Heinz Gärtner Heinz Gärtner Foto: Foad Ashtari

Europa atomwaffenfrei?

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Von Heinz Gärtner

Enttäuschte Nichtnuklearwaffenstaaten

Zwei internationale Konferenzen hatten im Sommer Nuklearwaffen zu Gegenstand. In Wien fand Ende Juni 2022 die Staatenkonferenz zum Verbot von Nuklearwaffen (TPNW) statt [siehe Bericht in der Septemberausgabe, Anm. d. Red]. Der Vertrag drückt Besorgnis über die humanitären Konsequenzen eines Nuklearwaffeneinsatzes aus und fordert die völlige Vernichtung von Nuklearwaffen. Er trat im Jänner 2021 in Kraft und erreichte bis zur Konferenz 65 Ratifikationen. Die Konferenz nahm die »Wiener Erklärung« an und legte einen 50 Punkte Aktionsplan fest. Es gab eine starke Präsenz der Zivilgesellschaft. Doch kein Nuklearwaffenstaat und kein mit ihnen verbündeter Staat unterstützen den TPNW. Da sich die NATO als Bündnis basierend auf nuklearer Abschreckung versteht, ist Europa der Kontinent, in dem es die geringste Anzahl von Mitgliedstaaten gibt.

Ende August ging die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages (NPT) von 1970 in New York zu Ende. Es gab kein Abschlussdokument, weil Russland die Formulierung von der »schwerwiegenden Besorgnis über die militärischen Aktivitäten beim Atomkraftwerk« bei Saporischschja nicht akzeptierte. Tatsächlich gibt es ein tiefes Misstrauen zwischen Nuklearwaffenstaaten und Nichtnuklearwaffenstaaten.

Die letzteren haben ihre Nuklearwaffen aufgegeben, als sie dem NPT beigetreten sind. Sie dachten, das wäre ein Weg, zu vermeiden, dass sie ein primäres Ziel bei einer nuklearen Auseinandersetzung werden. Nun haben sie das Gefühl, betrogen worden zu sein: die Nuklearwaffenstaaten haben ihre Verpflichtung, ernsthaft über komplette Abrüstung zu verhandeln, wie in Artikel VI des Sperrvertrags gefordert, nicht eingehalten. Deshalb forderten sie ein rechtlich verpflichtendes Verbot, das der TPNW nunmehr darstellt.

Nukleare Abschreckung und nukleare Kriegführung

Es gibt zwei gegensätzliche Auffassungen von Sicherheit. Die Atommächte fühlen sich geschützt, wenn sie Nuklearwaffen besitzen, die anderen Staaten fühlen sich von ihnen bedroht und fühlen sich sicherer ohne sie. Das Prinzip der nuklearen Abschreckung steht gegen die Norm der nuklearen Abrüstung. Ein nuklearwaffenfreies Europa kann es nur geben, wenn das Dogma der nuklearen Abschreckung aufgebeben wird. Es gibt keinen Beweis, dass nukleare Abschreckung den Krieg verhindert. Man kann nicht beweisen, warum etwas nicht passiert. Der Abschreckungslogik liegt eine eigenartige Paradoxie zugrunde. Man nimmt an, dass der Gegner sich rational an diese Logik hält, unterstellt ihm aber die Irrationalität einer Angriffs absicht. Konventionelle Kriege haben Nuklearwaffen jedenfalls nicht verhindert, vielleicht sogar ermuntert. In Korea, Vietnam, Falkland, Indien-Pakistan, in der Ukraine wurden Kriege gegen Nuklear waffenstaaten geführt.

Wohl gab es seit Ende des Kalten Krieges eine Reduktion der Anzahl der Nuklearwaffen. Es wird kritisiert, dass durch permanente Modernisierung der Nuklearwaffen Artikel VI des NPT verletzt wird. Diese Modernisierung entspricht durchaus der Sicherheitslogik der Nuklearwaffen. Wenn Nuklearwaffen Sinn haben sollen, müssen sie auch einsetzbar sein. Wenn sie nicht einsatzbar sind, schrecken sie auch nicht glaubwürdig ab. Glaubwürdig einsetzbar sind sie allerdings nur, wenn sie klein genug sind, dass sie lediglich »begrenzten« Schaden anrichten können und sich der:die Gegner:in – wenn auch beschämt – zurückziehen kann. Damit werden Nuklearwaffen auch zwangsläufig zu Kriegsführungswaffen. Kleinere Nuklearwaffen machen zwar die Abschreckung glaubwürdiger, ihren Einsatz aber auch wahrscheinlicher. Dieses Prinzip galt schon bei der NATO-Strategie der »Flexible Response« in den 1970er Jahren, als man sah, dass eine Drohung mit massiver gegenseitiger Zerstörung nicht glaubwürdig war. Zu glauben, dass eine nukleare Auseinandersetzung begrenzt werden könne, ist eine verführerische, aber unwirkliche Annahme. Es gibt keine Studie, die beweisen kann, dass ein Nuklearkrieg begrenzt werden kann.

Nuklearwaffen machen die sie besitzenden Staaten und deren Verbündete nicht notwendigerweise sicherer, wie diese annehmen. Im Gegenteil, sie sind erste Zielländer anderer Nuklearwaffenstaaten. Schon wie im Kalten Krieg könnten das die europäischen Länder sein. Die großen Nuklearwaffenstaaten, die USA und Russland, könnten versuchen, ihre großen Städte im Falle eines Nuklearkrieges zu verschonen, und den Krieg mit kleineren Nuklearwaffen auf Europa zu begrenzen. Dem sollte der Mittelstreckenvertrag von 1987 vorbeugen, der aber 2018 von Präsident Trump gekündigt wurde. Eine Eskalation des Krieges in der Ukraine birgt diese Gefahr wieder in sich, falls eine Seite ihre Existenz gefährdet sieht.

Nuklearmacht Europa oder negative Sicherheitsgarantien

Eine Schlussfolgerung kann sein, dass Europa selbst eine Nuklearwaffenmacht wird, um sich unabhängiger von US-Interessen zu machen. Die Forderung nach einer Europaarmee bereitet dieses Argument vor. Das würde zuallererst das Ende des Atomwaffensperrvertrages bedeuten. Jedes EU-Mitglied würde Nuklearstaat werden, einschließlich Österreich. Dann würde jeder Staat in Europa Zielgebiet von Nuklearwaffen sein.

Die Alternative zum Szenario, in dem Europa ein potentielles nukleares Schlacht

Schlachtfeld werden könnte, ist, dass Europa keine Nuklearwaffen besitzt, beherbergt oder stationiert, also nuklearwaffenfrei wird. Der polnische Außenminister Rapacki hatte mit dem Plan einer neutralen Zone ohne Nuklearwaffen in Mitteleuropa 1957 eine derartige Vision vorgegeben. Wegen der entstehenden Nuklearblöcke und dem Widerstand des Kanzlers der Bundes republik Deutschland Konrad Adenauer wurde dieser Plan aber nicht umgesetzt.

Man wird auf absehbare Zeit nicht zur vollständigen Abrüstung schreiten. Der TPNW wird also sein Ziel der vollständigen Abrüstung auf absehbare Zeit nicht erreichen, wenn auch seine Unterstützer:innen Optimismus ausstrahlen. Gibt es Annäherungsschritte an ein nuklearwaffenfreies Europa? Sie könnten in negativen Sicherheitsgarantien (NSA) bestehen, also der rechtlich verbindlichen Zusage, keine Nuklearwaffen gegen Nichtnuklearwaffenstaaten einzusetzen. Diese Forderung ist leichter zu erfüllen als ein Ersteinsatzverbot von Nuklearwaffen, weil sie nur Nichtnuklearwaffenbesitzer und nicht andere Nuklearwaffenstaaten betrifft. Protokolle zu Nuklearwaffenfreien Zonen enthalten schon diese rechtlichen Verpflichtungen.

Die Verbündeten der Atommächte, wie die NATO-Mitglieder, verlassen sich auf die erweiterte Abschreckung (extended deterrence); das ist das Versprechen, dass Nuklearwaffen im Falle eines Angriffes auf Verbündete (umbrella states) eingesetzt werden. Negative Sicherheitsgarantien enthalten das gegenteilige Versprechen, nämlich keine Atomwaffen einzusetzen. Die Atomwaffenstaaten könnten ihre Vorbehalte fallen lassen, Verbündete einer anderen Nuklearmacht mit Nuklearwaffen zu bedrohen und damit auch für diese NSAs möglich machen. Das Beispiel des Krieges in der Ukraine führt drastisch vor Augen, dass Verbündete von Nuklearwaffenstaaten, Gefahr laufen können, Ziele von Nuklearwaffen zu werden. Russland müsste den nicht nuklear bewaffneten NATO-Mitgliedern negative Sicherheitsgarantien geben. Die »nukleare Teilhabe« der NATO müsste allerdings beendet werden; die in verschiedenen NATO-Staaten (Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und Türkei) gelagerten nicht-strategischen Nuklearwaffen müssten abgezogen werden.

Nuklearwaffenfreier Gürtel von der Mongolei bis Afrika

Nuklearwaffenfreie Zonen in Verbindung mit negativen Sicherheitsgarantien können auch in anderen Regionen der Welt ein Beitrag zur Abrüstung sein. Es sind Übereinkommen von einer Gruppe von Staaten, die freiwillig mittels eines Vertrages oder einer Konvention ein bestimmtes Gebiet festlegen, in dem es verboten ist, Nuklearwaffen einzusetzen, zu entwickeln oder zu stationieren. In einigen Regionen der Welt wie Lateinamerika, Afrika, Pazifik, Südostasien und Zentralasien gibt es bereits solchen Zonen, in denen die zusammengeschlossenen Staaten Nuklearwaffen und dazugehöriges Material weder besitzen noch produzieren.

Ein erster Schritt wäre, dass die Nuklearwaffenstaaten, die rechtlich verbindlichen Protokolle der nuklearwaffenfreien Zonen ratifizieren, die NSAs enthalten. Darin verpflichten sich die Nuklearmächte, Nuklearwaffen gegen Staaten in jenen Zonen nicht einzusetzen oder mit ihnen zu drohen. NSAs sind die einzigen Verpflichtungen, die Nuklearwaffenstaaten bei der Umsetzung von nuklearwaffenfreien Zonen eingehen müssen.

Nuklearwaffenfreie Zonen könnten etwa zur Entspannung in der Golfregion führen. Die Idee einer nuklearwaffenfreien Zone im Mittleren Osten gibt es seit 1974 als eine vom Iran und Ägypten eingebrachte Resolution, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen worden war. An dieser Frage ist die NPT-Überprüfungskonferenz 2015 wegen des Widerstandes der USA gescheitert. Die USA wollten verhindern, dass Israels Nuklearwaffen kapazität in Frage gestellt wird. Die NPT-Überprüfungskonferenz 2022 thematisierte die nuklearwaffenfreie Zone im Mittleren Osten zwar, wurde aber von der Kontroverse über Saporischschja überlagert.

Um einer derartigen nuklearwaffenfreien Zone im Mittleren Osten näherzukommen, könnte der Iran anbieten, der nuklear waffenfreien Zone in Zentralasien (Vertrag von Semipalatinsk) beizutreten. Die USA könnten ihre arabischen Verbündeten überzeugen, der nuklearwaffenfreien Zone Afrika (Vertrag von Pelindaba) beizutreten. Dieses Szenario würde Israels Sicherheit deutlich erhöhen, gleichzeitig aber auch die Begründung für seine Nuklearwaffen er heblich reduzieren. Ein Zusammenwachsen dieser nuklearwaffenfreien Zonen könnte zu einem nuklearwaffenfreien Gürtel von der Mongolei über Zentralasien und den Mittleren Osten bis Afrika führen. Der schmale chinesisch-russische Streifen zwischen der Mongolei und Kasachstan könnte leicht durch Verhandlungen mit Russland und China einbezogen oder überbrückt werden. Eine nuklearwaffenfreie Zone im Mittleren Osten mit Einbeziehung Israels wäre damit nicht ausgeschlossen.

Es muss aber betont werden, dass negative Sicherheitsgarantien nicht als Alternative zum Verbot von Nuklearwaffen gedacht sind, sondern nur als weiterer Schritt in diese Richtung, der vorerst leichter umzusetzen ist. Der Verdienst des Vertrages ist, dass er ein neues zum Abschreckungssystem alternatives Normensystem geschaffen hat, das auch eine rechtliche Basis hat.

Abkürzungen:

TPNW - Staatenkonferenz zum Verbot von Nuklear waffen

NPT - Atomwaffen sperrvertrag

NSA - negative Sicherheitsgarantie

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Heinz Gärtner ist Lektor an der Universitäten Wien. Er ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) in Wien sowie des Beirates Strategie und Sicherheit der Wissenschaftskommission des Österreichischen Bundesheeres. Heinz Gärtner war langjähriger wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Er hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u. a. an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Sein Werk Modelle europäischer Sicherheit: Wie entscheidet Österreich? wurde mit dem »Bruno Kreisky Anerkennungspreis für das politische Buch« ausgezeichnet.

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Gelesen 1491 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 20 Oktober 2022 08:18
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