Das hässliche Gesicht Europas

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Dass im niederösterreichischen Drasenhofen Jugendliche hinter Stacheldraht weggesperrt wurden, sorgte landesweit für einen Sturm der Entrüstung. Wenngleich sich der verantwortliche Landesrat Gottfried Waldhäusl immer noch im Amt befindet; die lautstarken Proteste zeigten Wirkung. Hingegen schaffen es die schockierenden Zustände in den Flüchtlingslagern an den europäischen Außengrenzen kaum mehr in die Öffentlichkeit. CHRISTOPH RIEDL, Asylexperte der Diakonie, berichtet über seinen Besuch des grie­chischen Lagers Vial auf der Insel Chios. Ein wichtiger Zwischenruf in Zeiten des Stillschweigens.

Der traurigste Ort Europas hat fünf Gesichter: Die vor der türkischen Küste gelegenen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos. Auf diesen Inseln befinden sich die von der EU ins Leben gerufenen »Hotspot-Lager« mit den Namen Moria, Vial, Vathi, Lepida und Pyli. Mitte Oktober 2018 lebten in diesen Lagern 17.600 Men­schen, während die Unterbringungskapazi­tät gerade einmal für 6.400 Personen geplant wurde. Am schlimmsten ist die Überbelegung im Lager Vathi auf Samos. Dort sind mit fast 4.000 Personen sechs Mal so viele Asylsuchende »untergebracht« als eigentlich Platz hätten.

IMG 20181016 175007 scDie Menschen haben Angst, verrückt zu werden

»Die Menschen, die über Monate, manche viel länger als ein Jahr, in diesen Lagern leben müssen, haben Angst verrückt zu werden. Manche werden es tatsächlich oder sind es schon«, hat mir Apostol Veizis von Ärzte ohne Grenzen-Griechenland erzählt. »Viele Flüchtlinge sind schon mit schweren Erkrankungen angekommen. Eine ausreichende Versorgung mit Essen und Trinkwasser funktioniert nicht. Die Zustände machen krank«, betont Veizis, und kritisiert die völlig unzureichende medizinische Versorgung scharf.

Ja. Wir wissen, diese Menschen haben im Heimatland Krieg, Folter und Vergewalti­gung überlebt und sind schwer traumati­siert. Die Polizei bewacht die Lager nur sehr unzureichend. Für Frauen und Kinder gibt es keine Sicherheit vor Übergriffen und sexueller Gewalt.

Auch im Lager Vial auf Chios gibt es nur für die Hälfte der Menschen Platz. Die Situation im Lager, auf dem Gelände der Müllaufbereitungsanlage untergebracht, ist kaum in Worte zu fassen. Viele der über 2.000 »BewohnerInnen« schlafen in Zelten und unter aufgespannten Planen. 110 von ihnen sind schwangere Frauen. In den Hot­spot-Lagern kommt es immer wieder zu Selbstmordversuchen. Sogar Kinder ver­suchen sich das Leben zu nehmen.

Ich schäme mich in Grund und Boden für dieses Europa.

Ich treffe eine verzweifelte junge Afgha­nin, die mit ihrem chronisch kranken Kind im Lager Vial leben muss. Sie erzählt mir von ihrem Kind, das so dringend eine geeignetere Umgebung und Zugang zu medizinischer Versorgung brauchen würde. Ich frage sie nach den Lebensbe­dingungen im Lager. Sie berichtet von unbeschreiblichen Zuständen und oft unbenützbaren Sanitäranlagen. Oft werde während der Nacht in den Klos sogar das Wasser abgestellt. Ich fühle mich hilflos, ich kann der Frau kaum in die Augen schauen. Ich schäme mich in Grund und Boden für dieses Europa. All das geschieht unter strengster Beobachtung der EU-Agenturen Frontex und EASO. Es geschieht in Europa im Jahr 2018. Und: Dieses Konzept wird im Kontext des EU-Türkei-Deals als Pilotprojekt umgesetzt und ist wohl das Exportmodell für die Lagerphantasien außerhalb Europas, wovon die rechtspopulistischen Politike­rInnen träumen.

Ganz offensichtlich sind die Zustände gewollt. Der Vizepräsident der EU-Kom­mission Frans Timmermans sagte dazu im Oktober 2017: »Die Migranten müssen trotz der Schwierigkeiten auf den Inseln bleiben, weil ihre Übersiedlung auf das Festland eine falsche Nachricht aussenden und eine neue Ankunftswelle auslösen würde.« Die Zustände in den Lagern sind Teil eines europäischen Abschottungs- und Abschreckungskonzepts. Der politische Druck auf die griechische Regierung und Behörden ist immens. Es ist nicht gewollt, dass Schutzsuchende, denen es noch gelingt, mit Booten bis zu den griechischen Inseln zu kommen, Zugang zu einem Asyl­verfahren in der EU erhalten. Ihre Asyl-Anträge werden ohne Prüfung der Flucht­gründe abgelehnt. Ziel ist es, möglichst viele in die keineswegs sichere Türkei ab ­zuschieben. So wurden seit März 2016 rund 1.750 Personen in die Türkei zurück ­geschoben.

Versuchslabor schließen

Diese Versuchslabore für eine unmenschli­che europäische Asylpolitik müssen sofort geschlossen werden! Europa muss zu einer Flüchtlingspolitik zurückfinden, die ver­folgten Menschen solidarisch Schutz und Aufnahme gewährt. Dazu gehören insbe­sondere ein effektiver Zugang zu einem fairen Asylverfahren innerhalb der Euro­päischen Union und eine gerechte Vertei­lung und menschenwürdige Lebensbedin­gungen während des Verfahrens.

Die griechischen Inseln und Griechenland dürfen bei der Flüchtlingsaufnahme nicht allein gelassen werden. Denn die europäi­schen Werte, wie sie in der Europäischen Grundrechtecharta verankert sind, können nur durch Solidarität bewahrt werden.

Christoph Riedl ist Asylexperte der Diakonie Öster­reich und war im Oktober 2018 im Rahmen der Europäischen Asylkonferenz in mehreren grie­chischen Flüchtlingslagern und im Lager Vial auf Chios unterwegs. Diesen Erfahrungsbericht und mehr lesenswerte Geschichten findet ihr auch unter https://blog.diakonie.at/autorin/christoph-riedl

Gelesen 6322 mal Letzte Änderung am Freitag, 19 April 2019 12:52
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