Autor: captain

VS 2025/7-8 S.33

Bildquelle: Ullstein Verlag

Keine Zeit

Von Fiona Sinz

In »Alle_Zeit« widmet sich Teresa Bücker ausführlich dem Thema Zeitpolitik. Im Zentrum steht Zeit als zentrale Ressource unserer Gesellschaft, die jedoch oftmals nicht als solche begriffen wird. Wer wann warum Zeit für was verwenden kann oder muss, ist eine grundsätzlich politische Frage und spiegelt nicht nur gesellschaftliche Ungleichheiten wider, sondern erzeugt und reproduziert diese. Die Freiheit, über die eigene Zeit verfügen zu können, und weiter die Zeitnutzung von anderen zu beeinflussen, ist ein integraler Bestandteil von Macht und Machterhalt. In einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit und die Zeit, die für sie aufgewendet wird, auf ein Podest gestellt wird, verliert die Freizeit immer mehr an Bedeutung. Doch was ist das eigentlich, diese »Freizeit«?

Menschen tendieren dazu, sich über die Nutzung ihrer Zeit zu definieren. Es ist wichtig, die Zeit mit »sinnvollen« und »interessanten« Tätigkeiten zu füllen, wir suchen nach »Erfüllung« und wollen uns als »wertvoller« Teil der Gesellschaft sehen. Dabei geht es vor allem um die Zeit, die wir mit bezahlter Arbeit verbringen. Als eindrückliches Beispiel bringt Bücker die klassische Vorstellungsrunde: Hallo, mein Name ist ____ und ich arbeite als ____. Die Erwerbsarbeit ist im Gegensatz zur Zeit, die wir unbezahlt verbringen, stark identitätsstiftend. So nennt man äußerst selten zuerst ein Hobby oder eine Charaktereigenschaft, um sich anderen vorzustellen. Damit öffnet sich eine Kategorie, anhand derer wir uns und andere bewerten und zuordnen. Menschen, die aus verschiedensten Gründen keiner Erwerbsarbeit (mehr) nachgehen, sehen sich mit einem gewissen Identitätsverlust konfrontiert, da ihre Zeitnutzung als nicht wertvoll empfunden wird. Gleiches gilt für Menschen mit Berufen, die als nicht wertvoll oder interessant genug gesehen werden.

Laut der Studien, die Bücker nennt, wird Zeitknappheit von allen Gesellschaftsschichten unabhängig von Klasse und sozialem Standing wahrgenommen. Dass Zeit eine endliche Ressource ist und damit »knapp«, wird Kindern explizit beigebracht, und ihre Wahrnehmung als solche gilt als wichtiger Schritt im Erwachsenwerden. Im Gegensatz zu vielen anderen Ressourcen kann sie jedoch nicht aufgespart werden und zum Beispiel im Alter genutzt werden, auch ist Zeit, in der wir gesund und agil sind, vielseitiger einsetzbar und damit etwas »freier« als die Zeit im Alter. Einfach auf die Pension warten funktioniert also nicht. Wie wir diese Zeitknappheit jedoch wahrnehmen und in welchen Lebensbereichen sie uns einschränkt, unterscheidet sich fundamental nach finanziellen und sozialen Merkmalen. Besonders interessant und beschäftigt zu wirken, ist zum Beispiel eher ein Problem der Oberschicht. Auch extrem lange Arbeitszeiten plagen eher gut verdienende Männer. Dass man neben der Arbeit am Arbeitsplatz und der Arbeit zu Hause, wie etwa Kinderbetreuung, keine Zeit mehr für ausreichend Bewegung hat, ist ein grundsätzlich weibliches Problem. Wer das Geld hat, die Arbeit zu Hause großflächig auslagern zu können, also Personen für diese Arbeit zu beschäftigen, spürt die Auswirkungen davon im Alter natürlich weniger.

Bücker behandelt den Einfluss von Zeitpolitik auf patriarchale Strukturen besonders ausführlich und hält den Lesenden immer wieder mit deprimierenden Zahlen vor Augen, wie ungleich verteilte Care-Arbeit zum Beispiel Müttern die Zeit raubt, wie wir als Mädchen erzogenen Kindern beibringen, wie sie ihre Zeit zu nutzen haben. Besonders einprägend war hier das Thema Homeoffice: »Bei Müttern führt das Homeoffice […] sogar dazu, dass sie nicht nur länger für ihren Job arbeiten, sondern sich zusätzlich etwa drei Stunden mehr um ihre Kinder kümmern als Mütter mit außerhäusigem Arbeitsplatz. Väter arbeiten zu Hause bis zu sechs Stunden mehr pro Woche als im Büro, kümmern sich aber weniger um ihre Kinder als Väter mit festem Arbeitsplatz im Unternehmen.« Bücker sieht Care-Arbeit ganz klar als Arbeit und sieht diese daher als im Diskurs und in der Gesellschaft ungerecht behandelt gegenüber der Erwerbsarbeit. Daher hagelt es seitenweise Kritik für das, was die Autorin weißen Karriere-Feminismus – jüngere Generationen nennen ihn oft »girlboss feminism« – nennt, der Klasse und intersektionale Unterdrückung aus seinem Verständnis der feministischen Befreiung ausschließt.

Bücker beschreibt in »Alle_Zeit« ausführlich belegt den Status quo der Zeitungleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft. Vor allem aber versucht sie sich an dem Ansatz einer Zeit-Utopie. »Muss das so sein?« und »Wie können wir das besser machen?« scheinen die grundoptimistischen führenden Fragen hinter dem Text zu sein. Das Buch ist also in keinem Fall zynisch, auch wenn die Faktenlage zur Thematik das eindeutig hergeben würde. Langwierig wird jeder Aspekt der Zeit im menschlichen Alltag aufgedröselt, erklärt und problematisiert. Als Einstiegswerk ist es damit zwar inhaltlich zugänglich, durch seine Länge mit 330 Seiten braucht man aber Durchhaltevermögen. Neben der Einbettung von zahlreichen Studien und Forschung setzt sich das Buch tiefgehend mit der Politik rund um die Zeit auseinander. Die Errungenschaften, aber vor allem die Versäumnisse der Gewerkschaften rund um Zeitpolitik kritisiert Bücker, aber nicht ohne Verbesserungsanleitung für die Zukunft. Gleichzeitig bemüht sich die Autorin um den Diskurs rund um Zeitpolitik. Bücker ist der einleuchtenden Auffassung, dass, wie wir über Zeit(politik) reden, ändern kann, wie wir sie nutzen – oder zumindest ändert, was wir fordern und erkämpfen können.

 

VS 2025/7-8 – S. 7

Bildquelle: https://poldi.leopoldstadt.net/p/article181.html

Irma Schwager – eine jüdische Kommunistin?

Von Ernst Schwager

Als Irma in ihrem 95.Lebensjahr auch bei nichtkommunistischen Kreisen Anerkennung gefunden hatte und Standard und Profil über sie jeweils einen umfangreichen Artikel als Würdigung veröffentlicht hatten, war Irma trotzdem unzufrieden. Weshalb – so fragte sie mich – bezeichnen diese Artikelschreiberinnen mich als JÜDISCH? Die Juden sind doch zionistisch oder religiös oder sowohl zionistisch als auch religiös – aber ich bin doch weder das eine noch das andere, ich bin doch keine Jüdin!

Selbstverständlich hatte meine Mutter vor zehn Jahren (kurz vor ihrem Tod) jedes Recht, sich selbst zu definieren wie sie wollte. Trotzdem halte ich ihre Aussage für eine Schutzbehauptung, die ihr bei der Bewältigung ihrer äußerst herausfordernden Erfahrungen im 2.Weltkrieg in ihrem Gefühlsleben vermeintliche Sicherheiten bot. Meine persönliche Ansicht ist, dass die »Marginalisierten«, also die Juden, die weder zionistisch noch religiös sind, die große Mehrheit des Judentums darstellen (Kafka, Freud und Woody Allen sollen als Beleg für meine Ansicht dienen).

Die kommunistischen Widerstandskämpfer:innen jüdischer Herkunft waren in der KPÖ zahlreich vertreten, allein in der französischen Resistance nach Auskunft von Franz Marek ca. 180 Menschen, von denen mindestens 84 Folter und KZ und viele den gewaltsamen Tod erleiden mussten. Deshalb steht meine Mutter Irma als Beispiel auch für so viele andere Genoss:innen, wobei sie – zufällig – nie gefangengenommen oder gefoltert wurde. 

Als ich ca. zehn Jahre alt war, besuchte uns mein Onkel Bruno Gugig aus Venezuela. Er hatte 1938 gerade noch nach Südamerika entkommen können, nachdem zuvor sein Textilgeschäft in Simmering geraubt (»arisiert«) worden war. Und zu meinem kindlichen Unverständnis äußerte Onkel Bruno sich gegenüber meiner Mutter: »Irma, bist du völlig meschugge geworden, dass du ins Land der Mörder zurückgekommen bist?« Die Antwort meiner Mutter erstaunte mich sehr: »Lieber Bruno, ich verstehe dich und deine Revanchegefühle von Hass und Zorn, aber wenn du auch ein bisschen auf deinen Verstand hören könntest, so musst du doch zugeben, dass wir, die Antifaschisten, diesen Krieg gegen Hitler gewonnen haben! Unsere Aufgabe ist es jetzt, in Österreich, Europa und weltweit demokratische Zustände herzustellen.« Und pathetisch fügte sie hinzu: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!«

In Österreich lebten 1938 ungefähr 200.000 Juden und Jüdinnen, von denen 180.000 in der Kultusgemeinde eingeschrieben waren. 60.000 bis 65.000 von ihnen sind ermordet worden. Die überwältigende Mehrheit der Überlebenden dachte so wie Onkel Bruno: Nie wieder ins Land der Mörder! Und die Überlebenden hatten nicht nur Hass- und Rachegefühle, sondern auch Trauer. Sie hatten zusätzlich auch Schuldgefühle, weil speziell viele ältere Menschen den Mördern nicht rechtzeitig entkommen hatten können, und nun vor allem die jüngere Generation der Emigrant:innen sich fragte, ob sie Mitschuld am Tod ihrer Eltern waren, weil sie sie vermeintlich »im Stich gelassen« hatten. Viele fragten sich: Warum habe ich überleben können und meine Angehörigen wurden ermordet? Manche der Überlebenden in Europa wie z.B. Primo Levi verübten noch Jahre danach aus Schuldgefühl Selbstmord. 

Aber es gab gleichzeitig eine beträchtliche Anzahl von Jüdinnen und Juden, die schon 1945 nach Österreich gekommen sind: das waren die kommunistischen Mitglieder der ÖFF, der Österreichischen Freiheitsfront. Sie waren während des 2.Weltkriegs weltweit vernetzt. Von Schanghai über Buenos Aires, Bogota über New York und London bis Brüssel und Paris beeilten sich diese jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten nach Wien, um dazu beizutragen, das wiedererstandene Österreich antifaschistisch und demokratisch aufzubauen. Viele von ihnen traten der Kultusgemeinde bei und erhielten bei den ersten Wahlen die Mehrheit in dieser Institution. 

Dabei hatten diese Mitglieder der KPÖ ebenfalls starke Hass- und Rachegefühle gegenüber den »Ex?«-Nazis sowie tiefe Trauer und Schuldgefühle gegenüber den ermordeten Verwandten und Bekannten. Aber es war für sie psychisch schwierig, gleichzeitig für ein neues, antifaschistisches Österreich einzutreten und im »Land der Mörder« politisch unter den tief von der Naziideologie beeinflussten Österreichern zu wirken. 

Wie äußerte sich dieser Widerspruch bei meiner Mutter Irma? Sie behauptete, dass sie nie ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, weil sie ja aktiv gekämpft habe. Aber wie stand es mit ihren Gefühlen gegenüber ihrer Herkunftsfamilie, der Familie Wieselberg aus der großen Pfarrgasse 8 in der Leopoldstadt? Mein Großvater hieß Nuchim (= Nathan) und hatte eine Greißlerei nahe der Wohnung. Meine Großmutter hieß Lea (geborene Freud). Sie half in der Greißlerei und kümmerte sich um die vier Kinder. Der älteste war Artur, der zu Kriegsbeginn 1914 geboren war. Der zweite war der 1916 geborene Salo. Ihm folgte 1918 Oskar und 1920 kam Irma als Jüngste zur Welt.

Mein Großvater Nuchim wurde im Juni 1942 vom Sammellager in der Sperlgasse in der Mittagszeitszeit gemeinsam mit 1000 anderen Juden in den 3. Bezirk in den damaligen Aspangbahnhof gebracht und von dort nach Weißrussland ins Lager Maly Trostinec bei Minsk transportiert, wo er sofort erschossen wurde. Möglich ist auch, dass er in einem der großen LKWs mit Kohlenmonoxid ermordet wurde. Meine Großmutter Lea  bekam im Schloss Hartheim in Oberösterreich eine tödliche Giftspritze. Mein Onkel Artur versuchte über Bratislava mit einem Schiff gemeinsam mit anderen österreichischen Jüd:innen über die Donau nach Palästina zu entkommen. Doch als die deutsche Armee Jugoslawien im Blitzkrieg besetzte, begann auch der heldenhafte Abwehrkampf der »Titopartisanen«. Laut Heeresbefehl wurden als »Sühnemaßnahme« für jeden gefallenen deutschen Soldaten 100 Juden, darunter mein Onkel Artur, ermordet. Da dies bei der Stadt Kladovo geschah, nannte man diesen Fluchtversuch Kladovotransport. Meinem Onkel Salo gelang die Flucht nach Frankreich. Von der Garde mobile wurde er gefasst und nach Auschwitz transportiert. Er überlebte die Auflösung dieses Lagers im Jänner 1945 und wurde auf dem Todesmarsch ins KZ Flossenbürg einen Monat vor Kriegsende getötet.

Meinem jüngsten Onkel Oskar und meiner Mutter gelang es, den Mördern zu entkommen. Überlebt haben also zwei von den sechs Mitgliedern der Familie Wieselberg. Nun kann sich jeder Leser und jede Leserin ein eigenes Urteil dazu bilden, was die Äußerungen von Irma, dass sie nicht jüdisch und kein Opfer sei, mit der harten Realität ihrer Herkunftsfamilie zu tun haben. Mit 95 Jahren gelang es meiner Mutter erstmals, bei der großen Gedenkkundgebung am Heldenplatz im Jänner 2015 über ihre eigene Herkunftsfamilie in der Öffentlichkeit zu reden. Unter starker Erregung sagte sie bloß: »Auch meine Familie war vom Naziterror betroffen.« 

Aber ihre starken Gefühle brachen bei anderer Gelegenheit unkontrolliert durch. Sie erzählte mir einmal, dass ihr Vater Nuchim täglich zwischen drei und fünf Uhr früh zum Naschmarkt gefahren ist, um die Waren für sein eigenes Geschäft einzukaufen und in die Pfarrgasse zu bringen. Völlig unschuldig fragte ich: »Wie hat er das gemacht? Hat er einen Leiterwagen gehabt?« Mit zorniger Stimme schrie sie mich unvermutet an: »Bist du bei der Gestapo, dass du solche Fragen stellst? Willst du einen Ariernachweis kontrollieren?«

Über Persönliches aus der Vorkriegszeit konnte Irma kaum sprechen. Als sie einmal im Club 2 eingeladen war, fragte sie der Moderator Horst Friedrich Mayr: »Gnädige Frau Schwager, wie haben Sie persönlich den 12.März 1938 erlebt?« Stolz antwortete meine Mutter: »Die KPÖ hat noch am selben Tag ein Flugblatt verbreitet, in dem der Kampf gegen den ›Anschluss‹ und für die Unabhängigkeit Österreichs gefordert wurde!« Ich sagten ihr: »Er hat dich gefragt, wie du persönlich diesen Tag erlebt hast. Du hast erlebt, dass dein herzkranker Vater Nuchim im Sessel aus dem zweiten Stock auf die Straße zu den Reibepartien getragen wurde, damit er die Antihitlerlosungen wegwasche. Du hast erlebt, wie deine Mutter Lea aus Protest einen Blumenstock vom Fenster auf die Straße geworfen hat. Du hast erlebt, wie dein Bruder Oskar die Ärmel hochgekrempelt hat und gefragt hat, wo die Straße ist, die er waschen darf. Und schließlich hast du in der Taborstraße erlebt, wie man dich vom Fahrrad gerissen hat und dir den Kübel mit Lauge in die Hand gedrückt hat. Aus Protest hast du den Kübel auf die Straße geworfen und bist den verdutzten Männern davongefahren. Das alles hast du auf die Frage nach dem 12.März 1938 nicht erwähnt.« Irma antwortete mir: »Ernstl, wen interessiert schon so Persönliches!«

Die Appelle an die Vernunft und den Verstand, statt sich »von den Gefühlen mitreißen zu lassen«, habe ich nicht nur bei meiner Mutter, sondern auch bei einigen anderen (ehemals jüdischen) Genossinnen und Genossen beobachten können. Der österreichische Autor Robert Schindel hat diese Verhaltensweise treffend »das Wegassimilieren des Holocausts ins Österreichische« genannt. Wir Nachgeborenen, wir Kinder der Emigration, bilden eine »Schnittblumengeneration« Das bedeutet für mich: Wir haben keine Wurzeln. Die meisten der hunderten Kinder der Emigration haben nie in ihrem Leben die eigenen Großeltern oder zahlreiche Onkeln und Tanten erlebt. Diese sind nicht einfach »gestorben«, sondern wie Ungeziefer vergast worden. Die industriell betriebene Vernichtung war nur teilweise erfolgreich, deshalb wünschen sich die Kellernazi in ihren Songbooks »die siebte Million«. Nach deren Überzeugung ist das Heil auf der Welt dann gerettet, wenn sie »judendfrei« wird. Das hat mein Onkel Bruno aus Venezuela gemeint, als er vom „Land der Mörder“ gesprochen hat. Es gibt den Ausspruch »Schwer zu sein ein Jid!“«— für die österreichischen KP-Mitglieder aus jüdischen Herkunftsfamilien trifft diese Charakterisierung.

1945–2025: Die Volksstimme feiert ihr 80-jähriges Jubiläum

von Michael Graber*

Plakat der Volksstimme aus dem Jahr 1946. © Österreichische Nationalbibliothek

Am 5. August 1945 erschien die erste Ausgabe der „Österreichischen Volksstimme“ – gegründet als Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Die neue Zeitung knüpfte bewusst nicht direkt an das Vorgängerblatt „Die Rote Fahne“ an, sondern setzte auf ein zugänglicheres, populäreres Konzept, das ein breiteres Publikum ansprechen sollte. Nach der Befreiung Österreichs durch die Rote Armee und der Bildung einer provisorischen Regierung, der auch die KPÖ angehörte, konnten die politischen Parteien in Ostösterreich – im Unterschied zu den westlichen Besatzungszonen – erstmals wieder eigene Presseorgane herausgeben.

In der Redaktion der Volksstimme versammelten sich erfahrene kommunistische Journalist:innen, ebenso wie bekannte Widerstandskämpfer:innen und zahlreiche neue Kräfte, die Krieg, Verfolgung, Lagerhaft und Exil überlebt hatten. Die Erinnerung an diese schwierigen Jahre bestimmte lange auch die Themenauswahl und die Haltung der Redaktion.

Der Start der Zeitung war mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. So verfügte die Volksstimme zunächst über keine eigene Druckerei und musste für die Herstellung einen Pachtvertrag mit der Steyrermühl abschließen, der nach zehn Jahren endete. Auflage und Umfang der Zeitung waren zu Beginn streng an die knappe Papierzuteilung der Besatzungsmächte gebunden, sodass einzelne Ausgaben zeitweise ausfielen oder in stark reduzierter Form erschienen. Der Vertrieb musste vollständig neu organisiert werden, teils auch unabhängig von der staatlichen Post; stattdessen schwärmten tausende Freiwillige und Aktivist:innen der KPÖ aus, um die Wochenendausgabe direkt zu den Abonnent:innen zu bringen.

Die Volksstimme entwickelte sich zu einem wichtigen Bollwerk gegen den Antikommunismus, der im Zuge des Kalten Krieges zur österreichischen Staatsdoktrin erhoben wurde. Auch wenn die oft unkritische Berichterstattung über die kommunistisch regierten Staaten Osteuropas der Zeitung mitunter Glaubwürdigkeitsdefizite einbrachte, blieb ihre Stimme im österreichischen Medienspektrum unverzichtbar.

Neben der intensiven innenpolitischen und gesellschaftlichen Berichterstattung widmete die Volksstimme traditionell einen besonderen Fokus jenen Ländern, die nach dem Zweiten Weltkrieg neue soziale und wirtschaftliche Wege einschlugen. Die Zeitung berichtete kontinuierlich über das politische, kulturelle und wirtschaftliche Geschehen in Ländern, die sich unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Transformation verschrieben hatten. Hierbei wurde insbesondere der Aufbau neuer gesellschaftlicher Strukturen, die Förderung internationaler Solidarität, aber auch die kritische Beobachtung von Entwicklungen und Reformprozessen jenseits des westlichen Modells dokumentiert und kommentiert. Im Zuge weltweiter Dekolonisationsprozesse richtete sich zudem ein verstärktes Interesse auf Prozesse gesellschaftlicher Emanzipation, sozialer Sicherung und Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitswesen in bislang benachteiligten Regionen.

Eine weitere deutliche Stärke der Volksstimme bestand in ihrer Betriebsberichterstattung und in ihrem beständigen Einsatz für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung und der Pensionist:innen. Mit der Konzentration des kommunistischen Pressewesens in den 1970er und 80er Jahren – die Presse der KPÖ musste sich stets im Wettbewerb mit den großen, kommerziellen Medien behaupten – übernahm die Volksstimme zunehmend auch die Berichterstattung aus den Bundesländern, nachdem zuvor eigene regionale Parteizeitungen diese Aufgabe übernommen hatten.

Gleichzeitig wurde in der Volksstimme der Kulturteil stets bewusst gepflegt und als lebendiges Forum gestaltet. Hier fanden sowohl etablierte als auch junge Autor:innen, Kulturschaffende und kritische Stimmen eine Plattform. Gesellschaftspolitische Aspekte der Kulturentwicklung wurden ebenso diskutiert wie aktuelle Strömungen in Kunst, Literatur und Theater. Die Volksstimme prägte so maßgeblich das linke Kulturverständnis in Österreich und leistete einen wichtigen Beitrag zur Förderung progressiver Kunst. Durch zahlreiche Reportagen, Rezensionen und Interviews half die Zeitung, Stimmen des Widerstands ebenso wie neue, vielfältige Ausdrucksformen und gesellschaftliche Debatten der Nachkriegszeit sichtbar zu machen.

Immer wieder führten finanzielle Engpässe, etwa durch einen langandauernden Inseratenboykott, zu erheblichen Schwierigkeiten. Nach dem Wegfall der Gewinne des herausgebenden Globusverlags musste die Volksstimme 1991 zunächst zur Wochenzeitung, später zum Monatsmagazin umgestellt werden. Das Konzept einer klassischen Parteizeitung wurde bereits in den 1980er Jahren aufgegeben.

Heute präsentiert sich die Volksstimme – dank der Treue ihrer Abonnent:innen – als unabhängiges, linkes Monatsmagazin, das seine freundschaftliche Nähe zur KPÖ offen bekennt, zugleich aber Raum für eine breite Autor:innenschaft bietet. Mittlerweile haben über 400 Autor:innen aus unterschiedlichen Generationen und politischen Zusammenhängen ehrenamtlich, also honorarfrei, zur Volksstimme beigetragen. Diese engagierte Basis und die langjährige Treue der Leser:innen bilden auch im 80. Jahr ihres Bestehens das stabile Fundament der Volksstimme.

*Der Autor Michael Graber war von 1982 bis 1990 Chefredakteur der Tageszeitung Volksstimme und gehört weiterhin der Redaktion des aktuellen Monatsmagazins an.

VS 2025/6 – S. 8

 

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Friedrich Merz, der schwer Bewaffnete

Von Antonia Zarth

Nach jahrzehntelangem Machtkampf und zweitweisem Rückzug in die Privatwirtschaft ist es dem CDU-Politiker nun endlich gelungen, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Bis dahin war es ein steiniger Weg, der beinahe ins Nichts geführt hätte. Doch warum ist Merz selbst in den eigenen Reihen derart unbeliebt? Eine Rekonstruktion von Antonia Zarth.

 

Ein Raunen geht durch den Bundestag an jenem 6. Mai 2025. Eigentlich sollte alles in trockenen Tüchern sein. Der designierte Bundeskanzler steht fest, die Koalitionsverhandlungen mit der SPD waren erfolgreich, der jetzige finale Wahlgang der Parlamentsmitglieder scheint eine reine Formsache. Doch dann verkündet Julia Klöckner, die Sprecherin des Bundestages etwas, das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist: Von den benötigten 316 Stimmen für eine erfolgreiche absolute Mehrheit sind nur 310 zustande gekommen. Merz scheitert im ersten Wahlgang. Die große Koalition aus SPD und CDU, die insgesamt mit ihren 328 Stimmen quasi einstimmig den Wahlsieg im letzten Schritt bestätigen sollte, scheint tief gespalten. Sind ihm sogar Parteikolleg*innen in den Rücken gefallen?

 

Es ist ein Paukenschlag und eine Demütigung, die es in Österreich gar nicht geben würde. Während der Bundespräsident in Deutschland den Kanzlerkandidaten lediglich zur Wahl durch den Bundestag vorschlägt, wird dieser in Österreich direkt vom Bundespräsidenten durch den Auftrag zur Regierungsbildung ernannt. Der österreichische Nationalrat muss dieser Entscheidung nicht mehr zustimmen, kann allerdings jederzeit ein Misstrauensvotum fordern. Während Merz also auf eine zwingend erforderliche Mehrheit des Bundestages angewiesen war, um ins Amt gehoben zu werden, muss ein österreichischer Kanzlerkandidat nur eine faktisch mehrheitliche Zustimmung haben, die ein Misstrauensvotum ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich macht. Der letzte Wahlgang des deutschen Bundestages ist ein Charakteristikum einer dezidiert parlamentarischen Demokratie – die Volksvertreter*innen dürfen in einer letzten Instanz entscheiden, ob der vorgeschlagene Kandidat wirklich ihrer Ansicht nach dem Willen der Wähler*innen gerecht werden kann.

 

Umso bitterer die Niederlage, die trotz der Anwesenheit aller Abgeordneten aus SPD und CDU und der Zuversicht, mit einem Koalitionsprogramm nach erfolgreichen Verhandlungen die nötige Mehrheit zu erbringen, die Sitzung unterbricht. Stimmen werden laut. Zweiter Wahlgang in 14 Tagen? Neuwahlen wären eine Katastrophe, da sie vermutlich nur der AfD zu einem Plus an Stimmen verhelfen würden. SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil ist irritiert – es ist keine Liebesheirat aber wir hatten das doch so gut geübt mit dem JA-Ankreuzen! Gerüchte werden laut, dass sich Merz aufgrund seiner Ämtervergabe innerhalb der CDU Feinde gemacht hat, die sich als zu kurz gekommen sehen. Dabei beginnt dessen Geschichte der Unbeliebtheit schon sehr viel früher.

Bereits Ende der 1990er ist Merz eine feste Größe des ultrakonservativen Zweiges der CDU. Mit seiner Stimme gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen 1995 sowie gegen einen Gesetzesentwurf für den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe 1997 kristallisiert sich heraus, dass die Werte der bürgerlich-konservativen CDU für Merz bedeuten, den status quo beizubehalten und dementsprechend keinerlei Stärkung von Frauenrechten vorzunehmen. Zwar würde er heutzutage über die innereheliche Vergewaltigung anders abstimmen, allerdings offenbart seine Pöbelei gegen den Popanz der »feministischen Außenpolitik« der Außenministerin Annalena Baerbock zu Zeiten der Ampel-Koalition, dass es ihm ums Geld geht: »Sie können von mir aus feministische Außenpolitik machen, feministische Entwicklungshilfepolitik, können Sie alles machen, aber nicht mit diesem Etat für die Bundeswehr«, sagt er in der Bundestagssitzung vom 23. März 2022 und degradiert die Versuche, Vergewaltigung als Kriegswaffe zu kategorisieren, quasi zu einem Nischenthema. Ebenso kaltherzig und engstirnig zeigte er sich bereits 2000 bezüglich der – wie er es nannte – »sogenannten Homo-Ehe«. Er bezeichnet die Ablehnung einer Heirat gleichgeschlechtlicher Paare als »eine der wichtigsten, grundlegendsten Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes« – und natürlich vergisst er hierbei die freie Entfaltung der Bürger*innen als essentiellen Leitwert.

 

Doch dann schafft es Angela Merkel 2002, Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz zu entreißen und somit gleichzeitig Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU zu werden wird, bis sie 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wird. 2007 zieht sich Merz bis auf Weiteres aus der Politik zurück, 2009 verlässt er den Bundestag und wird Anwalt für Großkonzerne. Bei der Stadler Rail Group ist er Anteilseigner, durch deren Börsengang verdient er 2019 auf einen Schlag 5,7 Millionen Euro. Von 2016 bis 2020 ist er zudem im Aufsichtsrat des Vermögensverwalters BlackRock. Diese Tätigkeit, die oftmals lediglich in Nebensätzen erwähnt wird, muss in ihren Dimensionen nochmals hervorgehoben werden. BlackRock verwaltet ein Vermögen von 11,5 Billionen Dollar – fast das Doppelte von dem, was alle Deutschen besitzen. BlackRock ist beispielsweise einer der größten Investoren in fossile Brennstoffe und unterstützt einen Raubbau, der in Zeiten der immer deutlicher sichtbaren Folgen des Klimawandels einfach nicht mehr zu verantworten ist.

 

Merz ist also keinesfalls nur ein moralisch grauer Lobbyist, der Wirtschaftsgeschenke dankend annimmt und sich etwas dazuverdient. Er stellt sich hinter hyperkapitalistische Unternehmen und lässt sich vor deren Karren spannen. Laut CORRECTIV-Recherchen stimmt das CDU-Wahlprogramm für die Bundestagswahl im vergangenen Februar »teils wortgenau mit Forderungen der Chemie- und Metallindustrie überein«. Auch der Chemiekonzern BASF legt offen, dass Merz in seiner Zeit als Firmenanwalt Mandate übernommen hat. Merz arbeitete zum Zeitpunkt der BASF-Mandate für die Kanzlei Mayer Brown, die laut Aussage eines ehemaligen Kollegen Brücken zwischen Wirtschaft und Politik schlagen. Und wie es der Zufall will, ist ausgerechnet der weltweit größte Chemiekonzern BASF der größte Investor in den wiederum weltweit größten Vermögensverwalter BlackRock.

 

Somit stellt sich die Frage: Für wen macht Merz eigentlich Politik? Ist er ein Volks- oder ein Wirtschaftsvertreter? CORRECTIV betont, dass bei Merz ein »umgekehrter Drehtüreffekt« vorliege: Während andere Politiker*innen nach ihrer Politkarriere in die Privatwirtschaft wechseln, kommt Merz gerade aus dieser wieder zurück und könnte dezidiert ihre Ziele verfolgen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Mitglieder aus der – einst sich als Arbeiterpartei begreifenden – SPD einer Koalition trotz der Notwendigkeit einer neuen Regierung nicht widerstandslos zustimmen konnten. Ein weiterer entscheidender Punkt kommt in der ZDF-Nachrichten-Sondersendung »Mensch Merz! Der Herausforderer« 2024 zum Tragen. Während Merz Konzerne wie BASF vertrat und Millionen verdiente, haben Andere weiterhin Politik gemacht. Merz´ Rückkehr aus den Kommandohöhen des Kapitalismus ist für viele Politiker*innen, die sich nach wie vor mit den Problemen der deutschen Bürger*innen befasst haben, den Kontakt gesucht und oftmals den Konflikt gefunden haben, nachvollziehbarerweise ein rotes Tuch.

 

Auch in der jüngeren Vergangenheit hat sich Merz durch seine ungeschickte Ausdruckweise diskursiv immer mehr dem rechten Rand angenähert. »Kleine Paschas« und »Sozialtourismus« sind Unwörter, die in Interviews und Talkshows verwendet wurden und die eine Abgrenzung des bislang seriösen CDU-Konservatismus gegenüber der rechtspopulistischen AfD infrage stellen. Hinzu kommt, dass Merz die von ihm mehrfach betonte Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD am 29. Januar 2025 verwarf. Der Antrag für einen Gesetzesentwurf eines Fünf-Punkte-Plans der CDU/CSU zur Verschärfung der Migrationspolitik wurde mithilfe der Stimmen der AfD im Parlament beschlossen. Zwar wurde dieser wenig später als unzulässig wieder verworfen, allerdings handelte es sich dabei um einen beispiellosen Bruch: Vor allem die Forderung nach direkter Zurückweisung Schutzsuchender an den Grenzen widersprach nicht nur dem Asylrecht, sondern war als Antrag einer christlich-demokratischen Partei an Herzlosigkeit kaum zu überbieten. Von sämtlichen Parteien hagelte es scharfe Kritik, CDU-Urgesteine wie Michel Friedmann gaben ihren Parteiaustritt bekannt. Merz handelte trotzig, berechnend und nahm billigend in Kauf, die Demokratie nach seinen Vorstellungen zu untergraben. Den Umfragewerten tat dies jedoch keinen Abbruch.

 

Das Debakel des 6. Mai war dementsprechend nur vordergründig ein Schock. Friedrich Merz schaffte es schon in der Vergangenheit, mit Doppelmoral und Opportunismus zu glänzen. Die Frage, für wen ein Kanzler, der sich mit Privatjet und einem Vermögen in Millionenhöhe zum Mittelstand zählt, Politik macht, wird jedenfalls durch sein Tun beantwortet. Deutschland (wieder) zur führenden Militärmacht in Europa machen zu wollen, und mit unglaublichen Milliardensummen die Rüstungsindustrie zu füttern, spricht für eine unfassbar antisoziale bzw. asoziale militaristische Orientierung, die ihrer inneren Logik nach auf Krieg ausgerichtet ist. Aber damit ist er leider nicht der einzige in der deutschen Regierungsriege.

Quellen:

https://www.berlinertageblatt.de/Politik/445041-massive-kritik-an-merz-nach-annahme-von-antrag-zu-migration-mit-afd-unterstuetzung.html?utm_source=chatgpt.com

https://www.youtube.com/watch?v=FYAqvdloGDUhttps://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2025/01/28/bester-mann-der-grosskonzerne-das-lobby-netzwerk-von-friedrich-merz/

VS 2025/6 – S. 20

Bildquelle: KI-generiert

Die Mystik der Zahlen

Mit welchen Tricks die Kosten der Pensionen manipuliert werden

Von Michael Graber

Seitens der Regierung durfte ein 30jähriger Schnösel von den Neos die Maßnahmen präsentieren, mit denen sich die Regierung zwecks Budgetsanierung an den Pensionen schadlos hält. Das sei nur logisch, denn es stünden immer weniger Aktive einer wachsenden Zahl von PensionistInnen gegenüber.

Schnösel brauchen sich offenbar, auch wenn sie in höchste politische Positionen aufrücken, nicht mit Zahlen zu beschäftigen, ihr Wort soll einfach brutto für netto gelten. Ein Blick in das Statistische Handbuch der Österreichischen Sozialversicherung (2024) zeigt allerdings: Die sogenannte Pensionsbelastungsquote (Zahl der Pensionen auf je 1.000 Pensionsversicherte) ist in den letzten zwanzig Jahren gesunken, von 624 im Jahr 2004 auf 577 im Jahr 2023. Aber was solls?

Die staatlichen Aufwendungen zur Sicherung der Stabilität der Pensionen sind der Teil des Budgets, der die meiste und überwiegend unqualifizierte Kritik auf sich zieht. An dieser Kritik sind verschiedene Interessen beteiligt: Private Versicherungskonzerne und ihre Agenturen, Ökonomen, denen die »unproduktiven« Ausgaben ein Dorn im Auge sind und die überhaupt das umlagefinanzierte öffentliche Pensionssystem als Störfaktor für das Wachstum der Kapitalmärkte betrachten, und natürlich das politische Personal, das unter dem Vorwand, das Pensionssystem »enkelfit« machen zu wollen, dasselbe meinen.

Unproduktiv? Haben diese Kritiker jemals die »Produktivität« der Ausgaben für das Militär, die derzeit durch die Decke gehen, angeprangert? Was produzieren Soldaten? Was produzieren Panzer, Kanonen und Raketen? Während die Pensionen die Lebensgrundlage für zwei Millionen PensionistInnen darstellen, rosten die Waffen als totes Kapital nutzlos vor sich hin und fallen aus dem Wirtschaftskreislauf heraus.

Die »Pensionsaufwendungen des Staates« – ein Kampfbegriff

Der Begriff »Pensionsaufwendungen des Staates« ist ein Sammel-, letztlich ein Kampfbegriff der Neoliberalen jeglicher Couleur, der unterschiedliche staatliche Aufgaben unter diesem Titel zusammenfasst, die wiederum zum Großteil nichts mit dem eigentlichen Pensionssystem der Arbeiter und Angestellten zu tun haben. Damit wird versucht, das Pensionssystem als Kartenhaus oder unfinanzierbar hinzustellen. Doch davon weiter unten.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Pensionen der Arbeiter und Angestellten, das sind 85% aller Pensionen, zu 84% (2023) aus den Pensionsbeiträgen finanziert werden. Die Gruppe der Sozialversicherten – Aktive und PensionistInnen – zahlen sich die Pensionen in diesem Ausmaß selber. Die Pensionsbeiträge der Dienstgeber sind eigentlich Lohnbestandteile und ändern an dieser Feststellung nichts. Der Rest – 16% – sind seit dem Beschluss über das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), das seit 1956 in Kraft ist, die Ausfallshaftung des Bundes, die aus dem Budget abgedeckt wird, und beträgt derzeit (2023) rund sieben Mrd. Euro. Aus volkswirtschaftlicher Sicht versickern diese Mittel nicht in dunklen Kanälen, sondern fließen als Bestandteil der Einkommen der PensionistInnen in Form von Steuern zum Teil wieder an den Staat zurück.

Aber nicht nur dieser Teil. Letztlich fließen alle Pensionen in den Wirtschaftskreislauf ein und sind damit Bestandteil der Nachfrage-, Konsum- und Kaufkraft der Bevölkerung. Über den Weg der Mehrwertsteuer (10% auf Mieten, Energie, Lebensmittel und Medikamente, 20% auf Konsumgüter und Dienstleistungen) fließt also ein beträchtlicher Teil aller Pensionen zurück an den Staat. Die Pensionsausgaben der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) für die unselbständig Beschäftigten betrugen 2023 knapp fünfzig Mrd. Euro. Wir können daher zurecht davon ausgehen, dass der Steuerertrag aus diesen Ausgaben, die ja die Einnahmen der PensionistInnen darstellen, die sieben Mrd. Euro Ausfallshaftung des Bundes nicht nur kompensieren, sondern sogar übertreffen.

Es geht nicht ohne Tricks

Warum also trotzdem das Geschrei und die permanente Aufregung um die angebliche Unfinanzierbarkeit der Pensionen?

Hier wird für die Öffentlichkeit mit einigen Tricks gearbeitet. Der erste Trick besteht darin, diverse Milliarden Euro als Schreckgespenst in die Öffentlichkeit zu tragen, ohne diese aber in Bezug zu den Quellen zu setzen, aus denen sie finanziert werden. Zehn Milliarden Euro sind viel Geld, aber zehn Milliarden aus einem Topf von hundert Milliarden sind nur zehn Prozent, stehen also in einer Relation zum gesamten Topf. Inflationsbedingte Aufblähungen von Zahlen tragen ein weiteres Mal dazu bei, Horrorzahlen zu produzieren, wobei vergessen oder unterschlagen wird, dass auch der Topf, aus dem finanziert wird, inflationsmäßig wächst.

Zu unserem konkreten Beispiel: Setzt man den Staatszuschuss zu den Pensionen (die Ausfallshaftung des Bundes) von sieben Milliarden Euro in Bezug zu den Gesamtausgaben des Bundes von 115 Mrd. Euro (2023) , so stellt dieser lediglich etwa sechs Prozent der Ausgaben dar, und gemessen an der gesamten Wirtschaftsleistung (478 Mrd. Euro BIP) nur 1,5 Prozent. Das schaut schon anders aus als eine Horrorzahl.

Weiters ist zu berücksichtigen, dass sich der Eigenfinanzierungsgrad der ASVG-Pensionen in den letzten fünfzig Jahren von 74% (1970) auf knapp 86% (2023) erhöht hat. Der Staatszuschuss ist also in dieser langen Periode relativ im Verhältnis zum Pensionsaufwand dramatisch gesunken. Damit ist bewiesen, dass das Pensionssystem im ASVG für die über zwei Millionen PensionistInnen stabil und leistungsfähig war und ist, und das ohne überpropartional staatliche Mittel in Anspruch nehmen zu müssen. 

Der »Horror« – dreißig Milliarden

Noch einmal: Warum trotzdem das Geschrei um die Unfinanzierbarkeit der Pensionen?

Dazu muss man den zweiten Trick enthüllen, mit dem die staatlichen Kosten des Pensionssystems für die Öffentlichkeit manipuliert werden. In den Medien wird ständig behauptet, dass die Pensionskosten des Staates an die dreißig Mrd. Euro betragen und damit ein Viertel des Budgets ausmachen. Wir haben bereits gezeigt, dass der staatliche Zuschuss zu den ASVG-Pensionen lediglich sieben Mrd. Euro oder sechs Prozent des Budgets ausmacht. Woher kommt also die Zahl von »dreißig Mrd. Euro«?

1. Neben dem ASVG gibt es die Sozialversicherung der Selbstständigen und der Bauern. Deren Eigenfinanzierungsgrad beträgt lediglich fünfzig bzw. sechs Prozent. Da es in diesen Bereichen der Sozialversicherung keinen Dienstgeberbeitrag gibt, schießt der Staat für diese Bereiche entsprechende Mittel zu, damit die Versicherten zu ähnlichen Pensionsleistungen wie im ASVG kommen und damit Altersarmut vermieden oder begrenzt wird. Die jeweiligen Zuschusssummen betragen 2,2 Mrd. bzw. 1,9 Mrd. Euro.

2. Im öffentlichen Dienst gibt es keine Pension, sondern Ruhegenuss. Da es für Beamte keinen Dienstgeberbeitrag gibt, zahlt der Staat diese mit den Ruhegenüssen aus.

Kosten der Beamtenpensionen: 12,8 Mrd. Euro. 

3. Als staatliche Maßnahme zur Bekämpfung von Altersarmut gibt es die Ausgleichszulage für PensionistInnen, deren Pension(en) den Richtsatz von derzeit (2025) 1.274.- Euro bzw. bei Partnerschaften im gleichen Haushalt 2009,85 Euro nicht erreichen. Davon profitieren etwa knapp zweihunderttausend PensionistInnen, das sind fast zehn Prozent aller PensionistInnen, und vor allem Frauen zu 80%. Die Kosten betragen 1,2 Mrd. Euro. 

4. Der Staat finanziert auch sonstige Rentenleistungen (etwa aus den Opfergesetzen) : 1,2 Mrd. Euro.

Summiert man alle diese Beträge, kommt man auf 26,3 Mrd. Euro, wovon allerdings nur 7 Mrd. dem tatsächlichen Zuschuss zu den ASVG-Pensionen entsprechen. Trotzdem werden angesichts dieser »horrenden« Summe Pensionsreformen gefordert, die aber in erster Linie die ASVG-Pensionen betreffen würden, obwohl dort die stabilsten Verhältnisse bestehen. Und dies auch über die letzten Jahre. Selbst unter Einbeziehung der Sozialversicherung der Selbständigen und Bauern bleiben die Zuschüsse für die gesamte Sozialversicherung – gemessen an den Budgetausgaben des Bundes – stabil:

2005….11,6 %

2010….13,1 %

2015….14,3 %

2020….12,8 %

2024….13,5 %.

Eine dramatisch angewachsene Budgetbelastung geht aus diesen Zahlen nicht hervor.

Ein ähnliches Bild zeigt die Entwicklung der Pensionsaufwendungen der Sozialversicherung, gemessen an der österreichischen Wirtschaftsleistung (BIP):

2011….16,3 %

2015….16,9 %

2020….18,2 %

2023….17,6%

Auch hier wird deutlich, dass es keine dramatische Entwicklung der anteiligen Belastung durch die Pensionsleistungen der Sozialversicherung am BIP gibt. In all diesen und den vorhergehenden Jahren gab es immer wieder die Behauptung, das Pensionssystem wäre instabilität und unfinanzierbar. Das Gegenteil war und ist der Fall. Daran zweifelt auch die sogenannte Pensionssicherungskommission, die von der Regierung eingesetzt wird, nicht. Sie geht von einer Stabilität des Pensionssystems auf Basis der demographischen Entwicklung bis 2070 aus.

Juli-August 2023

Aus dem Inhalt:

  1. Überschrift 1
  2. Überschrift 2
  3. usw.

Schwerpunkt dieser Nummer: …