Sexualität in Zeiten der Pandemie JENS BOGENA

Sexualität in Zeiten der Pandemie

von

Marco Kammholz wirft einen Blick auf die Frage, was die Menschen in der Krise sexuell treiben und was in Wissenschaft, Politik und Medien über Sex in Zeiten von Corona behauptet wird

Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch hat 1984 in seiner Schrift Die Mystifikation des Sexuellen vielsagend zusam­mengefasst, dass im Zentrum jeder Sexual­forschung die Frage stehe, »wie Gesell­schaft in das Sexuelle eindringt und aus ihm spricht«. Nachdem sich im Frühjahr 2020 mehr als die Hälfte der Weltbevölke­rung in einem Lockdown befand, weil ein Virus die multiplen, von der Menschheit selbst produzierten Krisen miteinander verschränkt und dabei grundlegend in das soziale und körperliche Miteinander ein­greift, ist die Frage nach den Auswirkungen auf die Sexualität mehr als naheliegend. Wie und was Gesellschaft aus dem Sexuel­len heraus spricht, ist dabei allerdings mehr als offen, auch nach über einem Jahr pandemischer Verhältnisse.

Weniger Gelegenheitssex

Auf die Frage, was die Menschen in der Pandemie sexuell treiben, haben sich seit Beginn der Krise nicht wenige Medien gestürzt. Nicola Döring und Ricardo Walter haben in der Zeitschrift für Sexualforschung frühzeitig eine erste Analyse medialer Narrative zur Sexualität in der Covid-19-Pan­demie vorgelegt und wenig Überraschen­des festgestellt. Aufgerufen wird vor allem ein Mehr an sexualitätsbezogenen Hand­lungen und Dynamiken: mehr Solosexuali­tät, mehr Sex in Partnerschaften, mehr Schwangerschaften, mehr Scheidungen, mehr Sextoy-Kauf und -Nutzung, mehr Telefon- und Internetsex, aber auch mehr Gewalt und mehr Diskriminierung gegen­über Frauen und sexuellen Minderheiten.

Nur einer sexuellen Verhaltensweise wird dabei vor allem ein Rückgang prog­nostiziert: dem so genannten unverbindli­chen Partnersex, also Gelegenheitssex außerhalb fester Beziehungen. Die Befra­gungen der Nutzerinnen und Nutzer von Dating-Plattformen (wie etwa Planet ­romeo und JOYclub) und die Selbstaus­künfte von Singles legen auch in der Tat nahe, dass sich diese Prognose bewahrhei­tet hat: Die Anzahl und Frequenz direkter sexueller Begegnungen außerhalb fester Partnerschaften hat sich verringert, im Falle der promisken schwulen und bisexu­ellen Männer sogar drastisch. Kein Wun­der, sind doch die sozialen Kontakte der allermeisten Menschen generell stark ver­ändert. Man trifft nicht nur kalkulierter und terminierter als üblich deutlich weni­ger Menschen, sondern zudem fast aus­schließlich diejenigen aus dem sozialen oder (wahl-)familiären Nahfeld. Somit ent­fallen die spontanen und anonymen Begegnungen, die Kontakte im Nachtleben oder auf Reisen und die Begegnungsräume an kommerziellen Orten für sexuelle Dienstleistungen.

Auch die soziologischen Untersuchungen von Barbara Rothmüller zu »Liebe, Intimi­tät und Sexualität in Zeiten von Corona« zu Beginn der Pandemie bestätigen das medial vermutete Schicksal der Singles: Während Paare mit dem Ausmaß an Nähe und Berührung vergleichsweise relativ zufrieden sind und in Teilen von einer Intensivierung der bestehenden romanti­schen und sexuellen Beziehung berichten, sind Singles deutlicher unzufriedener mit ihrem Sexleben. Ein Teil von ihnen gibt gar an, in keinerlei nahem körperlichem Kon­takt zu anderen Menschen mehr zu stehen. Zieht man allerdings die Paardynamik in Liebesbeziehungen im Speziellen und die in der Coronapandemie für viele Menschen deutlich belastenderen Lebensumstände im Allgemeinen hinzu, so muss die Vorstellung von der Paarbeziehung als letzte Bastion der Lust und Zufriedenheit in der Pandemie korrigiert werden: Selbstverständlich strei­ten die bereits vor der Pandemie (hoch-) konfliktiven Paare nun häufig noch mehr als zuvor und selbstverständlich wirkt sich ein (coronabedingt) erhöhtes Stresslevel oft negativ auf die sexuellen Funktionen, das sexuelle Begehren und die sexuelle Genussfähigkeit aus. Ohnehin besitzt ein sexualwissenschaftlicher Allgemeinplatz für die pandemischen Verhältnisse und die sexuelle Reaktion der Menschen besondere Gültigkeit: In sexueller Hinsicht sind Libi­doverlust und Unlust (die häufig mit weni­ger sexuellen Begegnungen und Handlun­gen einhergehen) genauso »sinnvolle« und nachvollziehbare Reaktionen auf die Pan­demie wie gesteigerte Erregung und inten­sivere Sexualisierung.

Sexuelle Neuerungen

Was das sexuelle Verhaltensrepertoire der Menschen in der Pandemie anbelangt, kommen die wenigen bisher vorliegenden sexualwissenschaftlichen Studien – wie etwa die Untersuchung »Less Sex, but More Sexual Diversity: Changes in Sexual Beha­vior during the COVID-19 Coronavirus Pan­demic« von Justin J. Lehmiller u. a. – eben­falls zu wenig überraschenden Ergebnissen: Ein kleiner, aber statistisch nicht unerheb­licher Teil der Befragten gibt an, seit der Pandemie neue Sexualpraktiken auspro­biert zu haben, sowohl solosexueller als partnerbezogener Art. Wie gewöhnlich und wenig abenteuerlich die (quantitativ erfass­baren) sexuellen Realitäten allerdings sind, verrät ein Blick in die angegebenen sexuel­len Neuerungen: Man probiert eine neue Sexstellung aus, spricht mit der Partnerin oder dem Partner über eine sexuelle Fanta­sie, man versendet ein Nacktfoto oder praktiziert Sexting. Eher unbeantwortet bleibt in diesen Untersuchungen die Frage, inwieweit welche sexuelle Dynamiken und Handlungen nicht schon vor der Pandemie bestanden haben und welche Bedeutung und Qualität die eigene Sexualität insge­samt und die neuen Sexualpraktiken im Besonderen besitzen.

Let’s talk about Sex

Aufschlussreicheres über den Zustand des Sexuellen in der Pandemie liefert dahin­gegen die Art und Weise, wie über Sexua­lität in der Coronakrise gesprochen und was über sie behauptet wird. Neben den wissenschaftlichen Befragungen und den medialen Berichterstattungen sind es vor allem die staatlichen und nicht-staatli­chen Gesundheitseinrichtungen, die sich zur Sexualität in der Pandemie äußern. Ihr Tenor ähnelt sich häufig und hält sich an die (rein medizinisch betrachteten) Fakten: Fast jede Art direkter körperli­cher Nähe birgt die Möglichkeit einer Ansteckung mit dem Coronavirus in sich. Wenn aber also Küssen, Anhauchen und Anhusten, hautenger Körperkontakt und Austausch von Körperflüssigkeiten zu den – aus Perspektive des Corona-Schut­zes – riskanten Verhaltensweisen zählen, bleibt dem oder der Einzelnen, will er oder sie sich konsequent an die Präventi­onsgebote halten, wenig sexueller Hand­lungsspielraum. Von einer befriedigen­den, direkten, sexuellen Begegnung bleibt – ohne Küssen, ohne heftigere Atmung, ohne Körperkontakt, ohne schmieriges Eindringen – für die meisten Menschen nicht sonderlich viel bis gar nichts übrig.

Betrachtet man in dieser Hinsicht die Botschaften und Narrative, mit denen zum Thema Sex in der Pandemie operiert wird, genauer, so entsteht der Eindruck, in die Sexualität, die sich stets individuell realisiert, halte ein Seuchenschutz Einzug, der aber einen kollektivierenden Anspruch formuliert. Während das Indivi­duelle mit Dynamiken der Aushandlung, Abwägung, Ambivalenz, Wechselseitig­keit, Mehrdeutigkeit und Kommunikation begriffen werden muss, handelt die kol­lektive Präventionsanforderung unter einem Anspruch der Lösung, des Ein­klangs, der Vereinseitigung. Woran die gut gemeinten Ratschläge der Gesund­heitsbehörden in Bezug auf das Sexuelle also scheitern, ist ihre implizite, und zutiefst lebensfremde Behauptung, dass eine (befriedigende) Vereinbarkeit von Corona-Schutz bzw. -Prävention einer­seits und sexuellen Handlungen oder Wünschen andererseits möglich sei.

Grenzüberschreitende Sexualität

Mit Blick auf die psychosexuelle Dimension des pandemischen Alltags lässt sich zudem auch das Gegenteil bekräftigen und fragen: Bricht sexuelle Erregung nicht stets auch – für einen Moment – in die Hygiene-, Schutz- und Abstandsgebote ein und triumphiert über sie? Das Sexuelle gibt vermutlich nur bei den Wenigsten ungefiltert die Anforderungen nach Hygiene und Abstand wieder. Zwar können Abstandhalten, Händewaschen und Atem­schutzmasken – alles Maßnahmen der Mäßi­gung, der Einsicht, des Rückzugs, der Reini­gung, des Verzichts, der Trennung, der Ver­nunft und der Grenzwahrung – sexuell in Aktion treten und natürlich auch sexualisiert werden, das sollte aber nicht darüber hinweg­täuschen, dass Sexualität mitunter eine grenz­überschreitende, drängende, besudelnde, ver­bindende, radikal assoziative und irrationale Angelegenheit darstellt.

Wer allerdings in den irritierenden Ratschlä­gen und Einschätzungen offizieller Stellen zur Sexualität in der Pandemie, bloß eine unverän­derte und weiterhin wirkmächtige Sex- und Lustfeindlichkeit entdeckt, der irrt. Die post­moderne Besprechbarkeit von Sexualität ist in der Pandemie nicht unmittelbar von einem epidemiologisch begründeten Sexualkonserva­tismus gebrochen, sondern nur von diesem begleitet. Es gibt zwar Umstände, die in Bezug auf die sexuellen Verhältnisse als vor-liberal bezeichnet werden können – etwa die Dramati­sierung außerpartnerschaftlicher Sexualität, die Schließung von Bordellen, das Verbot der Sexarbeit, die Privatisierung intimer Kontakte, die Reduktion des Körpers auf seine Eigen­schaft als Virusträger und dadurch als Gefahr für Andere –, dem steht aber gleichzeitig die (nicht minder ideologische) Bejahung von Sexualität als gesund und der fortschrittliche Standpunkt von Sexualität als einem menschli­chem Grundbedürfnis gegenüber.

Was allerdings den Versuchen, Intimität und Sexualität in der Pandemie sowohl coronage­recht als auch »sexpositiv« zu thematisieren, häufig nicht gelingt, ist eine so simpel wie radikale Betrachtungsweise: In Bezug auf Sexualität in Zeiten der Coronakrise sollte doch letztlich weniger entscheidend sein, was die Einzelnen tun sollen und ob sie das Rich­tige tun, sondern vielmehr, ob ihr sexuelles Tun befriedigend ist.

Den ausführlichen Text von Marco Kammholz findet ihr im Jahrbuch Sexualitäten 2021.

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Gelesen 3545 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 10 Juni 2021 09:27
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