließen, die Genossenschaft zu verlassen oder etwa in Rente gehen, dann erhalten sie ihren Anteil wieder zurück, jedoch deutlich höher, da der Wert des jeweiligen Anteils über die Jahre, entsprechend des Wachstums der Genossenschaft, gestiegen ist. In der Regel kommt da einiges zusammen.«

Ein spannendes Modell das interessant klingt, aber wie behauptet man sich so im Kapitalismus auf Dauer? »Dadurch, dass wir alle gemeinsam beschließen, was die nächs­ten Schritte sind, bündeln wir unser Wis­sen. Krisen wie etwa die letzte Finanzkrise haben wir somit deutlich besser überstan­den als die meisten anderen Betriebe in unserer Umgebung. Das solidarische Mitei­nander hilft uns da sehr.« In einer neolibe­ralen Welt eine leider geradezu anachronis­tisch anmutende Aussage, die allerdings Hoffnung macht, dass auch andere diesem Beispiel folgen mögen.

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Entfremdung in der heutigen Arbeitswelt scheint als analytischer und politischer Begriff scheinbar verschwunden zu sein. Dies hängt zusammen mit Erosionserscheinungen der klassischen industriellen Produktivkraft­entwicklung (Produktivkraftentwicklung).

Von MARIO BECKSTEINER

Marx beschrieb in seiner Passage zur Werkzeugmaschine, dass der tech­nische Kern dieser Produktivkraftent­wicklung darin bestand, mit Hilfe von Energie einen kontinuierlichen mecha­nischen Prozess der Kraftnutzung zu organisieren, dem die menschliche Arbeitskraft untergeordnet wurde. Die daraus entstehenden Systeme entfrem­deten den Menschen insbesondere auch vom Arbeitsprozess. Wie ich im Folgen­den zeigen werde, sollte man den Begriff der Entfremdung aber nicht aufgeben. Mein Argument ist, dass gerade im Kon­text digitalisierter und informatisierter Arbeitsumgebungen der Entfremdungs­begriff entlang der neuen Produktiv­kraftentwicklung theoretisch wiederbe­lebt werden sollte.

Vorgeschichte

Der Zusammenhang der Entfremdung des Menschen mit der industriellen Pro­duktivkraftentwicklung schien ab den 1990er Jahren unscharf zu werden. Die Unterordnung der ArbeiterInnen unter die Logiken der »großen Industrie« schienen passé und wurden im Produkti­onsprozess durch Formen der indirekten Steuerung der Arbeitskraft ersetzt. In deren Windschatten entwickelte sich Information in einem neuen Gravitati­onszentrum der kapitalistischen Pro­duktivkraftentwicklung, ein Fanal in Hinblick auf heutige Digitalisierungs­techniken. Indirekte Steuerung funktio­niert über unterschiedliche Mechanis­men, u.a. durch handlungsanleitende Informationssysteme. Es entstanden viele Konzepte und »Tools«, die diese Form der Steuerung unterstützten wie zum Beispiel Balanced Scorecards. Ein Strang der BWL, der sich theoretisch und praktisch mit dem Verhalten von Beschäftigten auseinandersetzt (Verhal­tensorientiertes Controlling), formuliert das explizite Ziel: Durch strukturierte und strategische Information soll das »Wollen« und »Können« der Beschäftig­ten verändert werden. Das Rückgrat hierfür sind betriebliche Informations­systeme wie z.B. SAP. Sie waren die ers­ten, tendenziell noch analogen, betrieb­lichen Datenkraken. Tatsächlich wurden damit Phänomene der unmittelbaren Entfremdung gegen­über dem Arbeitsprozess zurückge­drängt. Doch eine andere Art der Ent­fremdung rückte in den Vordergrund, in deren Zentrum Information und die daran gekoppelten Steuerungsprozesse stehen. Die neuen Steuerungssysteme sind darauf angewiesen, dass die Infor­mation von den Beschäftigten zumin­dest hingenommen wird und sie ihre Handlungen daran orientieren. Die Information ist aber geprägt von den Interessen des Unternehmens und der Vorgesetzten und widersprechen oft dem Erfahrungs- und Prozesswissen der Beschäftigten. Damit entstehen unter­schiedliche Phänomene. 1. Beschäftigte entfremden sich gegenüber der »offiziel­len betrieblichen Realität«. 2. Informati­onsbasierte Steuerung konstituiert ein Konfliktfeld zwischen Steuerungsan­sprüchen des Betriebs und den »Realitä­ten« der Beschäftigten. Derartig gela­gerte Steuerung gleicht oft einem per­manenten Kleinkrieg um Wahrheits- und Wirklichkeitsdefinition im Betrieb.

Information als neues Gravitations­zentrum der Produktivkraftentwicklung hebt das hervor, was Marx als die Ent­fremdung vom Gattungswesen bezeich­net. Das Gattungswesen ist bei Marx nicht essentialistisch, sondern es ist der »wahre, weil wirkliche Mensch« (MEW 40, S.574). Wahr und wirklich ist der Mensch, da er von sich aus die Befähi­gung hat, eine Wahrheit über sich und sein Verhältnis zu seiner Umwelt zu konstituieren und darauf aufbauend zu handeln, also SEINE Wirklichkeit zu ent­falten. Und genau darauf zielt die Steue­rung des Wollens und Könnens. Digitale Technologien unterziehen diese Systeme und die Entfremdungstendenzen nun einem digitalen Doping.

Das Doping

Die neuen Techniken und die daraus resultierenden Anwendungen sind für viele undurchsichtig. Anders als mecha­nische Prozesse wie sie früher vorherr­schend waren, entziehen sich digitale Informationstechniken und ihre Pro­zesslogik einer direkten Beobachtung. Diese Systeme basieren auf der Daten­sammlung und einem Prozess, der aus Daten Informationen macht. Daten wer­den in der heutigen Arbeitsumgebung an unzähligen Punkten gesammelt und es entsteht ein permanenter Strom von Daten. Die Umformung dieser Daten in Informationen kann von Menschen nicht mehr vollzogen werden und schon gar nicht in einem permanenten (real-time) Prozess. Deshalb wird Informations ­produktion von algorithmischen Prozes­sen übernommen. Etwas oberflächlich formuliert sind Algorithmen, die aus Big-Data Informationen machen, nichts anderes als (hoch entwickelte) statisti­sche Verfahren. Das, was schon im analogen Zeitalter galt – traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – gilt auch im digitalen Umfeld. Die Auswertung der Daten ist nicht neutral. Die Frage, nach welchen Parametern wann, wo, wie und warum Information produziert wird, ist für betriebliche Machtverhältnisse immer zentraler, denn in die Informationsstruktur schreiben sich die Interessen derer ein, die über die Parameter bestimmen. Während eines Interviews mit einem Digitalisierungsexperten einer Unter ­nehmensberatung fragte ich, was Algo­rithmen machen, und die Antwort war überraschend klar. »Die Grundausrichtung unserer Algorithmen kann man mit Marx beschreiben: G – W – G‘. Alles andere ist funktionale Ausdifferenzierung.« Diese Ori­entierung betrieblicher Informationssys­teme ist nicht neu. Neu ist aber, die gewonnene Information erlangt wegen ihres maschinellen Zustandekommens einen Nimbus der Objektivität. Vormals soziale Prozesse der Dateninterpretation werden technisch geschlossen. Die Infor­mation als zentraler Moment der Verhal­tenssteuerung wird für Beschäftigte damit schwieriger kritisierbar. Nicht sel­ten ziehen sich Vorgesetzte auf den Standpunkt zurück: »Die Zahlen stam­men nicht von mir, sie kommen aus dem System!« Zur maschinellen Informations­konstruktion kommt noch eine weitere Komponente hinzu, die Informationsver­mittlung oder das Mensch-Maschine Interface.

Entfremdungstendenzen

Digitale Technologien verändern die Pro­zesse, in denen Informationen in Betrie­ben weitergegeben werden. Viele soziale Interaktionen wie Meetings, Feedback­schleifen oder oft nur Arbeitsanweisun­gen werden heute durch technische Infor­mationsvermittlung erledigt. Dabei wer­den wiederum vormals soziale Prozesse, aber auch Orte der Aushandlung tech­nisch geschlossen. Dem aber nicht genug, denn auch die äußere Form der Informa­tion verändert sich. Basis dafür sind App basierte Mensch-Maschine Schnittstellen. Alle AnbieterInnen betrieblicher Informa­tionssysteme werben damit, dass Excel-Tabellen oder schriftliche Anweisungen der Vergangenheit angehören und künf­tig animierte Grafiken, Piktogramme oder ähnliche Konzepte einen Großteil des Informationsflusses durchdringen wer­den, auch um den Informationsimpuls aus der Statik der Tabelle o. ä. herauszulösen und besser in die Logik des permanenten Informationsflusses zu integrieren. Dies sind auf den ersten Blick keine großen und durchaus praktisch-funktionale Ver­änderungen. Doch sie haben gravierende Folgen für das Verhältnis zwischen Infor­mationsimpuls und EmpfängerIn. Infor­mationsvermittlung wird mit einer App-Basierung in den permanenten betriebli­chen Informationsfluss eingebaut. Die Zei­ten zwischen Informationsimpuls und der einer gewünschten Reaktion auf den Impuls verringern sich. Piktogramme, (animierte) Grafiken oder ähnliches ver­ringern auch die subjektive Distanz zwi­schen Informationsimpuls und Empfänge­rIn, ebenfalls mit dem Ziel, die Steue­rungswirkung der Information zu erhö­hen.

Zu guter Letzt verändert sich mit der Masse an Daten auch die Struktur der Information, die in den Systemen erzeugt wird. Die Verknüpfung unterschiedlicher Daten ermöglicht Messung des Wirkungs­grades der Tätigkeit von Einzelnen oder von Gruppen im Kontext eines gesamten Produktionsprozesses oder Projektverlau­fes. Dieses Ziel wurde auch früher schon verfolgt, doch nie mit so vielen Daten. Ebenfalls zu beobachten ist, dass immer öfter Forecast-Techniken zum Einsatz kommen. So werden für Prozesse, Pro­jekte u.a. digitale Zwillinge geschaffen, die permanent alternative Szenarien für z. B. Projektverläufe erstellen und Risiko­warnungen ausgeben oder Optimierungs­möglichkeiten vorschlagen. Die Reich­weite der Informationsstruktur und der maschinell erstellten Forecasts überstei­gen dabei das, was eine einzelne Person erfassen kann, und damit kommt die Mög­lichkeit des Widerspruchs weiter unter Druck.

Mit der aktuellen Welle an Digitalisie­rung kann beobachtet werden, wie sich Entfremdungstendenzen, die sich schon früher in der Informatisierung angekün­digt haben, heute ausarten. Damit gerät die Fähigkeit des Gattungswesens Mensch, sich die Umwelt auf mentaler Ebene und daran anschließend auf der Handlungs­ebene anzueignen und selbstbewusst Wirk­lichkeit zu konstituieren, unter enormen Druck. Die Folgen dieser Muster der Ent­fremdung im digitalen Kapitalismus har­ren bisher noch einer eingehenden Erfor­schung, auch über den Bereich der Arbeit hinaus.

Mario Becksteiner ist Arbeitssoziologe und pro­moviert an der Universität Göttingen zu Fragen der Bürokratisierung und Subjektivierung im Betrieb, am Beispiel von Controllingsystemen.

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Nach Herzenslust Wikipedia-Artikel verfas­sen, komponieren, musizieren, Bücher schrei­ben oder Frei Software entwickeln.

Ein Beitrag von FRANZ SCHÄFER.

»Was sind ihre Hobbys?« wird man oft am Ende eines Vorstellungsge­sprächs gefragt. Viele Menschen haben tat­sächlich interessante und vor allem auch recht sinnvolle Hobbys. Linux, das Betriebs­system, das heute auf Milliarden von Ser­vern, Smartphones und auch auf immer mehr Desktops läuft, hat auch als Hobby begonnen. Ein Hobby ist allerdings ein Luxus den sich nicht alle leisten können: Wer als Alleinerzieherin mehrere Jobs braucht, um die Wohnung bezahlen zu kön­nen, hat wenig Zeit für ein Hobby. Was die Hobbys aber zeigen: Menschen sind mit ihrer Lohnarbeit nicht zufrieden. Die wird meist nur als Mittel zum Zweck wahrge­nommen: Damit man Geld hat, um Miete und Essen zu bezahlen. Das Produkt der Arbeit gehört jemand anderem, und selbst der Akt der Produktion wird fremdbe­stimmt. Marx prägte dafür den Begriff »Entfremdung«.

So genannte »Work-Life Balance«

Verräterisch ist dabei auch die Sprache der sozialdemokratisch dominierten Gewerk­schaften. Die fordern gerne die so genannte »Work-Life Balance« und meinen damit, dass neben der stressigen Arbeit (»Work«) auch noch Zeit für Familie, Freunde und Hobbys (»Life«) bleiben soll. Das ist ja grundsätzlich eine gute Forderung, aber sie impliziert halt auch, dass »Work« und »Life« zwei verschieden Dinge sind und dass »Work« eben nicht zum »Life« gehört. Die Entfremdung wird hier als gegeben und unveränderlich vorausgesetzt und die Bull­shit-Jobs als Status-Quo akzeptiert.

Da sind die Konzerne schon einen Schritt weiter: Google gibt den Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, mit 20 Prozent ihrer Zeit für eigene Projekte zu verwenden (Die Ergebnisse gehören dann aber i.a. immer noch Google – wobei Google durchaus auch relativ viel zu Freien/Open-Source Projek­ten beiträgt). Die Firmen haben jedenfalls erkannt, dass die Entfremdung durchaus ein Problem darstellt und Kreativität gefragt ist. Die Management Literatur ist voll mit Methoden zur »MitarbeiterInnen-Motivation«.

First World Problems

Angesichts dessen, was der Kapitalismus sonst noch so anstellt (Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, Krieg), erscheint das mit der »Entfremdung« als »Luxus-Problem«. Aber es gibt doch einen Zusammenhang. Die Überproduktion von unnötigen und schädlichen Produkten hängt halt schon auch damit zusammen, dass die Entschei­dung über die Produkte von denen getrof­fen werden, die sie verkaufen wollen und nicht von denen, die sie herstellen. Auf der anderen Seite taucht in der Diskussion über das Grundeinkommen immer wieder die Frage auf: »Wer wird dann noch arbeiten«? Hoffentlich viel weniger Menschen – denn wir haben genug unnötigen Schrott, den keiner braucht – aber gerade Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft bestreiten müssen, können endlich in Freiheit tätig sein. Nach Herzenslust Wikipedia-Artikel verfassen, komponieren, musizieren, Bücher schreiben oder Freie Software ent­wickeln.

Freie Software wie Linux wird heute zu einem sehr großen Teil in kommerziellen Firmen weiterentwickelt. Der Grund dafür ist, dass selbst große Konzerne es sich kaum mehr leisten können, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Über Freie Software können die großen Firmen de-facto koope­rieren, und Kooperation ist nun mal effi­zienter als Konkurrenz, aber da jede/r den Source-Code besitzt, ist niemand von den anderen abhängig.

Keimform

Aus der Sicht der Programmierer*innen ist das zwar immer noch Lohnarbeit und natürlich immer noch Entfremdung – letzt­lich gibt der/die Chef*in vor, was und wo entwickelt werden soll, aber zumindest »gehört« einem dann die Software – weil sie auch allen gehört. In der Oekonux Dis­kussion (die vor etwa zehn Jahren geführt wurde) unterschied man daher zwischen «Einfach Freier Software« und »Doppelt Freier Software«. Erstere war zwar frei, wurde aber von Unternehmen entwickelt, zweitere von freien Einzelpersonen (als »Hobby«). Wobei es eben gerade der Aspekt, dass Freie Software (die das wich­tigste Produktionsmittel für die Schaffung neuer Software ist) eben auch von Unter­nehmen weiterentwickelt wird. Der Kapita­lismus arbeitet hier an seiner eigenen Überwindung. Freie Software wird daher auch als »Keimform« bezeichnet – etwas, das im gegenwärtigen System keimt und wächst, aber auch schon die Überwindung dieses Systems in sich trägt. Ich denke, es ist nützlich, sich bei allen unseren Forde­rungen auch immer zu überlegen, ob diese Keimformqualität haben oder wie sie gestaltet werden könnten, damit sie diese haben. Bedingungsloses Grundeinkommen ist meines Erachtens eines der wichtigsten Keimformprojekte: Es ist initial durchaus mit Kapitalismus kompatibel, trägt aber seine Überwindung schon in sich. Es greift den Kapitalismus an seinem Kern an: dem Kapitalverhältnis – dass die meisten von uns vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, während wir doch nützlich (siehe die erwähnten Hobbys weiter oben) tätig sein könnten.

Monopole

Dass es so einfach wird, dass wir herumsit­zen und abwarten, bis die Keimform-Pflanze gewachsen ist und dann den Kapi­talismus-Drachen verschlingt, hat damals aber kaum jemand geglaubt. Zehn Jahre nach dieser Diskussion ist Linux und Freie Software zwar deutlich weiterverbreitet. In Smartphones, WLAN-Routern und den allermeisten Servern werkelt ein Linux und viele andere Freie Software. Aber Betriebs­systeme und Anwendersoftware sind heute weniger relevant: Die Dienste wandern in die »Cloud«, werden also wie Gmail und andere Dienste einfach Online im Web genutzt. Und auch das ist schon wieder Schnee von gestern: Zunehmend werden die Dienste in Social-Media Plattformen integriert, und da zeichnet sich ab, dass wohl nur eine einzige übrig bleibt: Face­book. Selbst Google ist mit dem Versuch, ihre G+ Plattform zu etablieren, gescheitert. Das Ganze hebt auch die Entfremdung auf ein neues Niveau: Unsere soziale, menschli­che Kommunikation wird nun selbst zu Ware. Der Kampf gegen die Monopolstel­lungen erscheint damit extrem schwierig. Auf der anderen Seite ändern sich die populären Apps heute oft relativ schnell. Die App, die vor zwei Jahren noch die wich­tigste war, ist nächstes Jahr vielleicht schon wieder überholt.

Kampf gegen Social-Media Konzerne

Ein einfacher Aufruf, diese Netze nicht mehr zu verwenden, wird wohl nicht rei­chen. Ein FB-Account ist heute fast not­wendig, um mit bestimmten Menschen und Gruppen in Kontakt bleiben zu kön­nen. Für uns Aktivist*innen ist die Sache natürlich doppelt schwer: Wenn wir nicht auf FB sind, dann erreichen wir die Men­schen nicht. Aber wenn wir dort aktiv sind, dann setzten wir einen zusätzlichen Anreiz für alle anderen, dort auch einge­loggt zu sein. Alle Versuche, freie und dezentrale Alternativen zu Facebook zu etablieren, sind bis jetzt gescheitert. Kaum jemand kennt Diaspora*, Friendica oder Mastodon. Der Grund ist wohl weniger die Qualität dieser Netzwerke, sondern der Netzwerkeffekt: Solange dort keine Men­schen aktiv sind, besteht auch für andere keine Motivation, dort einzuloggen. Ganz unmöglich erscheint es aber nicht, die Macht von FB zu brechen: Würde ein freies Social-Media Netzwerk eine gewisse Masse erreichen, wären vielleicht andere Konzerne (denen die Macht des Konkur­renten ein Dorn im Auge ist) bereit, ein freies Netzwerk zu unterstützen – nicht um damit direkt Gewinn zu machen, son­dern um die Monopolmacht des Konkur­renten zu verhindern. Die Widersprüche innerhalb der verschiedenen Kapitalfrak­tionen zu nützen, scheint auch hier eine gute Strategie zu sein. Die großen Inter­net-Konzerne aus dem sonnigen Kalifor­nien sind den Rechten in den USA übli­cherweise zu links-liberal/libertär. Was, wenn man sich Fox News ansieht, wohl relativ gesehen stimmen mag. Aus der Befragung von Zuckerberg durch die pro­gressive Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) wissen wir, dass Facebook zum »Fact Che­cking« eine Partnerschaft mit einer Rechtsextremen Medien Organisation namens »Daily Caller« eingegangen ist.

Freie Software-Lizenzen im Zeitalter der Cloud

Die Lizenzen Freier Software legen fest, was man mit der Software machen darf. Die GPL-Lizenz fordert, dass, wer die Soft­ware weitergibt, die Rechte nicht ein­schränken darf. Um zu verhindern, dass Menschen zwar ihre Website damit bauen, dann aber die Software, die hinter der Website verborgen bleibt, nicht weiterge­ben, wurde die AGPL geschaffen. Die for­dert, dass, wer die Software benutzt, muss sie auch zum Download anbieten. Wer die Software verändert und verbessert, muss auch die veränderte und verbesserte Ver­sion anbieten. Wenig erstaunlich ist, dass Konzerne wie Google, die davon profitie­ren, anderer Leute Software für sich zu verwenden, die AGPL hassen wie die Pest.

Digitalisierung

Dank Digitalisierung und der laufenden Fortschritte im Bereich der Künstlichen Intelligenz wird unsere Arbeit bald nicht mehr notwendig sein. Die Notwendigkeit, Zugriff auf Sourcecode, Bauplan, Rezepte und die Eingebauten Algorithmen zu haben, ist wohl in Zukunft weniger eine Frage der Freiheit unserer Arbeit als eine Frage der Kontrolle. Ob diese neuen Tech­nologien uns beherrschen oder ob wir sie kontrollieren. Und diese Kontrolle kann nicht erst entstehen, wenn diese Systeme etabliert sind, sondern muss gemeinsam mit ihnen aufgebaut werden und wachsen. Idealerweise würden wir alle Produzent* innen dazu verpflichten, ihre Baupläne, Sourcecodes, Rezepturen etc. offenzulegen und den Schutz so genannten »Geistigen Eigentums« weitgehend abzuschaffen. Nicht nur würde das die Produktivität enorm erhöhen, sondern auch unnötige Ressourcenverschwendung beseitigen (Dinge müssten nicht doppelt und dreifach erfunden oder entwickelt werden), son­dern es würde uns eben auch deutlich mehr Kontrolle über die Technologien erlauben, die uns immer mehr beherr­schen. Einfacher wäre natürlich, wenn wir PolitikerInnen hätten, die diese Themen verstehen und die im Kampf gegen »Geis­tiges Eigentum« und gegen Kapitalismus auf unserer Seite kämpften. In diesem Sinne sehe ich auch Bündnisse von Pirat*innen und Kommunist*innen als sehr wünschenswert an.

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