Autor: captain

Blinde Flecken im globalen Kriegsgeschehen

Die Kriege in Nahost und zwischen Russland und der Ukraine bewegen derzeit die Linke weltweit, andere finden gleichzeitig unter der Wahrnehmungsschwelle statt. Während zumindest in Gaza nach US-Vermittlung ein fragiler Waffenstillstand herrscht, wird der Ukraine-Krieg mit unvermittelter Härte fortgesetzt. Im Folgenden ein Überblick über diverse globale Konflikte, die anscheinend niemanden interessieren.

Von Georg Elser

Viele kriegerische Auseinandersetzungen, über die nur wenig berichtet wird, finden derzeit in Afrika statt. So schlagen sich etwa derzeit Truppen mit maßgeblicher Unterstützung aus Ruanda raubend, mordend und vergewaltigend durch den Ostkongo, während Paul Kagame, der ruandische Präsident, kaum Kritik befürchten muss. Kagame ist vielmehr ein Freund der ganzen Welt und im Westen wie Osten gerne gesehener Gast. Der ruandische Raubzug hat einen beträchtlichen Anteil an den Millionen Opfern des Kongo-Konflikts der letzten Jahrzehnte zu verantworten.

Der Bürger:innenkrieg in Äthiopien zählt zu den blutigsten in der Gegenwart. In den vergangenen Jahren sind in und um die Region Tigray hunderttausende Menschen aufgrund der Kämpfe ums Leben gekommen. Der aktuelle Konflikt hat sich in die Region Amhara verlagert, wo die täglichen Opferzahlen mit dem Krieg in der Ukraine mithalten können. Es handelt sich um einen ethnisch motivierten Konflikt bei dem Hunger von der äthiopischen Regierung dezidiert als Waffe eingesetzt wird.

Im Sudan findet gerade ein Massenmord mit besonderem historischem Hintergrund statt. Die arabischstämmige Bevölkerung im Sudan war jahrhundertelang massiv am internationalen Sklavenhandel sowohl in die arabische Welt, wie auch in Richtung europäischer Kolonien beteiligt. Ihr Opfer war die schwarze Bevölkerung im Süden. Aktuell sind es erneut arabische Milizen, welche die schwarze Bevölkerung im Süden und Osten zu Tausenden vertreiben und ermorden. Es ist nach den Kriegen im Südsudan und in Darfur der dritte große Konflikt der letzten Jahrzehnte im Sudan.

Im Jemen tobt seit Jahren ein brutaler Krieg zwischen der schiitischen Bevölkerungsgruppe und den sunnitischen Nachbarstaaten des Jemen. Geführt wird dieser Krieg hauptsächlich von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Huthi sind keine Heiligen, aber Hunger und Cholera sorgen wegen der Blockade des Jemen für zehntausende tote Zivilist:innen aufseiten der jemenitischen Bevölkerung. Besonders betroffen sind wie so oft Kinder.

Von Afrika nach Asien

Indonesien setzt seit Jahrzehnten auf die Vertreibung und Marginalisierung der einheimischen Papua Völker in West-Papua. Kolonist:innen aus den Zentralinseln werden nach Westpapua umgesiedelt und der Widerstand der dort wohnenden Bevölkerung militärisch mithilfe von Konzernarmeen, die riesige Goldminen im Dschungel erhalten, bekämpft. Durch das Programm »Transmigrasi« werden seit 1969 Menschen aus der muslimischen Mehrheitsbevölkerung Javas auf andere Inseln, insbesondere jene mit anderen religiösen Mehrheiten umgesiedelt und so versucht die gesamte Inselgruppe zu islamisieren. Erwähnenswert ist auch ein Genozid mit Millionen Opfern in den 1960er Jahren, welcher bis heute in keinster Weise aufgearbeitet ist.  

Der Bürger:innenkrieg in Myanmar gehört zu den blutigsten der Welt. Die Zentralregierung bekämpft rücksichtslos die eigene Bevölkerung und dabei werden manchmal ganze Dörfer abgeschlachtet. Jeglicher Widerstand wird gnadenlos verfolgt. Myanmar ist ein Vielvölkerstaat, in dem gewisse Bevölkerungsgruppen über viel Autonomie verfügen und andere, besonders die muslimische Minderheit, stark unterdrückt werden.

Selektive Wahrnehmung

Neben diesen Konflikten finden sich weltweit zahlreiche weitere die ohne nennenswertes internationales Interesse stattfinden. Wir müssen uns die Frage stellen, warum diese Kriege nicht nur in den bürgerlichen Medien, sondern auch in der linken Mediensphäre kaum thematisiert werden, handelt es sich doch um einige der brutalsten Konflikte weltweit.

Eine besondere Kritik verdient die Linke angesichts des offensichtlichen Widerspruchs, der sich aus der – richtigerweise oft betonten – Gleichheit der Menschen ergibt: Im Süden werden weder Täter:innen noch Opfer als selbständige Akteure wahrgenommen. Zurückzuführen ist dies wohl auf eine sträflich einfache Sicht auf die Imperialismustheorien Lenins und eine ebenso vereinfachte Übernahme gewisser antikolonialer Diskurse aus den USA. Das mündet in paternalistischem Denken gegenüber genau jenen Menschen, die man vorgibt schützen zu wollen, und einer Vorstellung wonach das gesamte Elend der Welt auf den westlichen Imperialismus zurückzuführen sei. Konsequenterweise sind daher nur jene Konflikte beachtenswert, an denen wir als »der Westen« aktiv beteiligt sind. Es macht nur die weißen Menschen im Nordens zu Akteur:innen und den Süden als Ganzes entweder zum wehrlosen Opfer, bzw. zu Subjekten westlicher Allmachtphantasien. Es gibt noch eine weitere Konsequenz dieses Denkens: die Solidarisierung mit den übelsten reaktionären Kräften unter dem Deckmantel des »Antikolonialen Freiheitskampfes«.

Sicher, der Westen hat ungleich mehr Macht und Mittel um global Druck auszuüben als die meisten anderen Weltgegenden. Aber alle Konflikte auf dieses schwarz/weiß Schema zurückzuführen ist sträflich vereinfacht. Es enthebt lokale politische Eliten nämlich der Verantwortung für ihre Verbrechen. Paul Kagame ist seit 20 Jahren Präsident Ruandas, wann wird er endlich als selbständig handelndes Subjekt wahrgenommen und wann darf/muss er die Verantwortung für seine Taten übernehmen? Global wäre neben dem Blick auf die Täter:innen auch ein Blick auf die Opfer wichtig. Diese könnten etwas Aufmerksamkeit und internationale Solidarität in ihrem Kampf gegen Tyrannei und Gewalt nämlich sehr gut gebrauchen.

Zuletzt

Leben und Sterben »in Würde« – ein häufig benutztes Wort, dem unsere Gesellschaft nicht unbedingt gerecht wird.

Von Martina Wittels

Unlängst haben in der Salzburger Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen Silvia Traunwieser, Rechtsphilosophin an der Universität Salzburg, und Rainer Pusch, Amtsleiter des Gesundheitsamts der Stadt Salzburg und Arzt, rechtsphilosophische und gesellschaftspolitische Aspekte des Wunsches nach assistiertem Suizid geboten. Seit 2022 ist dieser in Österreich legal. Unter klar geregelten Auflagen kann man dieses Recht für sich in Anspruch nehmen, wenn eine Palliativärztin und eine zweite Ärztin bestätigen, dass eine unheilbare Erkrankung oder ein besonderes Leid vorliegt und ein freier Wille gegeben ist. In der Diskussion stellte sich heraus, dass es viele Hürden gibt, die dabei bewältigt werden müssen, nicht nur finanzieller Natur. Man finde keine Ärztinnen, eine Liste dürfe von der Ärztekammer nicht geführt werden, auch Apotheken, die das Medikament herausgeben, das den Tod herbeiführen soll, müssen die Betroffenen selbst suchen. Das Medikament ist von der Dosis her genormt, nicht aber die Patienten und Patientinnen, sodass es zu erschreckenden Erfahrungen kommen kann. Sucht man im Internet nach »assistierter Suizid«, stößt man als erstes auf einen sicher fundierten Artikel auf »Heute.at« und dann auf eine ärztliche Praxis, die sich »sterbehilfe-beratung.at« nennt und Überblick und Beratung zum assistierten Suizid verspricht. Hausbesuche und Besuche in den Bundesländern inklusive. Ist das nicht schon geschäftsmäßig?

Im Spiegel (42/2025) konnte man vor kurzem einen Artikel über einen deutschen Sterbehelfer lesen, der mit einem 3-D-Drucker jedem und jeder sterbewilligen Person eine ausreichend große Kapsel, »Sarco« genannt, bastelte, damit sie mit Blickfenster in den Himmel in schöner Landschaft für wenige Momente Kohlenmonoxid atmet und so einen schmerzlosen Tod erlebt. Als er selbst nicht mehr leben wollte – »eine zweite Lebenshälfte brauche ich nicht« –, nahm er mit 47 Jahren die Dienste des Vereins »dignitas.de« in Anspruch und keine seiner eigenen Kapseln.

In Deutschland ist der Wunsch nach Selbstbestimmung so groß, dass der Verfassungsgerichtshof jedem das Recht zugesteht, das Ende seines Lebens selbst zu bestimmen – ohne Erkrankung und ohne »unerträgliches« Leid. Einfach so! Man erinnere sich an Herrn Gärtner in Ferdinand von Schirachs Büchlein und Theaterstück »Gott«, dem nach dem Ableben seiner Ehefrau einfach sterbenslangweilig wurde.

Die Assistenz zum früher sogenannten »Freitod« ist allerdings in Deutschland ein rechtlich völlig ungesichertes Terrain, das beteiligte Ärzte gefährdet; die können sogar im Gefängnis landen – wenn der oder die Sterbewillige für den Richter doch nicht ausreichend über freien Willen verfügt zu haben scheint. Die Sterbebegleiter bei Dignitas hingegen sind routiniert, helfen gerne und natürlich gegen einen entsprechenden Preis, den nicht jeder aufbringt. Die Kosten für die Inanspruchnahme des assistierten Suizids auch in Österreich werden mit mehreren tausend Euro beziffert, was somit eher für eine sterbewillige Upperclass erschwinglich ist. Was bei der Diskussion auffällt: »Würdevoller Tod« wird besonders stark mit assistiertem Suizid verknüpft, wodurch ein ganz normaler Tod somit eher als unwürdig angesehen werden müsste.

Bei einem auch unlängst stattgefundenen Webinar über Palliativmedizin in der Pflege konnte man sich gleich etwas entspannter fühlen. Eva Masel, Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin, AKH Wien, gab an, dass mit Stand 1. Oktober 2025 österreichweit 807 Sterbeverfügungen erstellt, 661 Präparate abgegeben, 100 Präparate retourniert und 215 Meldungen durch ärztliche Totenbeschau vorgenommen wurden. Angesichts dieser doch geringen Zahl sei das Thema des assistierten Suizids sehr präsent in den Medien; das »gewöhnliche Sterben« müsse die Menschen und die Gesellschaft jedoch in weit breiterem Ausmaß beschäftigen.

In der Zeitschrift Suizidprophylaxe findet man sowohl zum Thema Suizidverhinderung als auch zum assistierten Suizid philosophische, rechtliche und religiöse Texte, die sich den dichotomen Enden des Nichtsollens und des Wollens in sehr interessanter Weise nähern. Immer wieder kommen in diesem Zusammenhang die Begriffe Selbstbestimmung, freier Wille und Würde vor. Aber was kann man sich unter Selbstbestimmung vorstellen, wenn im Alltag immer öfter die Fremdbestimmung dominiert? Was ist die subjektive Würde, die ich für mich beanspruche, wenn neben mir die Menschen in Würdelosigkeit versinken?

»Mit Selbstbestimmung ist gemeint, dass jeder Mensch selbst darüber entscheiden darf, wie er leben möchte. Diese Freiheit, über sein Leben selbst zu bestimmen, ist ein Menschenrecht, das auch durch unsere Verfassung geschützt wird« ist auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung zu lesen, und weiter: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt …« Art. 2 Abs. 1 GG. Klingt gut, aber wie steht es mit der Entfaltung der Persönlichkeit Armer und prekär Lebender? Mit der globalen Dimension von Freiheit? Westliche Freiheit verletzt permanent die Freiheit anderer. Und die Würde ist ein vielbemühter Begriff, der vielleicht bald für das Natürliche, das Normale nicht mehr zu Verfügung steht.

Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury schreibt in ihrem Buch über die Würde, dass »der Begriff der Würde einer der meistuntersuchten Begriffe ist, der für die Dynamik der sozialen Bewegungen gemeinsam mit Freiheit und Gleichheit konstitutiv ist«. Gleichzeitig wird Unwürde angeprangert, sodass eine Achse entstünde, die die Gesellschaft teilt. Der eine Teil komme in den Genuss würdiger Lebensbedingungen, der andere werde als »Geber von Würde« unwürdig behandelt. Die Freiheit endet dort, wo sie die Rechte anderer verletzt. Da sich die Erde aber dreht und wir nur immer vor unsere Füße schauen, agieren wir wie unschuldige Kinder, die das Unrecht nicht erkennen können.

Expertin des Alltags

im Gespräch mit Jonas Kraft

Jelena, Sozialpädagogin (33)

Wie ist Ihre Berufsbezeichnung?

Vom Grundberuf her bin ich Sozialpädagogin. Angestellt bin ich als Werkstattbetreuerin in einer Werkstatt mit psychisch beeinträchtigten Personen.

Was sind Ihre Aufgaben dort?

Zum einen habe ich administrative und organisatorische Aufgaben. Das heißt, ich schaue darauf, dass der Werkstattbetrieb am Laufen bleibt, sprich, dass wir immer genug Material haben, dass alles rechtzeitig fertig wird. Ich übernehme die Korrespondenz und Kommunikation mit den Auftraggebern. Und neben dieser betriebswirtschaftlichen Rolle, bin ich auch Betreuungsperson und arbeite mit den Menschen in meiner Werkstatt auf ihre persönlichen Ziele hin. Das kann sehr unterschiedlich sein. Manche Personen haben eine berufliche Rehabilitation zum Ziel, sprich wieder in den ersten Arbeitsmarkt einzusteigen. Bei manchen Personen steht eher die soziale Rehabilitation im Vordergrund, weil sie aus diversen Gründen zumindest derzeit nicht das Ziel haben, mit in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Das kann dann heißen, wie knüpfe ich soziale Beziehungen und verhalte mich in der Gruppe über wie schaffe ich es Termine einzuhalten oder wie kleide ich mich in der Arbeitswelt adäquat, also verschiedenste Themen, die die Personen haben, wo ich versuche, sie bei der Erreichung ihres Zieles dann zu unterstützen durch tägliche Gespräche und Rückmeldungen. Das sind meine zwei großen Hauptaufgaben.

Was macht diese Werkstatt?

Ich betreue eine Fertigungswerkstatt. Das bedeutet, wir bekommen von verschiedenen Firmen Materialien, die dann zum Beispiel in kleinere Stückzahlen abgepackt werden. Oder wir etikettieren Sackerl, Flaschen, was auch immer wir bekommen. Wir verschicken Postsendungen. Verpacken, kuvertieren, stempeln, versenden. Das sind so Tätigkeiten, die wir in der Fertigungswerkstatt machen. Es gibt in unserem Gebäude noch andere Werkstätten, die eher so in den Kreativbereich gehen. Wir haben auch eine Digitalisierungswerkstatt.

Und wie kommen die Menschen dorthin?

Das ist unterschiedlich. Manche Personen werden von zum Beispiel Psychologen oder Psychiatern auf uns aufmerksam gemacht. Ich habe auch schon von Personen gehört, die eine Empfehlung vom Hausarzt oder der Hausärztin bekommen haben. Manche Personen haben zum Beispiel vorangehend eine Tagesklinik besucht, hatten da einen Aufenthalt und haben dort die Empfehlung bekommen, zu uns zu kommen. Dann gibt es aber auch Personen, wo Freunde und Verwandte ein passendes Angebot für sie suchen, dann auf uns stoßen und sozusagen die Personen zu uns bringen. Es kommt ab und an einmal vor, dass sich Menschen sozusagen einfach in Eigenrecherche unsere Einrichtung finden und sich dann an uns wenden. Aber meistens erfolgt es entweder auf Empfehlung von Fachpersonal oder auch Anraten von Freunden und Familie.

Und wie sind die Arbeitsbedingungen? Sind Sie dort Vollzeit angestellt?

Ich bin 32 Stunden angestellt, was bei uns derzeit das Maximum ist in der Einrichtung. Das deckt  genau die Betreuungszeit ab. Und ich bin auch nur dann anwesend, wenn die betreuten Personen anwesend sind. Es gibt keine Nachtdienste oder so etwas, die Zeit ist von Montag bis Freitag fix.

Sind Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?

Ich bin sehr gerne in meiner Arbeit und schätze die Arbeit direkt mit den Klienten und Klientinnen sehr. Ich habe eine sehr humorvolle Gruppe und ich mag auch diese Abwechslung zwischen administrativen Bürotätigkeiten, der Tätigkeit im Lager und dann aber auch wieder die sozialpädagogische Arbeit, also die Arbeit als Betreuerin. Das macht den Alltag ein bisschen bunt und es wird nicht schnell eintönig.

Wie sind Sie dazu gekommen?

Wie bin ich dazu gekommen? Also sagen wir, es war ein Weg mit Umwegen. Ich habe ursprünglich eine betriebswirtschaftliche Ausbildung gemacht, hab dann erstmal angefangen als Deutschtrainerin zu arbeiten mit Personen mit Migrationshintergrund oder einfach nicht Deutsch als Muttersprache und habe dann gemerkt, dass mir dieses soziale Arbeiten, Menschen begleiten und unterstützen, sehr viel Spaß macht und habe dann angefangen zu Sozialpädagogik am Kolleg in Wien zu studieren. Nach meinem Umzug nach Niederösterreich habe ich eine Anstellung in der Nähe gesucht und bin auf das Stellenangebot bei meinem derzeitigen Arbeitgeber aufmerksam geworden. Ich habe einen Schnuppertag dort verbracht und es hat mir sehr gut gefallen. Dann habe ich das Angebot zu bleiben gerne angenommen.

Möchten Sie Ihren Beruf wechseln?

Derzeit nicht, nein.

Was sieht die Öffentlichkeit nicht?

Was sehen die Leute nicht? Da fallen mir Aspekte ein, jetzt nicht zwangsläufig mit dem, was ich persönlich tue, zusammenhängen. Aber ich hab letztens einen Artikel gelesen in Tullner Bezirksblatt, der mich ein bisschen schockiert hat. Es ging so salopp gesagt um Sozialschmarotzer, die halt nur nicht arbeiten wollen und Sozialleistungen kriegen. Da waren ein paar provokative Fragen drin. Soll jemand, der arbeiten geht, durch die Finger schauen, da es andere gibt, die das gleiche bekommen, obwohl sie nicht arbeiten? Also so in die Richtung. Und mich hat das deswegen sehr schockiert, weil natürlich sind bei mir in der Einrichtung auch Leute, die in irgendeiner Form Sozialhilfe beziehen. Und ich sehe aber jeden Tag, wie diese Menschen kämpfen und sich bemühen und mehr oder weniger freiwillig zu mir arbeiten kommen, weil sie müssten ja nicht kommen, sie könnten auch etwas anderes machen oder zu Hause bleiben und haben aber auch nicht so viel. Und das ist, finde ich, was, wo glaube ich, die Öffentlichkeit ein bisschen ein falsches Bild von dieser Personengruppe hat, dass das die faulen Sozialschmarotzer sind, weil den Eindruck kann ich absolut nicht bestätigen.

Was würden sie anders machen, wenn sie könnten?

Manchmal würde ich gerne ein bisschen kreativer sein können und die Tage, die Abläufe ein bisschen anders gestalten, vielleicht mit Events oder Veranstaltungen. Aber es soll ja bei uns grundsätzlich ein arbeitsähnliches Setting sein. Also das ist jetzt nicht so im Sinne der Sache, aber das würde ich manchmal ganz gern machen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Berufs?

Darüber habe ich noch nicht so wirklich viel nachgedacht, muss ich sagen. Ich glaube, dass generell der Sozialbereich wachsen wird. Also es gibt immer mehr Bedarf oder wie soll ich sagen, vielleicht wird der Bedarf auch einfach mehr genutzt oder es ist präsenter, dass es Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Viel mehr habe ich mir dazu keine Gedanken gemacht, muss ich ehrlich sagen.

Automatisierung und KI sind also keine Bedrohungen?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Nein, also ich denke mir die Hauptarbeit, die man als Sozialpädagoge, Sozialpädagogin leistet, ist ja die Beziehungsarbeit, ist es einem sich selbst sozusagen als Ansprechpartner, Ansprechpartnerin, Bezugsperson zur Verfügung zu stellen und die Menschen in ihren Sorgen, ihren Ängsten, ihren Problemen zu begleiten. Vielleicht kann eine KI sogar so was wie Empathie mal entwickeln. Das würde ich gar nicht ausschließen. Die Frage ist nur, ob das Gegenüber sozusagen nicht mehr Resonanz braucht, die eine Maschine aber gar nicht liefern kann, weil sie kein Mensch ist.

Was wünschen Sie sich von der Politik für Ihren Beruf, beziehungsweise generell für den Sozialbereich?

Mehr Mittel. Also sind die Budgets teilweise so scharf begrenzt, dass man nicht die Möglichkeit hat, mit den Leuten zu arbeiten, wie man gerne würde, weil man einfach schauen muss, was geht sich überhaupt aus. Und da ist auf jeden Fall viel Raum nach oben generell im Sozialbereich, was man da machen kann, also was da noch notwendig wäre, damit die Menschen wirklich die Betreuung bekommen, die sie auch brauchen. Und es würde auch die Personalproblematik vermutlich lösen, weil derzeit ist es so, dass in den meisten sozialpädagogischen Einrichtungen eine sehr hohe Fluktuation und teilweise ein Mangel herrscht und die Betreuerschlüssel einfach nicht gehalten werden können. Und diese Lage würde sich dann auch entspannen, wenn die Firmen einfach genug Mittel hätten, um mehr Leute einzustellen.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Also ein Beispiel, das ich aus der Kinder und Jugendhilfe noch nennen kann, wo ich davor gearbeitet habe, ist, dass wir einen sehr kleinen Tagsatz hatten an Budget, was wir mit den Kids ausgeben durften pro Tag und dass dann gewisse Ausflüge oft nicht möglich waren, weil dann hätten wir nicht für alle einen Fahrschein kaufen können oder es wäre sich da nicht ausgegangen, dass man für alle den Eintritt irgendwohin bezahlt. Es war dann teilweise sehr eingeschränkt in dem, was man den Kindern auch bieten konnte, also sind wir bei Freizeitgestaltung einfach in den Park gegangen. Also da hätte ich mir zum Beispiel gewünscht, dass da generell in dem Bereich mehr Ressourcen zur Verfügung stehen, mehr finanzielle Ressourcen, damit man nicht so eingeschränkt ist in dem, was man den Kindern noch bieten kann.

Schmonzette – Wer zahlt?

Von Bärbel Danneberg

Eine Verkäuferin wird mit einem Lohnabschluss unter der Inflationsrate rechnen müssen. Als Draufgabe gibt es den Frust von Kund*innen, wenn sie nach der Jö-Karte fragt oder Pickerl fürs Sammelalbum anbietet. Statt ständiger Vorteilsaktionen a la »Nimm zwei« soll der Handel lieber stabile Preise anbieten, höre ich immer öfter und sehe Menschen vor der Lebensmittel-Filiale kopfschüttelnd den Kassabon studieren. Wir gewöhnen uns an schrumpfende Inhalte, vorgegaukelte Preisnachlässe, Sonderangebote, die keine sind. Das rote Minus-Prozentzeichen für abgelaufene Ware wird nicht mehr schamvoll verdeckt, sondern als soziale Tat des Lebensmittelhandels gepriesen: »Zu schade zum Wegwerfen« ist ein produzierter Überfluss-Mangel auf Kosten der Sozialmärkte und Konsument*innen.

Es scheint üblich zu werden, dass vereinbarte Kollektivvertragsabschlüsse neu verhandelt oder Lohnabschlüsse unterhalb der Inflationsrate ausgehandelt werden. Pensionist*innen hatten bereits mit der Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrags eine Pensionskürzung hingenommen und waren die ersten im Reigen der herbstlichen Anpassung unterhalb der Inflation. Gefolgt von den Metallern, die sich auffallend rasch auf einen KV-»Krisenabschluss« geeinigt haben. Der ausverhandelte Lohnzuwachs für die kommenden zwei Jahre liegt deutlich unter der Inflationsrate. Auch die Gehaltsabschlüsse für Beamte und den öffentlichen Dienst werden nun nachverhandelt. Der Deal des Vorjahrs dürfte damit hinfällig sein, Bahn und anderen Branchen wird mit Lohnkürzung gedroht.

Angesichts der »angespannten Budgetsituation« freut sich der Finanzminister, »denn die Sanierung der Staatsfinanzen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe«. Gesamtgesellschaftlich? Das Geldvermögen privater Haushalte hat in Österreich den Rekordwert von 30 Milliarden Euro im vergangenen erreicht, die sich bei zehn Prozent der Bevölkerung konzentrieren. Gleichzeitig wird das Verteidigungsbudget kriegstauglich im Vergleich zu 2024 um rund 18 Prozent auf heuer 4,740 Milliarden und um weitere rund 8,5 Prozent im Jahr 2026 auf 5,184 Milliarden Euro aufgestockt. Laut OGM-Umfrage sind 51 Prozent der Österreicher*innen, allen voran die NEOS und Grüne, für noch mehr Aufrüstungsmittel… Von nix kommt nix, wie Marx meinte.

VS 2025/9 S.51

„Gentile“* (60), Busfahrer 

im Gespräch mit Jonas Kraft

„Gentile“, 60 (Spitzname, richtiger Name ist der Redaktion bekannt)

Wie ist Ihre Berufsbezeichnung?

Bis zu meiner Pensionierung vor ein paar Jahren war ich Busfahrer.

Wie sind Sie dazu gekommen?

Es ist eine lange Zeit her, in den frühen 90ern. Ich war Staplerfahrer in einem großen österreichischen Unternehmen. Es hieß, sie suchen eventuell LKW-Lenker. Danach habe ich privat den LKW-Führerschein gemacht. Man denkt, ja, das ist kein Dauerzustand, Staplerfahrer zu werden oder zu bleiben. Noch dazu ist es uns angeraten worden, eine Stufe höher zu steigen, weil einfach zu wenig Arbeit für uns übergeblieben ist. Und habe mich nachher halt beworben. Auf einmal kurz vor der Ferienzeit fragt mich der Meister bzw. Partieführer, sie suchen Buslenker, aber das muss heute passieren, das muss eine schnelle Entscheidung sein, es wird alles gezahlt und so weiter. Nachher habe ich gedacht, ja, eigentlich ein Glück für mich, die große Chance. Dann war ich ein sogenannter „Abgeordneter“, ich habe mich gefühlt wie ein Nationalrat. Nicht alle haben das gut geheißen, aber zu 99 % haben sie gesagt, ja das ist eine gute Chance für dich, da wirst du wenigstens ein selbstbewusster Mensch. Nach zwei Monaten sind wir als Lkw-Fahrer gefahren und gleichzeitig eingeschult worden zum Buslenker. Und für mich war es eine Überraschung, dass ich gleich beim ersten Mal durchgekommen bin. Ich habe gesagt, oh, ich bin ja gut. Und mein Vater war immer auch talentiert für Traktorfahren, Pferde, Kutschenfahren etc. Also das liegt mir eigentlich eh im Blut, aber es ist nicht wirklich herausgekommen, bis zu diesem Zeitpunkt. Mir ist eigentlich nichts anderes übrig geblieben. Sonst wäre ich dort versandelt, wenn man das so sagen darf.

Was waren Ihre Aufgaben und Arbeitsbedingungen?

Die Arbeitszeit war nicht geregelt. Du hast meistens oder sehr oft Tagesdienste schon noch gehabt, aber das heißt, ein Tagesdienst ist ungefähr von 6 Uhr Dienstbeginn gewesen bis 18 Uhr. Also kurze Dienste hat es auch gegeben, die sind zirka vier Stunden gewesen. Das heißt, du hast den ersten Kurs zu fahren gehabt und bist drei Stunden lang gefahren, nachher bist du nach Hause gegangen. Oder die Nachmittagsdienste, die zwischen 15 und 17 Uhr begonnen haben, so gesehen hat es alles gegeben. Ein Fahrgast hat einmal gesagt, du sitzt noch immer drinnen. Ich antwortete, schau mal, wir haben unsere gesetzlich vorgeschriebenen Pausen. Die halten wir ordnungsgemäß ein. Der Disponent hat gesagt, du bist gerade noch im grünen Bereich, sage ich mal so. Mit den Überstunden war es so, wenn ich fahren durfte, war ich glücklich, aber nachher, kurz vor der Pensionierung, hat es Zeiten und Phasen gegeben, die ich nicht ganz nachvollziehen konnte, dass wir praktisch keine oder nur wenig Überstunden machen durften. Sonst hätten andere Kollegen gekündigt werden müssen, weil wir praktisch zu wenig Arbeit gehabt haben. Solche Phasen hat es auch gegeben. Aus menschlicher Sicht habe ich sie natürlich nachvollziehen können. Es hätte aus meiner Sicht auch andere Lösungen geben können.

Du hast spätestens alle viereinhalb Stunden eine 45 Minuten Pause gehabt oder gestaffelt, laut EU-Gesetz und laut normalen Gesetzen. Meistens haben sie noch gesagt, in dem Gesetz bist du drin, in den anderen wärst du nicht mehr drin. Ich bin ja kein Philosoph oder Rechtswissenschaftler. Soll ich da jetzt wegen jeder Minute drauf schauen? Und darum hat das Digitalgerät meistens aufgeleuchtet. Und da waren auch oft die Streitereien. Normalerweise hat es geheißen, wenn es aufleuchtet, darfst du eigentlich nicht mehr fahren. Und der Disponent hat gesagt, das ist falsch eingestellt, du kannst trotzdem fahren. Ich hab gesagt, nach was soll ich mich richten? Und darum sind dann nachher Ex-Kollegen auch zu Gericht gegangen. Wir müssen fahren, wenn es da oben aufleuchtet und piepst. Es kann aber auch die eigene Schuld sein, wenn du vergessen hast, die Taste zu drücken. Wenn das nicht automatisch geht, dann hat der Disponent gesagt, der Fahrer hat vergessen zu drücken, dass er in der Pause ist. Und nachher rennt das weiter und nachher kennt sich der Blechtrottel da oben nicht aus. Er glaubt, er fährt, aber er ist eine halbe Stunde gestanden. Solche Sachen hat es auch gegeben. Früher hast du nur die Scheiben beim Tachographen gehabt, da gab es noch keine digitalen Geräte.

Es hat fast alles gegeben, zum Beispiel hat einer einmal schon verkaufte Fahrscheine eingesammelt und wieder verkauft. Oder einer hat Tachoscheiben nachgeritzt, dass er mehr gefahren ist, als er wirklich gefahren ist. Die sind ungefähr ein Jahr vom Lenkdienst abgezogen worden und dann haben sie eine zweite Chance gekriegt. Das habe ich nicht persönlich erlebt, aber man hat es uns bei der Ausbildung als Warnung erzählt.

Wenn du wegen Baustellen oder Stau immer Verspätung hast, beziehungsweise es sich mit dem Fahrplan nicht ausgeht, hast du echt Probleme mit WC gehen, ich habe da Fälle gesehen, da muss halt der Busch oder der Baum her, auch wenn es eigentlich für Österreich eine Schande ist, sagen wir mal so. Aber das mit den Pausen, da habe ich sogar bei einer Gerichtsverhandlung dabei sein müssen, der Ex-Kollege ist wegen solcher Sachen mehr oder minder gekündigt worden, dass er so viele Kursausfälle gehabt hat und ich habe bei Gericht wahrheitsgetreu aussagen müssen, wie das wirklich war, weil ich als Zeuge vorgeladen wurde. Ich weiß noch, der Disponent hat mir mal erzählt, manche sind schon lustig, die schreiben ein, was sie um diese Zeit getankt haben oder in die Waschhalle wegen Kleinigkeiten gefahren sind, dabei hätten sie einen Kurs bedienen müssen.

Früher war der Dienstbeginn überhaupt keine Herausforderung, weil man teilweise in Schlafräumen bei den Garagen übernachten konnte. Im Winter gab es Herausforderungen bei Schneefall, pünktlich den Dienstbeginn einzuhalten. Der Arbeitgeber meinte dazu, dass es ihm wurscht ist, wie wir in die Arbeit kommen. Du musst zur rechten Zeit am Arbeitsplatz sein, ob du jetzt mit dem Hubschrauber oder mit dem Taxi oder was auch immer kommst.

Auch die Ruhezeiten sind am Papier geduldig. Ruhezeit sind so, oder Nachtruhe besser gesagt, 8 bis 9 Stunden, aber da war auch manchmal die Fahrt von einem Dienstende zum Dienstanfang an einem komplett anderen Standort dabei. Du kannst nur hoffen, dass der Disponent Verständnis hat und menschlich handelt.

Waren Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?

Ja, ich war zufrieden, weil ich Busfahrer sein konnte, auch wenn es auf alle Fälle stressig war. Am Arbeitsplatz war ich nicht einmal ein Jahr, dann bin ich sowas wie Betriebsrat geworden. Meine Frau hat mich so gut wie überhaupt nicht mehr gesehen. Die Arbeitszeiten sind familienfeindlich, sage ich mal. Du bist zwar im Betrieb anerkannt und beliebt und passt mehr oder minder alles, aber zu Hause hast du Stress, weil du mitbekommst, irgendwas hat’s, weil das passt nicht mehr zusammen, du müsstest mehr zu Hause sein und so weiter. Ja, das ist ein Vor- und Nachteil eines Buslenkers. Eigentlich war ich happy, dass ich endlich einmal meine Kompetenz zeigen konnte.

Was sieht die Öffentlichkeit nicht?

Da fällt mir dazu ein, wir haben relativ viele Putzbereiche machen müssen, also Tanken und Pflegen des Busses. An meiner ersten Arbeitsstelle hat es eigene Tankwarte gegeben und die haben auch den Bus gereinigt, ausgekehrt und so weiter. Wie ich an einen anderen Ort gekommen bin, hat es das auch nicht mehr gegeben. Nein, das kostet was, hat es geheißen, der Buslenker ist nicht so blöd, der kann das ja selber auch machen. Natürlich kann er das auch machen, aber was ist dabei zu beachten? Nicht nur, dass die Lenkpause meistens kürzer wird, wenn er Verspätung hat, aber das gehört zu einem Bereich, was die meisten Fahrgäste gar nicht gewusst oder geahnt haben. Du hast vor allen Leuten beim Busbahnhof ausgekehrt, es hat furchtbar gestaubt.

Was wünschen Sie sich von der Politik für Ihren Beruf?

Mehr Wertschätzung gegenüber den Buslenkern, weil sie unterbezahlt werden, dann ist es vorgekommen, dass viele in den Krankenstand gegangen sind. Oder gleich am Anfang, vor ungefähr 20 Jahren, dass sie wieder retour gegangen sind zum alten Beruf, zum LKW-Fahrer, zur Mischmaschine oder ähnliches, weil es finanziell fast kein Unterschied mehr war. Ich habe gefühlt zehnmal so viel Verantwortung, weil da hinten sind als LKW-Fahrer Schottersteine oder Pflastersteine. Die tun sich normalerweise nicht weh, das ist egal, wie schnell ich in die Kurve fahre. Höchstens, wenn es zu schnell ist, dass er umkippen würde, aber das ist ja der Ausnahmefall. Bei den Fahrgästen, wie ich eingeschult wurde, hat es immer geheißen, im Bus hast du volle Verantwortung, was drinnen passiert. Das ist, wie gesagt, das Credo gewesen, im Bus bist du hundertprozentig verantwortlich. Ich wünsche mir, dass diese große Verantwortung, die der Lenker jeden Tag übernimmt, mehr anerkannt wird.

Außerdem möchte ich, dass nicht nur die Kundenwünsche, sondern die Lenkerwünsche mehr berücksichtigt werden. Am Ende des Tages hat es geheißen, wir werden bei der nächsten Ausschreibung, alle drei, vier bis fünf Jahre ist eine neue Ausschreibung, wieder dabei sein und können wieder auf den Linien fahren. Nachher ist schon mitgeteilt worden, nein überhaupt nicht so, ihr könnt euch mehr oder weniger auf anderen Linien umschauen, andere Diensteinteilungen, nicht mehr am alten Standort. Weil die so wenig bezahlt haben, dass der Arbeitgeber gesagt hat, das ist so finanziell nicht relevant und uninteressant, dass wir gar nicht mehr mitgeboten haben. Und das  würde ich mir wieder zurückwünschen für die Kollegen. Weil früher hat es geheißen, so wie beim Kreisky, mir sind Schulden egal, Hauptsache keine Arbeitslosen. Und dass die Lenker zufrieden sind. Ja, was ist dabei herausgekommen? Die haben sich, wie gesagt, auf andere Linien umschauen müssen, unter anderen Arbeitgebern oder ähnliches mehr.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Berufs?

Es wird viel über selbstfahrende Autos und Busse geredet, in Japan, in Amerika, von mir aus; haben sie in Wien, glaube ich, auch schon ausprobiert, dass so kleine City-Busse, selbst fahren, aber es ist nichts draus geworden. Am Ende des Tages machen Buslenker auch Fehler. Ich will nicht sagen, dass das hundertprozentig alles fehlerfrei abläuft, aber da steht dann nachher irgendwann einmal der Roboter und weiß nicht, was vor ihm steht, und steht eine Stunde und glaubt, da ist ein Hindernis, dabei ist es nur ein Schatten oder ein kleiner Ast, der zu überwinden ist oder irgendetwas ähnliches. Also da hat es noch relativ viele Herausforderungen gegeben, dass das nicht geklappt hat. Sonst hätte sich das schon durchgesetzt. Das würde ich schon sagen. Außerdem werden viele Billigarbeiter aus den ehemaligen Ostblockländern herangezogen. Lohndumping wird ein immer größeres Problem werden.

VS 2025/9 S.06

Bildquelle: Volksstimme 2025

Peršmanhof: Mit Polizei, Hund & Helikopter gegen antifaschsitische Bildung

Von Mirko Messner

Der Kärntner Peršmanhof, im Süden Österreichs hoch über Eisenkappel/Železna Kapla gelegen, unterstützte den antifaschistischen Widerstand der slowenischen Partisaninnen und Partisanen in dieser Region. In den letzten Kriegstagen wurde er vom SS- und Polizeiregiment 13 in Brand gesetzt, elf seiner Bewohner und Bewohnerinnen – vom Baby bis zur Oma – wurden massakriert. Nach dem Krieg wurde das Hauptgebäude vom Verband der Kärntner Partisanen und Partisaninnen wieder aufgebaut, ein Museum des Widerstands eingerichtet, das heute – nach grundlegender Erneuerung – vom Verein/Društvo Peršman betrieben wird. Tausende aus dem In- und Ausland hatten es bereits besucht, viele an laufend organisierten Bildungsseminaren vor Ort teilgenommen. Am 27. Juli wurde ein antifaschistisches Bildungscamp, federführend veranstaltet vom Wiener Klub slowenischer Studierender, durch eine massive Polizeiintervention unterbrochen.

Am 1. August 2025 folgten Hunderte dem Aufruf des Vereins/Društvo Peršman, des Klubs slowenischer Studierender (Klub slovenskih študentov in študentk na Dunaju) sowie des Verbands der Kärntner Partisanen und Partisaninnen (Zveza koroških partizanov) vor der Kärntner Landesregierung. Sie demonstrierten gegen den Übergriff der Polizei am Peršmanhof. Zuvor und danach gab es Protestdemonstrationen auch in Wien und Linz. Angesichts unzähliger Solidaritätserklärungen mit den Betreibern und Betreiberinnen der Gedenkstätte am Peršmanhof und des antifaschistischen Bildungscamps sowie breiter medialer und politischer Resonanz, reichend von unangenehmer Berührtheit bis zur Empörung, kann eines auf jeden Fall festgehalten werden: Der polizeiliche Übergriff ist den Regisseuren desselben gewaltig um die Ohren geflogen. Was immer sie damit bezweckt hatten, eines haben sie erreicht, wenn auch nicht in ihrem Sinne: Der Peršmanhof hat im In- und Ausland an Bekanntheit gewonnen, das darin befindliche Widerstandsmuseum in der Folge wohl die höchste Besucherfrequenz seit seiner Gründung. Und sonst? Eine eilig einberufene »multiprofessionelle« Kommission des Innenministeriums ist dabei, die Scherben zu sortieren, mehr ist zur Zeit nicht bekannt. Der sichtlich schockierte Landeshauptmann Peter Kaiser kündigt klärende Gespräche (worüber?) auch auf Landesebene an. Die Befehlskette bleibt – zumindest bis zum Tag der Drucklegung dieser Volksstimme – im Dunkeln.

Es ist ja nicht so, dass die Kärntner Rechten in Politik und Exekutive für ihr Tun unbedingt eine Empfehlung der EU-Geschichtsrevisionisten benötigen, sprich des dominanten Bündnisses von EU-Liberalen mit den EU-Neofaschisten und Neofaschistinnen. Die Kärntner Hardcore-Rechten sind seit eh und je die Homebase der hierorts nach wie vor hegemonialen (deutschnationalistischen und antikommunistischen) Denkfiguren, mit sozialdemokratischen und ÖVP-Leuten vom jeweiligen rechten Parteiflügel und seit nicht ganz so langer Zeit mit Kärntner slowenischen Adabeis im Vorzimmer. Der EU-generierte historische Revisionismus – sprich die Gleichsetzung kommunistischer Regime mit faschistischen, des Faschismus mit Antifaschismus, die schweigende bis laute Akzeptanz ex- und neofaschistischer Tendenzen und Aufmärsche im Baltikum und anderswo (am jüngsten  Konzert des Ustascha-Propagandisten Thompson in Kroatien mit einer halben Million Zuschauern waren nach Pressemeldungen 18.000 aus Österreich dabei), der Banderisten in der Ukraine, die neofaschistische Machtübernahme in Italien usw. – ist in einen europäischen Trend eingebettet. Der Kärntner Revisionismus ist schon die längste Zeit mittendrin.

Die Nazis, so die Rede der Kärntner Rechten, haben – Gott sei´s geklagt –, »den Kärntnern« nichts Gutes getan, aber wirklich schlimm waren die  »kommunistischen Partisanen«, und alle, alle waren Opfer und Täter gleichermaßen, usw., usw. Der antifaschistische Auftrag der österreichischen Verfassung wird darin aufgelöst, so wie das antifaschistische Erbe auf europäischer Ebene auch. In diesem europäischen Makro-Kontext kann der Mikro-Kontext des polizeilichen Übergriffs auf dem bzw. gegen den Peršmanhof verstanden werden. Alle offiziellen Begründungen dafür – angebliche Verstöße gegen Naturschutzgesetz, gesetzwidriges Kampieren und anderer Blödsinn – sind nur lächerlich. Die Intervention Dutzender Polizeibeamter, mit Beamten des Landesamtes für Staatsschutz und Extremismusbekämpfung, des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, mit Hund und über allem darüber kreisenden Hubschrauber waren in ihrer unglaublichen Militanz eine länger vorbereitete, vier Stunden andauernde Inszenierung zur Einschüchterung der am antifaschistischen Bildungsseminar Teilnehmenden. Es wurden Ausweise kontrolliert, Anzeigen verfasst, in das Gebäude eingedrungen, ohne jeden Respekt vor dem Gedenkort, ohne Rücksicht auf geltende Gesetze (siehe den Beitrag von Andreas Pittler), die Artikel 7 und 9 des Österreichischen Staatsvertrages verhöhnend. Übrigens: Unter anderen war auch der Völkermarkter Bezirkschef Gert-Andre Klösch »in Assistenz« des Polizeiübergriffs dabei. Dieser hatte schon vor Jahren dem politisch breit aufgestellten Antifaschistischen Netzwerk Kärnten/Koroška sämtliche Prügel vor die Füße geworfen, um die erste größere Demonstration gegen den Ustascha-Auftrieb bei Bleiburg/Pliberk zu verhindern – allerdings ohne Erfolg.

Einschränkend: Den oben angesprochenen – weniger in den Medien, aber vor allem in mittleren Politiketagen nach wie vor hegemonialen – Kärntner Denkfiguren wird in diesem Bundesland in letzter Zeit öffentlich, furchtlos und ziemlich wirksam widersprochen. Vom Museum des Kärntner slowenischen Widerstands am Peršmanhof, in vielen Aktionen (z. B. der Initiative Domplatz), von den erfolgreichen Ausstellungen des WerkStattMuseum/delavnicaMUZEJ im Margarete Schütte-Lihotzky Haus usw., und – was die Kärntner Nachtwächter wohl besonders schmerzt –, durch den progressiven Kurswechsel ihres traditionsreichen ideologischen Schlachtschiffes »Landesmuseum Kärnten«, jetzt kaernten.museum. Die dort noch bis Ende Oktober laufende, sorgsam aufbereitete Ausstellung über den Nationalsozialismus in Kärnten ist dem Vernehmen nach die bestbesuchte seit Gründung dieser Institution. Und erweiternd: Unter diesem Gesichtspunkt ist die polizeiliche Inszenierung am Peršmanhof eine Racheaktion. Sie sollte ein Schuss vor den Bug antifaschistisch gesinnter Jugendlicher und jener sein, die die Übernahme der Denkfiguren der Kärntner Rechten verweigern. Und sie sollte das Widerstandsmuseum am Peršmanhof in Verruf bringen: So viel Wirbel, so viel Polizei und Hund, und Helikopter – da muss etwas Krummes laufen am Peršmanhof. Wurscht was, auf jeden Fall etwas Krummes … Dass der Schuss nach hinten losgegangen ist, ist wiederum die Rache der Dialektik. Sie sei bedankt.

Resümee: Dreierlei wurde von den Demonstrierenden vor der Kärntner Landesregierung gefordert: Restlose Aufklärung, Konsequenzen und öffentliches Bedauern. Aufklärung über die politische Verantwortung, politische und dienstrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen, sowie eine öffentliche Entschuldigung bei den betroffenen Organisationen und Personen, die das antifaschistische Bildungsseminar am Peršmanhof organisiert oder daran teilgenommen hatten. Nichts davon ist bisher passiert.

VS 2025/7-8 S.33

Bildquelle: Ullstein Verlag

Keine Zeit

Von Fiona Sinz

In »Alle_Zeit« widmet sich Teresa Bücker ausführlich dem Thema Zeitpolitik. Im Zentrum steht Zeit als zentrale Ressource unserer Gesellschaft, die jedoch oftmals nicht als solche begriffen wird. Wer wann warum Zeit für was verwenden kann oder muss, ist eine grundsätzlich politische Frage und spiegelt nicht nur gesellschaftliche Ungleichheiten wider, sondern erzeugt und reproduziert diese. Die Freiheit, über die eigene Zeit verfügen zu können, und weiter die Zeitnutzung von anderen zu beeinflussen, ist ein integraler Bestandteil von Macht und Machterhalt. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit und die Zeit, die für sie aufgewendet wird, auf ein Podest gestellt wird, verliert die Freizeit immer mehr an Bedeutung. Doch was ist das eigentlich, diese »Freizeit«?

Menschen tendieren dazu, sich über die Nutzung ihrer Zeit zu definieren. Es ist wichtig, die Zeit mit »sinnvollen« und »interessanten« Tätigkeiten zu füllen, wir suchen nach »Erfüllung« und wollen uns als »wertvoller« Teil der Gesellschaft sehen. Dabei geht es vor allem um die Zeit, die wir mit bezahlter Arbeit verbringen. Als eindrückliches Beispiel bringt Bücker die klassische Vorstellungsrunde: Hallo, mein Name ist ____ und ich arbeite als ____. Die Erwerbsarbeit ist im Gegensatz zur Zeit, die wir unbezahlt verbringen, stark identitätsstiftend. So nennt man äußerst selten zuerst ein Hobby oder eine Charaktereigenschaft, um sich anderen vorzustellen. Damit öffnet sich eine Kategorie, anhand derer wir uns und andere bewerten und zuordnen. Menschen, die aus verschiedensten Gründen keiner Erwerbsarbeit (mehr) nachgehen, sehen sich mit einem gewissen Identitätsverlust konfrontiert, da ihre Zeitnutzung als nicht wertvoll empfunden wird. Gleiches gilt für Menschen mit Berufen, die als nicht wertvoll oder interessant genug gesehen werden.

Laut der Studien, die Bücker nennt, wird Zeitknappheit von allen Gesellschaftsschichten unabhängig von Klasse und sozialem Standing wahrgenommen. Dass Zeit eine endliche Ressource ist und damit »knapp«, wird Kindern explizit beigebracht, und ihre Wahrnehmung als solche gilt als wichtiger Schritt im Erwachsenwerden. Im Gegensatz zu vielen anderen Ressourcen kann sie jedoch nicht aufgespart werden und zum Beispiel im Alter genutzt werden, auch ist Zeit, in der wir gesund und agil sind, vielseitiger einsetzbar und damit etwas »freier« als die Zeit im Alter. Einfach auf die Pension warten funktioniert also nicht. Wie wir diese Zeitknappheit jedoch wahrnehmen und in welchen Lebensbereichen sie uns einschränkt, unterscheidet sich fundamental nach finanziellen und sozialen Merkmalen. Besonders interessant und beschäftigt zu wirken, ist zum Beispiel eher ein Problem der Oberschicht. Auch extrem lange Arbeitszeiten plagen eher gut verdienende Männer. Dass man neben der Arbeit am Arbeitsplatz und der Arbeit zu Hause, wie etwa Kinderbetreuung, keine Zeit mehr für ausreichend Bewegung hat, ist ein grundsätzlich weibliches Problem. Wer das Geld hat, die Arbeit zu Hause großflächig auslagern zu können, also Personen für diese Arbeit zu beschäftigen, spürt die Auswirkungen davon im Alter natürlich weniger.

Bücker behandelt den Einfluss von Zeitpolitik auf patriarchale Strukturen besonders ausführlich und hält den Lesenden immer wieder mit deprimierenden Zahlen vor Augen, wie ungleich verteilte Care-Arbeit zum Beispiel Müttern die Zeit raubt, wie wir als Mädchen erzogenen Kindern beibringen, wie sie ihre Zeit zu nutzen haben. Besonders einprägend war hier das Thema Homeoffice: »Bei Müttern führt das Homeoffice […] sogar dazu, dass sie nicht nur länger für ihren Job arbeiten, sondern sich zusätzlich etwa drei Stunden mehr um ihre Kinder kümmern als Mütter mit außerhäusigem Arbeitsplatz. Väter arbeiten zu Hause bis zu sechs Stunden mehr pro Woche als im Büro, kümmern sich aber weniger um ihre Kinder als Väter mit festem Arbeitsplatz im Unternehmen.« Bücker sieht Care-Arbeit ganz klar als Arbeit und sieht diese daher als im Diskurs und in der Gesellschaft ungerecht behandelt gegenüber der Erwerbsarbeit. Daher hagelt es seitenweise Kritik für das, was die Autorin weißen Karriere-Feminismus – jüngere Generationen nennen ihn oft »girlboss feminism« – nennt, der Klasse und intersektionale Unterdrückung aus seinem Verständnis der feministischen Befreiung ausschließt.

Bücker beschreibt in »Alle_Zeit« ausführlich belegt den Status quo der Zeitungleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft. Vor allem aber versucht sie sich an dem Ansatz einer Zeit-Utopie. »Muss das so sein?« und »Wie können wir das besser machen?« scheinen die grundoptimistischen führenden Fragen hinter dem Text zu sein. Das Buch ist also in keinem Fall zynisch, auch wenn die Faktenlage zur Thematik das eindeutig hergeben würde. Langwierig wird jeder Aspekt der Zeit im menschlichen Alltag aufgedröselt, erklärt und problematisiert. Als Einstiegswerk ist es damit zwar inhaltlich zugänglich, durch seine Länge mit 330 Seiten braucht man aber Durchhaltevermögen. Neben der Einbettung von zahlreichen Studien und Forschung setzt sich das Buch tiefgehend mit der Politik rund um die Zeit auseinander. Die Errungenschaften, aber vor allem die Versäumnisse der Gewerkschaften rund um Zeitpolitik kritisiert Bücker, aber nicht ohne Verbesserungsanleitung für die Zukunft. Gleichzeitig bemüht sich die Autorin um den Diskurs rund um Zeitpolitik. Bücker ist der einleuchtenden Auffassung, dass, wie wir über Zeit(politik) reden, ändern kann, wie wir sie nutzen – oder zumindest ändert, was wir fordern und erkämpfen können. 

VS 2025/7-8 – S. 7

Bildquelle: https://poldi.leopoldstadt.net/p/article181.html

Irma Schwager – eine jüdische Kommunistin?

Von Ernst Schwager

Als Irma in ihrem 95.Lebensjahr auch bei nichtkommunistischen Kreisen Anerkennung gefunden hatte und Standard und Profil über sie jeweils einen umfangreichen Artikel als Würdigung veröffentlicht hatten, war Irma trotzdem unzufrieden. Weshalb – so fragte sie mich – bezeichnen diese Artikelschreiberinnen mich als JÜDISCH? Die Juden sind doch zionistisch oder religiös oder sowohl zionistisch als auch religiös – aber ich bin doch weder das eine noch das andere, ich bin doch keine Jüdin!

Selbstverständlich hatte meine Mutter vor zehn Jahren (kurz vor ihrem Tod) jedes Recht, sich selbst zu definieren wie sie wollte. Trotzdem halte ich ihre Aussage für eine Schutzbehauptung, die ihr bei der Bewältigung ihrer äußerst herausfordernden Erfahrungen im 2.Weltkrieg in ihrem Gefühlsleben vermeintliche Sicherheiten bot. Meine persönliche Ansicht ist, dass die »Marginalisierten«, also die Juden, die weder zionistisch noch religiös sind, die große Mehrheit des Judentums darstellen (Kafka, Freud und Woody Allen sollen als Beleg für meine Ansicht dienen).

Die kommunistischen Widerstandskämpfer:innen jüdischer Herkunft waren in der KPÖ zahlreich vertreten, allein in der französischen Resistance nach Auskunft von Franz Marek ca. 180 Menschen, von denen mindestens 84 Folter und KZ und viele den gewaltsamen Tod erleiden mussten. Deshalb steht meine Mutter Irma als Beispiel auch für so viele andere Genoss:innen, wobei sie – zufällig – nie gefangengenommen oder gefoltert wurde. 

Als ich ca. zehn Jahre alt war, besuchte uns mein Onkel Bruno Gugig aus Venezuela. Er hatte 1938 gerade noch nach Südamerika entkommen können, nachdem zuvor sein Textilgeschäft in Simmering geraubt (»arisiert«) worden war. Und zu meinem kindlichen Unverständnis äußerte Onkel Bruno sich gegenüber meiner Mutter: »Irma, bist du völlig meschugge geworden, dass du ins Land der Mörder zurückgekommen bist?« Die Antwort meiner Mutter erstaunte mich sehr: »Lieber Bruno, ich verstehe dich und deine Revanchegefühle von Hass und Zorn, aber wenn du auch ein bisschen auf deinen Verstand hören könntest, so musst du doch zugeben, dass wir, die Antifaschisten, diesen Krieg gegen Hitler gewonnen haben! Unsere Aufgabe ist es jetzt, in Österreich, Europa und weltweit demokratische Zustände herzustellen.« Und pathetisch fügte sie hinzu: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!«

In Österreich lebten 1938 ungefähr 200.000 Juden und Jüdinnen, von denen 180.000 in der Kultusgemeinde eingeschrieben waren. 60.000 bis 65.000 von ihnen sind ermordet worden. Die überwältigende Mehrheit der Überlebenden dachte so wie Onkel Bruno: Nie wieder ins Land der Mörder! Und die Überlebenden hatten nicht nur Hass- und Rachegefühle, sondern auch Trauer. Sie hatten zusätzlich auch Schuldgefühle, weil speziell viele ältere Menschen den Mördern nicht rechtzeitig entkommen hatten können, und nun vor allem die jüngere Generation der Emigrant:innen sich fragte, ob sie Mitschuld am Tod ihrer Eltern waren, weil sie sie vermeintlich »im Stich gelassen« hatten. Viele fragten sich: Warum habe ich überleben können und meine Angehörigen wurden ermordet? Manche der Überlebenden in Europa wie z.B. Primo Levi verübten noch Jahre danach aus Schuldgefühl Selbstmord. 

Aber es gab gleichzeitig eine beträchtliche Anzahl von Jüdinnen und Juden, die schon 1945 nach Österreich gekommen sind: das waren die kommunistischen Mitglieder der ÖFF, der Österreichischen Freiheitsfront. Sie waren während des 2.Weltkriegs weltweit vernetzt. Von Schanghai über Buenos Aires, Bogota über New York und London bis Brüssel und Paris beeilten sich diese jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten nach Wien, um dazu beizutragen, das wiedererstandene Österreich antifaschistisch und demokratisch aufzubauen. Viele von ihnen traten der Kultusgemeinde bei und erhielten bei den ersten Wahlen die Mehrheit in dieser Institution. 

Dabei hatten diese Mitglieder der KPÖ ebenfalls starke Hass- und Rachegefühle gegenüber den »Ex?«-Nazis sowie tiefe Trauer und Schuldgefühle gegenüber den ermordeten Verwandten und Bekannten. Aber es war für sie psychisch schwierig, gleichzeitig für ein neues, antifaschistisches Österreich einzutreten und im »Land der Mörder« politisch unter den tief von der Naziideologie beeinflussten Österreichern zu wirken. 

Wie äußerte sich dieser Widerspruch bei meiner Mutter Irma? Sie behauptete, dass sie nie ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, weil sie ja aktiv gekämpft habe. Aber wie stand es mit ihren Gefühlen gegenüber ihrer Herkunftsfamilie, der Familie Wieselberg aus der großen Pfarrgasse 8 in der Leopoldstadt? Mein Großvater hieß Nuchim (= Nathan) und hatte eine Greißlerei nahe der Wohnung. Meine Großmutter hieß Lea (geborene Freud). Sie half in der Greißlerei und kümmerte sich um die vier Kinder. Der älteste war Artur, der zu Kriegsbeginn 1914 geboren war. Der zweite war der 1916 geborene Salo. Ihm folgte 1918 Oskar und 1920 kam Irma als Jüngste zur Welt.

Mein Großvater Nuchim wurde im Juni 1942 vom Sammellager in der Sperlgasse in der Mittagszeitszeit gemeinsam mit 1000 anderen Juden in den 3. Bezirk in den damaligen Aspangbahnhof gebracht und von dort nach Weißrussland ins Lager Maly Trostinec bei Minsk transportiert, wo er sofort erschossen wurde. Möglich ist auch, dass er in einem der großen LKWs mit Kohlenmonoxid ermordet wurde. Meine Großmutter Lea  bekam im Schloss Hartheim in Oberösterreich eine tödliche Giftspritze. Mein Onkel Artur versuchte über Bratislava mit einem Schiff gemeinsam mit anderen österreichischen Jüd:innen über die Donau nach Palästina zu entkommen. Doch als die deutsche Armee Jugoslawien im Blitzkrieg besetzte, begann auch der heldenhafte Abwehrkampf der »Titopartisanen«. Laut Heeresbefehl wurden als »Sühnemaßnahme« für jeden gefallenen deutschen Soldaten 100 Juden, darunter mein Onkel Artur, ermordet. Da dies bei der Stadt Kladovo geschah, nannte man diesen Fluchtversuch Kladovotransport. Meinem Onkel Salo gelang die Flucht nach Frankreich. Von der Garde mobile wurde er gefasst und nach Auschwitz transportiert. Er überlebte die Auflösung dieses Lagers im Jänner 1945 und wurde auf dem Todesmarsch ins KZ Flossenbürg einen Monat vor Kriegsende getötet.

Meinem jüngsten Onkel Oskar und meiner Mutter gelang es, den Mördern zu entkommen. Überlebt haben also zwei von den sechs Mitgliedern der Familie Wieselberg. Nun kann sich jeder Leser und jede Leserin ein eigenes Urteil dazu bilden, was die Äußerungen von Irma, dass sie nicht jüdisch und kein Opfer sei, mit der harten Realität ihrer Herkunftsfamilie zu tun haben. Mit 95 Jahren gelang es meiner Mutter erstmals, bei der großen Gedenkkundgebung am Heldenplatz im Jänner 2015 über ihre eigene Herkunftsfamilie in der Öffentlichkeit zu reden. Unter starker Erregung sagte sie bloß: »Auch meine Familie war vom Naziterror betroffen.« 

Aber ihre starken Gefühle brachen bei anderer Gelegenheit unkontrolliert durch. Sie erzählte mir einmal, dass ihr Vater Nuchim täglich zwischen drei und fünf Uhr früh zum Naschmarkt gefahren ist, um die Waren für sein eigenes Geschäft einzukaufen und in die Pfarrgasse zu bringen. Völlig unschuldig fragte ich: »Wie hat er das gemacht? Hat er einen Leiterwagen gehabt?« Mit zorniger Stimme schrie sie mich unvermutet an: »Bist du bei der Gestapo, dass du solche Fragen stellst? Willst du einen Ariernachweis kontrollieren?«

Über Persönliches aus der Vorkriegszeit konnte Irma kaum sprechen. Als sie einmal im Club 2 eingeladen war, fragte sie der Moderator Horst Friedrich Mayr: »Gnädige Frau Schwager, wie haben Sie persönlich den 12.März 1938 erlebt?« Stolz antwortete meine Mutter: »Die KPÖ hat noch am selben Tag ein Flugblatt verbreitet, in dem der Kampf gegen den ›Anschluss‹ und für die Unabhängigkeit Österreichs gefordert wurde!« Ich sagten ihr: »Er hat dich gefragt, wie du persönlich diesen Tag erlebt hast. Du hast erlebt, dass dein herzkranker Vater Nuchim im Sessel aus dem zweiten Stock auf die Straße zu den Reibepartien getragen wurde, damit er die Antihitlerlosungen wegwasche. Du hast erlebt, wie deine Mutter Lea aus Protest einen Blumenstock vom Fenster auf die Straße geworfen hat. Du hast erlebt, wie dein Bruder Oskar die Ärmel hochgekrempelt hat und gefragt hat, wo die Straße ist, die er waschen darf. Und schließlich hast du in der Taborstraße erlebt, wie man dich vom Fahrrad gerissen hat und dir den Kübel mit Lauge in die Hand gedrückt hat. Aus Protest hast du den Kübel auf die Straße geworfen und bist den verdutzten Männern davongefahren. Das alles hast du auf die Frage nach dem 12.März 1938 nicht erwähnt.« Irma antwortete mir: »Ernstl, wen interessiert schon so Persönliches!«

Die Appelle an die Vernunft und den Verstand, statt sich »von den Gefühlen mitreißen zu lassen«, habe ich nicht nur bei meiner Mutter, sondern auch bei einigen anderen (ehemals jüdischen) Genossinnen und Genossen beobachten können. Der österreichische Autor Robert Schindel hat diese Verhaltensweise treffend »das Wegassimilieren des Holocausts ins Österreichische« genannt. Wir Nachgeborenen, wir Kinder der Emigration, bilden eine »Schnittblumengeneration« Das bedeutet für mich: Wir haben keine Wurzeln. Die meisten der hunderten Kinder der Emigration haben nie in ihrem Leben die eigenen Großeltern oder zahlreiche Onkeln und Tanten erlebt. Diese sind nicht einfach »gestorben«, sondern wie Ungeziefer vergast worden. Die industriell betriebene Vernichtung war nur teilweise erfolgreich, deshalb wünschen sich die Kellernazi in ihren Songbooks »die siebte Million«. Nach deren Überzeugung ist das Heil auf der Welt dann gerettet, wenn sie »judendfrei« wird. Das hat mein Onkel Bruno aus Venezuela gemeint, als er vom „Land der Mörder“ gesprochen hat. Es gibt den Ausspruch »Schwer zu sein ein Jid!“«— für die österreichischen KP-Mitglieder aus jüdischen Herkunftsfamilien trifft diese Charakterisierung.

1945–2025: Die Volksstimme feiert ihr 80-jähriges Jubiläum

von Michael Graber*

Plakat der Volksstimme aus dem Jahr 1946. © Österreichische Nationalbibliothek

Am 5. August 1945 erschien die erste Ausgabe der „Österreichischen Volksstimme“ – gegründet als Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Die neue Zeitung knüpfte bewusst nicht direkt an das Vorgängerblatt „Die Rote Fahne“ an, sondern setzte auf ein zugänglicheres, populäreres Konzept, das ein breiteres Publikum ansprechen sollte. Nach der Befreiung Österreichs durch die Rote Armee und der Bildung einer provisorischen Regierung, der auch die KPÖ angehörte, konnten die politischen Parteien in Ostösterreich – im Unterschied zu den westlichen Besatzungszonen – erstmals wieder eigene Presseorgane herausgeben.

In der Redaktion der Volksstimme versammelten sich erfahrene kommunistische Journalist:innen, ebenso wie bekannte Widerstandskämpfer:innen und zahlreiche neue Kräfte, die Krieg, Verfolgung, Lagerhaft und Exil überlebt hatten. Die Erinnerung an diese schwierigen Jahre bestimmte lange auch die Themenauswahl und die Haltung der Redaktion.

Der Start der Zeitung war mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. So verfügte die Volksstimme zunächst über keine eigene Druckerei und musste für die Herstellung einen Pachtvertrag mit der Steyrermühl abschließen, der nach zehn Jahren endete. Auflage und Umfang der Zeitung waren zu Beginn streng an die knappe Papierzuteilung der Besatzungsmächte gebunden, sodass einzelne Ausgaben zeitweise ausfielen oder in stark reduzierter Form erschienen. Der Vertrieb musste vollständig neu organisiert werden, teils auch unabhängig von der staatlichen Post; stattdessen schwärmten tausende Freiwillige und Aktivist:innen der KPÖ aus, um die Wochenendausgabe direkt zu den Abonnent:innen zu bringen.

Die Volksstimme entwickelte sich zu einem wichtigen Bollwerk gegen den Antikommunismus, der im Zuge des Kalten Krieges zur österreichischen Staatsdoktrin erhoben wurde. Auch wenn die oft unkritische Berichterstattung über die kommunistisch regierten Staaten Osteuropas der Zeitung mitunter Glaubwürdigkeitsdefizite einbrachte, blieb ihre Stimme im österreichischen Medienspektrum unverzichtbar.

Neben der intensiven innenpolitischen und gesellschaftlichen Berichterstattung widmete die Volksstimme traditionell einen besonderen Fokus jenen Ländern, die nach dem Zweiten Weltkrieg neue soziale und wirtschaftliche Wege einschlugen. Die Zeitung berichtete kontinuierlich über das politische, kulturelle und wirtschaftliche Geschehen in Ländern, die sich unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Transformation verschrieben hatten. Hierbei wurde insbesondere der Aufbau neuer gesellschaftlicher Strukturen, die Förderung internationaler Solidarität, aber auch die kritische Beobachtung von Entwicklungen und Reformprozessen jenseits des westlichen Modells dokumentiert und kommentiert. Im Zuge weltweiter Dekolonisationsprozesse richtete sich zudem ein verstärktes Interesse auf Prozesse gesellschaftlicher Emanzipation, sozialer Sicherung und Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitswesen in bislang benachteiligten Regionen.

Eine weitere deutliche Stärke der Volksstimme bestand in ihrer Betriebsberichterstattung und in ihrem beständigen Einsatz für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung und der Pensionist:innen. Mit der Konzentration des kommunistischen Pressewesens in den 1970er und 80er Jahren – die Presse der KPÖ musste sich stets im Wettbewerb mit den großen, kommerziellen Medien behaupten – übernahm die Volksstimme zunehmend auch die Berichterstattung aus den Bundesländern, nachdem zuvor eigene regionale Parteizeitungen diese Aufgabe übernommen hatten.

Gleichzeitig wurde in der Volksstimme der Kulturteil stets bewusst gepflegt und als lebendiges Forum gestaltet. Hier fanden sowohl etablierte als auch junge Autor:innen, Kulturschaffende und kritische Stimmen eine Plattform. Gesellschaftspolitische Aspekte der Kulturentwicklung wurden ebenso diskutiert wie aktuelle Strömungen in Kunst, Literatur und Theater. Die Volksstimme prägte so maßgeblich das linke Kulturverständnis in Österreich und leistete einen wichtigen Beitrag zur Förderung progressiver Kunst. Durch zahlreiche Reportagen, Rezensionen und Interviews half die Zeitung, Stimmen des Widerstands ebenso wie neue, vielfältige Ausdrucksformen und gesellschaftliche Debatten der Nachkriegszeit sichtbar zu machen.

Immer wieder führten finanzielle Engpässe, etwa durch einen langandauernden Inseratenboykott, zu erheblichen Schwierigkeiten. Nach dem Wegfall der Gewinne des herausgebenden Globusverlags musste die Volksstimme 1991 zunächst zur Wochenzeitung, später zum Monatsmagazin umgestellt werden. Das Konzept einer klassischen Parteizeitung wurde bereits in den 1980er Jahren aufgegeben.

Heute präsentiert sich die Volksstimme – dank der Treue ihrer Abonnent:innen – als unabhängiges, linkes Monatsmagazin, das seine freundschaftliche Nähe zur KPÖ offen bekennt, zugleich aber Raum für eine breite Autor:innenschaft bietet. Mittlerweile haben über 400 Autor:innen aus unterschiedlichen Generationen und politischen Zusammenhängen ehrenamtlich, also honorarfrei, zur Volksstimme beigetragen. Diese engagierte Basis und die langjährige Treue der Leser:innen bilden auch im 80. Jahr ihres Bestehens das stabile Fundament der Volksstimme.

*Der Autor Michael Graber war von 1982 bis 1990 Chefredakteur der Tageszeitung Volksstimme und gehört weiterhin der Redaktion des aktuellen Monatsmagazins an.

VS 2025/6 – S. 8

 

Bildquelle: Pixabay

Friedrich Merz, der schwer Bewaffnete

Von Antonia Zarth

Nach jahrzehntelangem Machtkampf und zweitweisem Rückzug in die Privatwirtschaft ist es dem CDU-Politiker nun endlich gelungen, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Bis dahin war es ein steiniger Weg, der beinahe ins Nichts geführt hätte. Doch warum ist Merz selbst in den eigenen Reihen derart unbeliebt? Eine Rekonstruktion von Antonia Zarth.

 

Ein Raunen geht durch den Bundestag an jenem 6. Mai 2025. Eigentlich sollte alles in trockenen Tüchern sein. Der designierte Bundeskanzler steht fest, die Koalitionsverhandlungen mit der SPD waren erfolgreich, der jetzige finale Wahlgang der Parlamentsmitglieder scheint eine reine Formsache. Doch dann verkündet Julia Klöckner, die Sprecherin des Bundestages etwas, das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist: Von den benötigten 316 Stimmen für eine erfolgreiche absolute Mehrheit sind nur 310 zustande gekommen. Merz scheitert im ersten Wahlgang. Die große Koalition aus SPD und CDU, die insgesamt mit ihren 328 Stimmen quasi einstimmig den Wahlsieg im letzten Schritt bestätigen sollte, scheint tief gespalten. Sind ihm sogar Parteikolleg*innen in den Rücken gefallen?

 

Es ist ein Paukenschlag und eine Demütigung, die es in Österreich gar nicht geben würde. Während der Bundespräsident in Deutschland den Kanzlerkandidaten lediglich zur Wahl durch den Bundestag vorschlägt, wird dieser in Österreich direkt vom Bundespräsidenten durch den Auftrag zur Regierungsbildung ernannt. Der österreichische Nationalrat muss dieser Entscheidung nicht mehr zustimmen, kann allerdings jederzeit ein Misstrauensvotum fordern. Während Merz also auf eine zwingend erforderliche Mehrheit des Bundestages angewiesen war, um ins Amt gehoben zu werden, muss ein österreichischer Kanzlerkandidat nur eine faktisch mehrheitliche Zustimmung haben, die ein Misstrauensvotum ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich macht. Der letzte Wahlgang des deutschen Bundestages ist ein Charakteristikum einer dezidiert parlamentarischen Demokratie – die Volksvertreter*innen dürfen in einer letzten Instanz entscheiden, ob der vorgeschlagene Kandidat wirklich ihrer Ansicht nach dem Willen der Wähler*innen gerecht werden kann.

 

Umso bitterer die Niederlage, die trotz der Anwesenheit aller Abgeordneten aus SPD und CDU und der Zuversicht, mit einem Koalitionsprogramm nach erfolgreichen Verhandlungen die nötige Mehrheit zu erbringen, die Sitzung unterbricht. Stimmen werden laut. Zweiter Wahlgang in 14 Tagen? Neuwahlen wären eine Katastrophe, da sie vermutlich nur der AfD zu einem Plus an Stimmen verhelfen würden. SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil ist irritiert – es ist keine Liebesheirat aber wir hatten das doch so gut geübt mit dem JA-Ankreuzen! Gerüchte werden laut, dass sich Merz aufgrund seiner Ämtervergabe innerhalb der CDU Feinde gemacht hat, die sich als zu kurz gekommen sehen. Dabei beginnt dessen Geschichte der Unbeliebtheit schon sehr viel früher.

Bereits Ende der 1990er ist Merz eine feste Größe des ultrakonservativen Zweiges der CDU. Mit seiner Stimme gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen 1995 sowie gegen einen Gesetzesentwurf für den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe 1997 kristallisiert sich heraus, dass die Werte der bürgerlich-konservativen CDU für Merz bedeuten, den status quo beizubehalten und dementsprechend keinerlei Stärkung von Frauenrechten vorzunehmen. Zwar würde er heutzutage über die innereheliche Vergewaltigung anders abstimmen, allerdings offenbart seine Pöbelei gegen den Popanz der »feministischen Außenpolitik« der Außenministerin Annalena Baerbock zu Zeiten der Ampel-Koalition, dass es ihm ums Geld geht: »Sie können von mir aus feministische Außenpolitik machen, feministische Entwicklungshilfepolitik, können Sie alles machen, aber nicht mit diesem Etat für die Bundeswehr«, sagt er in der Bundestagssitzung vom 23. März 2022 und degradiert die Versuche, Vergewaltigung als Kriegswaffe zu kategorisieren, quasi zu einem Nischenthema. Ebenso kaltherzig und engstirnig zeigte er sich bereits 2000 bezüglich der – wie er es nannte – »sogenannten Homo-Ehe«. Er bezeichnet die Ablehnung einer Heirat gleichgeschlechtlicher Paare als »eine der wichtigsten, grundlegendsten Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes« – und natürlich vergisst er hierbei die freie Entfaltung der Bürger*innen als essentiellen Leitwert.

 

Doch dann schafft es Angela Merkel 2002, Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz zu entreißen und somit gleichzeitig Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU zu werden wird, bis sie 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wird. 2007 zieht sich Merz bis auf Weiteres aus der Politik zurück, 2009 verlässt er den Bundestag und wird Anwalt für Großkonzerne. Bei der Stadler Rail Group ist er Anteilseigner, durch deren Börsengang verdient er 2019 auf einen Schlag 5,7 Millionen Euro. Von 2016 bis 2020 ist er zudem im Aufsichtsrat des Vermögensverwalters BlackRock. Diese Tätigkeit, die oftmals lediglich in Nebensätzen erwähnt wird, muss in ihren Dimensionen nochmals hervorgehoben werden. BlackRock verwaltet ein Vermögen von 11,5 Billionen Dollar – fast das Doppelte von dem, was alle Deutschen besitzen. BlackRock ist beispielsweise einer der größten Investoren in fossile Brennstoffe und unterstützt einen Raubbau, der in Zeiten der immer deutlicher sichtbaren Folgen des Klimawandels einfach nicht mehr zu verantworten ist.

 

Merz ist also keinesfalls nur ein moralisch grauer Lobbyist, der Wirtschaftsgeschenke dankend annimmt und sich etwas dazuverdient. Er stellt sich hinter hyperkapitalistische Unternehmen und lässt sich vor deren Karren spannen. Laut CORRECTIV-Recherchen stimmt das CDU-Wahlprogramm für die Bundestagswahl im vergangenen Februar »teils wortgenau mit Forderungen der Chemie- und Metallindustrie überein«. Auch der Chemiekonzern BASF legt offen, dass Merz in seiner Zeit als Firmenanwalt Mandate übernommen hat. Merz arbeitete zum Zeitpunkt der BASF-Mandate für die Kanzlei Mayer Brown, die laut Aussage eines ehemaligen Kollegen Brücken zwischen Wirtschaft und Politik schlagen. Und wie es der Zufall will, ist ausgerechnet der weltweit größte Chemiekonzern BASF der größte Investor in den wiederum weltweit größten Vermögensverwalter BlackRock.

 

Somit stellt sich die Frage: Für wen macht Merz eigentlich Politik? Ist er ein Volks- oder ein Wirtschaftsvertreter? CORRECTIV betont, dass bei Merz ein »umgekehrter Drehtüreffekt« vorliege: Während andere Politiker*innen nach ihrer Politkarriere in die Privatwirtschaft wechseln, kommt Merz gerade aus dieser wieder zurück und könnte dezidiert ihre Ziele verfolgen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Mitglieder aus der – einst sich als Arbeiterpartei begreifenden – SPD einer Koalition trotz der Notwendigkeit einer neuen Regierung nicht widerstandslos zustimmen konnten. Ein weiterer entscheidender Punkt kommt in der ZDF-Nachrichten-Sondersendung »Mensch Merz! Der Herausforderer« 2024 zum Tragen. Während Merz Konzerne wie BASF vertrat und Millionen verdiente, haben Andere weiterhin Politik gemacht. Merz´ Rückkehr aus den Kommandohöhen des Kapitalismus ist für viele Politiker*innen, die sich nach wie vor mit den Problemen der deutschen Bürger*innen befasst haben, den Kontakt gesucht und oftmals den Konflikt gefunden haben, nachvollziehbarerweise ein rotes Tuch.

 

Auch in der jüngeren Vergangenheit hat sich Merz durch seine ungeschickte Ausdruckweise diskursiv immer mehr dem rechten Rand angenähert. »Kleine Paschas« und »Sozialtourismus« sind Unwörter, die in Interviews und Talkshows verwendet wurden und die eine Abgrenzung des bislang seriösen CDU-Konservatismus gegenüber der rechtspopulistischen AfD infrage stellen. Hinzu kommt, dass Merz die von ihm mehrfach betonte Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD am 29. Januar 2025 verwarf. Der Antrag für einen Gesetzesentwurf eines Fünf-Punkte-Plans der CDU/CSU zur Verschärfung der Migrationspolitik wurde mithilfe der Stimmen der AfD im Parlament beschlossen. Zwar wurde dieser wenig später als unzulässig wieder verworfen, allerdings handelte es sich dabei um einen beispiellosen Bruch: Vor allem die Forderung nach direkter Zurückweisung Schutzsuchender an den Grenzen widersprach nicht nur dem Asylrecht, sondern war als Antrag einer christlich-demokratischen Partei an Herzlosigkeit kaum zu überbieten. Von sämtlichen Parteien hagelte es scharfe Kritik, CDU-Urgesteine wie Michel Friedmann gaben ihren Parteiaustritt bekannt. Merz handelte trotzig, berechnend und nahm billigend in Kauf, die Demokratie nach seinen Vorstellungen zu untergraben. Den Umfragewerten tat dies jedoch keinen Abbruch.

 

Das Debakel des 6. Mai war dementsprechend nur vordergründig ein Schock. Friedrich Merz schaffte es schon in der Vergangenheit, mit Doppelmoral und Opportunismus zu glänzen. Die Frage, für wen ein Kanzler, der sich mit Privatjet und einem Vermögen in Millionenhöhe zum Mittelstand zählt, Politik macht, wird jedenfalls durch sein Tun beantwortet. Deutschland (wieder) zur führenden Militärmacht in Europa machen zu wollen, und mit unglaublichen Milliardensummen die Rüstungsindustrie zu füttern, spricht für eine unfassbar antisoziale bzw. asoziale militaristische Orientierung, die ihrer inneren Logik nach auf Krieg ausgerichtet ist. Aber damit ist er leider nicht der einzige in der deutschen Regierungsriege.

Quellen:

https://www.berlinertageblatt.de/Politik/445041-massive-kritik-an-merz-nach-annahme-von-antrag-zu-migration-mit-afd-unterstuetzung.html?utm_source=chatgpt.com

https://www.youtube.com/watch?v=FYAqvdloGDUhttps://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2025/01/28/bester-mann-der-grosskonzerne-das-lobby-netzwerk-von-friedrich-merz/