Ohne Wohnzimmerdurchsuchungsgenehmigung

von

Selbst in der »stillsten Nacht des Jahreskalender« ist dem Staat Ruhestörung zuzutrauen.

Essay von ROBERT SOMMER

»Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille«, hat Herbert Marcuse im berühmten Jahr 1968 geschrieben. Er meinte einen Bereich der Einsamkeit, in dem sich individuelle Freiheit entfalten könne. Als Empfehlung für die Verdamm­ten dieser Erde funktioniert der Spruch des Philosophen nicht. Die müssen endlich laut werden – vor allem in den Tagen vor der Stillen Nacht.

Die »stillste Zeit des Jahres« klingt, chro­nologisch betrachtet, mit der Stillen Nacht aus. Es ist die Zeit des Advent, in der Begriffe wie Ruhe, Stille, Schweigen Hoch­konjunktur haben, freilich nur in den christlichen Märchen, mit denen die Abris­skalender fürs Folgejahr gefüllt sind. Das sind die wahren – vom Volk freilich nicht allzusehr beliebten – Antiwitze. Kennen Sie den? Das BMW-Management hat sich der »Revolution der Stille« angeschlossen.

Kennen Sie auch den? Die Firma Denzel ist beim Aufstand dabei. Und auch den? Was unterscheidet die Revolution eines zornigen Volkes von der Revolution in der europäischen Kfz-Branche? Erstere blieb noch nirgends siegreich, zweitere hat schon verloren. Unter »leiser bzw. stiller Revolution« verstand Denzel das Projekt, mithilfe einer Kollaboration mit der chine­sischen Automarke BYD Österreich mit Stromern zu überschwemmen, die fünfmal billiger sind als die E-Autos westlicher Pro­duzenten. Österreich sollte demnach heute schon das Elektroautoparadies sein. Aber was ist die Realität? Fast niemand kennt den Namen BYD. Und der BMW-Konzern ist mit seiner »stillen Revolution« noch bla­mabler gescheitert. Die Autozukunft findet ohne BMW statt, wie eine Zeitung sarkas­tisch meldete.

Die Großbourgeoisie war schon immer genial darin, die schönsten Begriffe der deutschen Sprache in ihr PR-Esperanto ein­zuverleiben. Revolutionärinnen und Revo­lutionäre sind gut beraten, wenn sie sich das schönste aller Wörter, Revolution, wie­der zurückholen und auch mit Kategorien der Stille, der Ruhe, des Schweigens und, umgekehrt, auch des Lärms, des Lautseins, des Aufschreies, der Unruhe und der Hör­barkeit aktiver umgehen, weil sie die spezi­fische Qualität revolutionärer Politiken charakterisieren können.

Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille

Das Schweigen kann ein Akt des Wider­standes sein, wenn es demonstrativ, ver­blüffend, konsequent, kompromisslos und massenhaft organisiert geschieht. Ich komme gleich zu einem Beispiel aus der zapatistischen Resistance. Umgekehrt wäre es für die Menschen aus dem sozia­len Rand, stumm gemacht durch eine autoritäre Erziehung, die man besser Dressur nennen müsste, später durch die Abwesenheit entsprechender Lobbys und durch das Fehlen von Plattformen der Interessensvertretung, kontraproduktiv, die Ruhe zu heiligen. So schnell, wie sie am Praterstern, selbstredend in angehei­tertem Zustand, wegen Ruhestörung oder Lärmerregung amtsbehandelt werden, so schnell sind sie später unter einem Fried­hofskreuz verscharrt, auf dem »Ruhe in Frieden« steht.

Herbert Marcuse, Kult-Philosoph der 68er Bewegung, hat die Linken gelehrt, Begriffe wie Langsamkeit, Stille und Schweigen kritisch zu besetzen und für sich zu reklamieren. Er hielt den Lärm für die akustische Begleitung eines im Prinzip gewaltförmigen und destruktiven kapita­listischen Fortschritts, das Bedürfnis nach Ruhe für ein revolutionäres Ferment und Stille für eine wesentliche Qualität einer befreiten Gesellschaft. In einem am Höhe­punkt der StudentInnenbewegung geführ­ten Gespräch »Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit« sagte er: »Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsam­keit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann.« Oskar Maria Graf, der bayrische Schriftsteller, kann aus kalen­darischen Gründen diesen Satz Marcuses nicht gekannt haben, aber er hat vier Jahrzehnte vor Marcuse ebenfalls den Zusammenhang zwischen Lärm und Kapi­talismus wahrgenommen, und seine bay­rische Conclusio lautete: »Mach ma a Revolution, damit a Ruah is!«

Die Mächtigen, obwohl sie uns »Ruhe und Ordnung« befehlen, sind irritiert durch die ironischen Arten der Ruhe, gegen die es noch keine in den autoritä­ren Verordnungen festgelegten Sanktio­nen gibt. Unter welchem Titel hätten sie – nach der Zerschlagung des türkischen Frühlings auf dem Taksim-Platz – jenen bald weltberühmt gewordenen Aktivisten ins Gefängnis bringen können, der nichts anderes tat als zu stehen und zu schwei­gen? Mitten im Herzen Istanbuls versenkte er die Hände in den Hosentaschen und starrte stumm auf die riesigen türkischen Fahnen und das Atatürk-Bild am Atatürk-Kulturzentrum, das der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan abreißen möchte. Videodokumentationen machten den Nicht-Handelnden zum weltweiten Popstar. Die Bereitschaftspolizei hat vom Istanbuler Gouverneur Hüsyein Ali Mutlu Order bekommen, keine weiteren Demonstratio­nen auf dem Taksim-Platz zuzulassen. Man kann ahnen, wie es in den Beamten und ihren Vorgesetzten innerlich brodelte: Ist das eine Demonstration? Darf einer einfach da stehen und in die Luft starren? Sollte man so einen nicht für vogelfrei erklären?

Keine Parolen, keine Rufe, keine Gesänge

Zur oben erwähnten Schweige-Perfor­mance in den Bergen von Chiapas, Mexiko, am 21. Dezember 2012, jenem Tag, der für hunderttausende europäische EsoterikerIn­nen aufgrund ihrer Auslegung des alten Maya-Kalenders das Datum des Weltunter­gangs sein sollte: Wer das im Internet zir­kulierende Video sah, war wohl genauso fasziniert und erstaunt über die 50.000 unbewaffneten, aber in ihren Wollmützen vermummten männlichen und weiblichen AnhängerInnen der Guerilla-Organisation EZLN, wie die neutrale, feindliche oder sympathisierende städtische Bevölkerung, als sie der plötzlich kolonnenweise, parallel in fünf Bezirkshauptstädten auftauchenden Indigenas gewahr wurde.

Der Polizei war die Mobilisierung für diese Dramaturgie des Schweigens – auch Transparente fehlten absolut – nicht gemeldet worden, sie war komplett ver­blüfft und fühlte sich wie ein unfreiwillig als Statistenheer verwendetes Publikum. Die dramatische Regie dieses größten Per­formance der Geschichte Mexikos hatte dafür gesorgt, dass im Zentrum aller fünf heimgesuchten Bezirkshauptstädte höl­zerne Bühnen errichtet worden waren, sodass sowohl Armee und Polizei, aber auch die jeweilige Stadtbevölkerung annehmen mussten, dass es zu Anspra­chen der EZLN-Führer kommen werde. Nichts dergleichen geschah. 50.000 Indios betraten in kilometerlangen Schlangen die potemkinschen Rednerbühnen und waren in diesem Moment der Erhöhung noch schweigsamer als bei ihrem Anmarsch auf die Städte. Keine Parolen, keine Rufe, keine Gesänge wurden ange­stimmt, keine politische Selbstdarstellung klärte die verblüfften Augenzeugen auf (Ohrenzeugen gab es nicht). Lediglich die Flaggen der mexikanischen Nation und die der Guerilla wurden vorneweg herge­tragen. So abrupt das Spektakel anfing, so rasch war es vorbei.

Die Vermummten verschwanden, wie sie gekommen waren, in Richtung heimat­licher Berge und im Bewusstsein, ein herrliches Theater der Stille aufgeführt zu haben, das die von den Eliten abhängigen Medien ganz schlecht aussehen ließ, hat­ten sie doch in den Wochen vorher die Nachricht verbreitet, die Bewegung der Zapatisten hätte sich aufgelöst. In einem Kommuniqué der zapatistischen Kom­mandantInnen hieß es später bloß, an die Repräsentanten der neoliberalen Medien adressiert: »Konntet ihr das hören? Es ist der Klang ihrer Welt, die zusammen­bricht. Es ist der Klang unserer Welt, die wiederkehrt.«

Eine Peinlichkeit im Bierzelt

Der Schreiber dieser Zeilen gesteht, dass er bei Ansicht dieses Videos seine Tränen nicht unterdrücken konnte; ähnliche Emotionen stellten sich später vor dem Tanzboden eines Südostkärntner Feuer­wehrfestes ein. Ein junger Mann mit Down-Syndrom betrat, wie die Indios die Rednerbühne, den noch leeren Tanz ­boden, der bereits von den wie Zillertal-Klone aussehenden generalalpenländi­schen Klischeemusikanten mordsmäßig beschallt war. Der Mann tanzte die ganze Zeit allein, seine Choreografie entfaltete sich in der ganzen Weite und Tiefe der Tanzfläche, auf die sich niemand traute – vielleicht in der Ahnung, dass jeder andere Tänzer (und wohl auch die meisten der Tänzerinnen) neben dem »Mongoloiden«, wie die Dörfler heute noch sagen, sehr höl­zern und sehr akademisch gewirkt hätte. Der Mann stahl jedenfalls den Zillertal- Klonen die Show, was dem Autor dieser Zeilen, aber nicht nur ihm, Freude berei­tete, denn diese Klone hatten sich vor der Soloperformance des Dorf-Outsiders bereits mit dem Publikum mittels diverser Schwie­germütterwitze, die es schon seit ewigen Zeiten gibt, auf kärntnerisch-tirolerische Art verbrüdert.

Die geschilderten Vorfälle in Chiapas und in Kärnten hatten auf den ersten Blick nichts miteinander gemein. Was der Bur­sche mit Down-Syndrom unternahm, war der Versuch, ein paar Minuten er selbst zu sein, abseits vom Alltag des Dorfes, in dem er verstummt, weil die Voraussetzungen der Kommunikation fehlen: die Bereit­schaft der Normalos, mit dem Stigmatisier­ten »auf Augenhöhe« zu leben. Bei seinem Auftritt fiel auf, wie wenig Empathie ihm von den Heurigenbänken her entgegen­schlug, als ob dem Dorf diese nicht geplante und nicht konzessionierte Sonder-Show über und über peinlich wäre: Was sagen die (nicht vorhandenen) TouristInnen zu die­ser Regelwidrigkeit? Man kann als Dorf­fremder nicht wissen, ob der junge Mann die Freiheit seines Körpers genoss oder die Subversivität der Aktion. Auch in diesem Punkt eine Ähnlichkeit mit der zapatisti­schen Störung des guten Benehmens.

Der junge Mann tanzte unbewusst für seine zehntausenden Leidensgenossen stumm vor sich hin und borgte sich das Dröhnen des Schlagzeugs der Alpenrocker aus, denen man ansah, dass sie ihren Sound lieber dem »normalen« Publikum gewidmet hätten. Die durchschnittlichen Marginali­sierten können sich die Katzenmusik, die sie bräuchten, um in ihrem Existenzkampf wahrgenommen zu werden, von nieman­dem ausborgen.

Dass das Verstummen der Unerwünsch­ten zum Thema gemacht wird und dass immer wieder Bilder vom Alltag der Ent­würdigung, die die Betroffenen als »Selbst­verständlichkeit« gar nicht mehr als erwähnenswert empfinden, in die Öffent­lichkeit gelangen, ist NGO’s wie der »Bettel-Lobby« und parteiischen Projekten wie der Straßenzeitung Augustin (an deren Grün­dung der Verfasser dieser Zeilen nicht unbeteiligt war – die Red.) zu verdanken. Jede/jeder, die/der in Wien bettelt und weder weiß genug noch abendländisch genug aussieht, könnte Bücher mit demüti­genden Erlebnissen füllen. Dokumentiert werden sie kaum (weil: siehe oben), wäh­rend die MacherInnen der Schlagzeilen an ihren selbstfabrizierten Stereotypen picken: etwa am Klischee der Ost-»Krüp­pel«, die von verschlagenen östlichen Hin­termännern zur mitleidsgenerierenden Handikap-Inszenierungen gezwungen werden.

Täglich die Polizei im Wohnzimmer

Sollte einmal die Geschichte des Augustin geschrieben werden, müssten die Gerech­ten unter den LeserInnen, die laut auf­schreien, wo die Armen wegen der vielen Abhängigkeitsverhältnisse zum Kuschen gezwungen sind, zum Preis der Stadt Wien für zivilen Ungehorsam (den es erst zu schaffen gilt) nominiert werden. »Liebe Leute vom Augustin. Ich war heute zwi­schen 12:30 und 12:50 zufällig Zeuge einer Amtshandlung der Polizei gegen einen Bettler auf der Mariahilfer Straße in Wien«, schrieb Christian W., an die Redaktion. »Ich weiß, dass es solche Szenen in diesem Land täglich zuhauf gibt, trotzdem möchte ich euch eine kurze Schilderung und zugehö­rige Fotos schicken. Ich sehe einen Bettler, der zusammengekauert vor einem Geschäft in der Mariahilfer Straße sitzt. Zwei junge Polizisten steuern auf ihn zu und nehmen ihm sein Geld, das er in einem Becher gesammelt hat, weg. Ich mische mich ein und frage, was los sei. Ein Polizist antwor­tet, dass der Mann gegen das Bettelverbot verstoßen habe und daher weggebracht werden wird. Auf meinen Einwand, dass es in Österreich kein Bettelverbot gebe, präzi­sierte er auf gewerbsmäßiges Betteln.«

Wir bleiben bei diesem exemplarischen Fall, weil der zivilcouragierte Augenzeuge Christian W. seine Intervention als nicht erschöpfend empfand. Er bat die Beamten, dem Mann doch einfach das Geld zurückzu­geben und ihn gehen zu lassen. Zur Überra­schung der aufmerksam gewordenen Pas­santInnen tauchten plötzlich drei Polizei­autos auf. Versuche des Bettlers, langsam wegzugehen (schnell konnte er aufgrund seiner körperlichen Behinderung sowieso nicht verduften), wurden von den beiden ersthandelnden Polizisten vereitelt, indem sie sich breitbeinig vor den Bettler stellten und ihm in der deutschen Kinder- und Hundeabrichtungssprache den Befehl gaben, stehen zu bleiben.

Christian W. behauptet schließlich, er sei von einem Teil der Einsatzgruppe verhöhnt worden, als sie von ihm fotografiert wurde. »Auch mit dem Wissen, dass das mittler­weile rassistischer und menschenverach­tender Alltag in Österreich ist«, so endet das Mail des Dokumentaristen, »empfinde ich größte Empörung darüber, wie hier mit Menschen umgegangen wird, es kotzt mich an.« Der diesbezügliche Bericht im Augus­tin erschien nicht ohne Ermunterung der LeserInnen, zu genau beobachtenden »StraßenkorrespondentInnen« nach dem Vorbild des Christan W. zu werden.

Weil die Zeit der Weihnachtsgeschenke ausgebrochen ist: Den Habenichtsen dieser Stadt ist Stille UND Lärm zu wünschen. Der von ihnen (mithilfe der HelferInnen aus der Mitte der Gesellschaft) produzierte Lärm muss laut genug sein, um die Empathischen zu sammeln; die Stille muss so still sein wie das Wohnzimmer eines Großbürgers in einem Haus in guter Lage. In das derzeit größte Wohnzimmer der Unbehausten Wiens, den Praterstern, verschafft sich die Polizei jeden Tag Zutritt, ohne Wohnzim­merdurchsuchungsgenehmigung. Das ist Ruhestörung, die vom Staat ausgeht. Dagegen hilft nur die bekanntere Art von Ruhestörung: Lärm, der nicht vom Staat ausgeht …

Gelesen 6290 mal Letzte Änderung am Freitag, 19 April 2019 12:27
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