»Wir leben doch in einer Demokratie!« Karl Reitter pixabay.com

»Wir leben doch in einer Demokratie!«

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Überlegungen zu populären Auffassungen, was denn eigentlich Demokratie sei und warum wir alle vorgeblich in einer solchen leben.

Von Karl Reitter

Stellt man in Alltagsgesprächen die Frage »Meinst du, leben wir in einer Demokra­tie?«, so erhält man zumeist als allererstes folgende Antwort: »Wir leben in einer Demokratie, weil man sagen kann, was man für richtig hält – im Gegensatz zu einer Dik­tatur.« Demokratie wird allgemein mit der Freiheit identifiziert, die eigene Meinungen äußern zu können. Oder, um es etwas theo­retischer auszudrücken: Als demokratisch werden Verhältnisse bezeichnet, wenn Men­schen- und BürgerInnenrechte gelten. Wei­ters wird die Existenz eines Rechtsstaates genannt, d. h. Regierung, Verwaltung und Polizei agieren im Rahmen von Gesetzen, die auch grundsätzlich eingehalten und beachtet werden. Als drittes Moment wer­den Wahlen genannt. Sei all dies gegeben, so könne man von Demokratie sprechen.

Auffällig ist, dass der eigentliche Wortsinn der Demokratie, also die unmittelbare Herr­schaft des Volkes, fast nie zur Sprache kommt. Aber bedeutet Demokratie nicht, gemeinsam über alle Aspekte des Lebens tatsächlich zu bestimmen? Sollen nicht Betroffene entscheiden? In der Lebenswirk­lichkeit unseres Alltags haben wir kaum etwas zu entscheiden und zu bestimmen. Was in der Arbeitswelt, in den Schulen, an den Universitäten, in den Stadtteilen und Institutionen geschieht, welche Entschei­dungen dort getroffen werden, fällt kaum in die Kompetenz der tatsächlich Betroffe­nen. Insofern ist die populäre Alltagsauffas­sung von Demokratie, diese vor allem auf Meinungsfreiheit zu beziehen, durchaus illusionslos realistisch.

Demokratietage alle vier, fünf Jahre

Was nun die Wahlen betrifft, so ist uns klar, dass wir durch unsere Stimmabgabe nichts verbindlich entscheiden, sondern andere wählen, die dann für uns entscheiden. Ich schlage vor, das politische System hierzu­lande »gesitteten Parlamentarismus« zu nennen. Wahlen werden nicht grundlegend gefälscht, die Teilnahme ist nach einigen Hürden möglich, und Wahlresultate bestimmen zumindest grob die politische Orientierung der Regierungspolitik. Die Ausübung einer demokratischen Praxis legen wir im Parlamentarismus in die Hände anderer. Die damit verbundene Ent­demokratisierung des Alltags wird euphe­mistisch »repräsentative Demokratie« genannt. Wir stellen Personen und Parteien einen Blankoscheck aus und hoffen, dass dieser in unserem Sinne eingelöst wird – Garantie gibt es keine. Dass Wahlverspre­chen nicht eingehalten werden, zählt zu den abgeschmackten Witzen des politi­schen Kabaretts. Und dass die Wahlkämpfe von Show und Unterhaltung überformt werden, wissen wir ebenfalls. Da geht es um Sympathiewerte, als hätten wir zu ent­scheiden, mit wem wir auf Urlaub fahren, um Elefantenrunden, in denen die Teilneh­merInnen mit ihrer Rhetorik brillieren und um Wahlkrimis, denn Spannung gehört zum Spektakel.

Tatsächlich haben Wahlen die Funktion, politische Herrschaft für eine bestimmte Zeitdauer zu legitimieren. Wer direkt oder indirekt gewählt ist, regiert legitim. Immerhin, gegenüber einer adeligen Herr­schaft, die sich durch Abstammung und Herkunft legitimiert, zweifellos ein histori­scher Fortschritt. Fundamentale politische Kritik und Opposition werden auf die kom­menden Wahltage verschoben. Dann hätte man ja die Möglichkeit, eben eine andere Partei zu wählen. Bis dahin gelte es, die demokratisch gewählte Regierung zu respek­tieren. Mit etwas Ironie könnte man sagen, alle vier oder fünf Jahre ist tatsächlich Demokratietag, dazwischen gilt das Wort der politisch Herrschenden.

Basisdemokratie!?

Ein Demokratieverständnis, welches Demo­kratie auf den Moment des Ankreuzens einer Partei in der Wahlzelle reduziert, lässt sich nicht grundlegend gesellschaftlich durchset­zen. Daher räumen Verfassungen auch bestimmte Möglichkeiten wie Volksbegeh­ren, Abstimmungen, Antragsrechte und Par­teienstellung unter gewissen Bedingungen ein. Zumeist sind diese Instrumente auf bera­tende Funktionen beschränkt, oder sie ver­pflichten die Institutionen der repräsentati­ven Demokratie sich mit Anliegen und For­derungen zumindest zu beschäftigen. Aber der Wunsch, gesellschaftliche Bereiche tat­sächlich zu demokratisieren und reale (Mit-) Bestimmung zu verwirklichen, bleibt beste­hen. Wie sehr Formen von unmittelbarer Demokratie real werden, hängt vom allge­meinen politischen Kräfteverhältnis ab. In Folge der 68er-Bewegung kam es zum Bei­spiel zu einer gewissen Demokratisierung der Universitäten, die jedoch wieder zurück­genommen wurde.

Noch immer in Kraft ist das Betriebsräte­gesetz. Dieses wurde 1919 beschlossen, 1933 vom Austrofaschismus und danach von Nationalsozialismus aufgehoben. 1947 wurde es wieder eingeführt und räumt Betriebsrä­tInnen eine Reihe von Mitspracherechten ein. Inwieweit das Gesetz 1919 ein Instru­ment war, eine mögliche proletarische Revolte in legalistische Bahnen zu lenken, und inwieweit dieses Gesetz in der Zweiten Republik, also im Nachkriegsösterreich, den Geist der SozialpartnerInnenschaft wider­spiegelte, ist eine eigene Debatte. Jedenfalls ist es Ausdruck eines Bestrebens, demokrati­sche Prozesse dauerhaft zu ermöglichen. Aber es zeigt sich, sobald Demokratie unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhält­nissen verrechtlicht wird, mündet sie in Repräsentation. Ob in den Betrieben oder an den Universitäten, die gewählten Betriebsrä­tInnen und MandatarInnen agieren oftmals in Distanz zu den tatsächlichen Bedürfnissen und Anliegen jener, die sie vertreten. Die Demokratisierung aller Lebensbereiche ist ein permanent umkämpfter Prozess, in dem spontan gebildete, demokratische Komitees der Betroffenen mit verrechtlich­ten Strukturen in Konflikt stehen.

Freie Meinungsäußerung

Ebenso wie Demokratie als tatsächlich aus­geübte Autonomie, ist auch das Recht auf freie Meinungsäußerung umkämpft. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in sich widersprüchlich. Soll man immer und überall alles sagen dürfen? Sind auch Belei­digungen, Verleumdungen oder gar Auf­rufe zu Gewalttaten legitim? Aber wer ent­scheidet, was zum Beispiel eine Beleidigung ist, und was – um auf die aktuelle Situation anzuspielen – Fake-News sind? Schon in der historischen Proklamation des Rechts auf freie Meinungsäußerung wird es im sel­ben Satz wieder zurückgenommen. Der Artikel 10 der Erklärung der Menschen­rechte in der Französischen Revolution von 1789 lautet: »Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunru­higt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.« Aber wer entscheidet darü­ber, ob eine Äußerung die öffentliche Ord­nung stört? Dieses Muster, einerseits das Recht auf freie Meinungsäußerung zu pro­klamieren und es andererseits durch eine Reihe von Bedingungen wieder zurückzu­nehmen, bestimmt die Praxis der Redefrei­heit von der Französischen Revolution bis heute. Zur staatlichen Zensur gesellt sich gegenwärtig die private auf den diversen Internetportalen. Zudem wird insbeson­dere in geopolitischen Kontexten mit zwei­erlei Maß gemessen. Was dort Willkür einer Diktatur sein soll, ist hierzulande die Siche­rung der demokratischen Grundordnung und der wissenschaftlichen medizinischen Information.

Nicht nur im Recht auf freie Meinungsäu­ßerung, auch bei anderen Menschenrech­ten ist der Widerruf eingebaut. Der wich­tige Artikel 14 der UNO-Menschenrechtser­klärung von 1948 lautet im § 1: »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfol­gung Asyl zu suchen und zu genießen.« Damit stünde allen verfolgten Menschen uneingeschränkt das Recht auf Asyl zu. Im § 2 folgt das große Aber: »Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsäch­lich auf Grund von Verbrechen nichtpoliti­scher Art oder auf Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen.« Hat es jemals ein Regime gegeben, das die von ihm Verfolgten nicht als Kriminelle bezeichnet hätte? Hat nicht die USA Julian Assange zum Rechtsbrecher und Kriminellen erklärt? Erklären umgekehrt die EU und die NATO nicht jeden noch so kriminellen Oli­garchen zum politisch verfolgten Kämpfer, so er für deren politische Interessen instru­mentalisierbar ist? Was nun die öffentliche Ordnung stört, welche Äußerung legitim und welche es nicht ist, wer ein politisch Verfolgter oder ein Krimineller ist, all das wird letztlich durch politische Macht ent­schieden. Recht löst sich in Macht auf. Oder andersrum, Recht kann nur Recht bleiben, wenn es im politischen Handgemenge als geltend durchgesetzt wird.

Leben wir also in einer Demokratie?

Wenn wir in Betracht ziehen, dass es mit unmittelbarer, tatsächlich ausgeübter Demokratie nicht weit her ist, und wenn wir uns klar machen, dass die Ausübung von Menschen- und BürgerInnenrechten immer von umkämpften Interpretationen abhängt, ist die Antwort keineswegs klar und eindeutig. Wohl kann der »gesittete Parlamentarismus« und ebenso der weitge­hend intakte Rechtsstaat für ein »Ja« in die Waagschale geworfen werden. Aber ange­sichts der grassierenden Zensur im Kontext der Corona-Politik inklusive negativer Kon­sequenzen für einzelne KritikerInnen ist es verständlich, wenn manche den Verhältnis­sen hierzulande den Charakter einer Dikta­tur zusprechen meinen zu müssen, auch wenn dieses Urteil zweifellos überzogen ist. Das Körnchen Wahrheit dabei: Weltweit sind die demokratischen Verhältnisse durch ein Mehr oder Minder an Meinungs­freiheit und Rechtsstaatlichkeit bestimmt. Die plumpe Gegenüberstellung von Demo­kratien hier und Diktaturen dort ist mit dem altehrwürdigen Ausdruck »Ideologie« zu bezeichnen. Die Verhältnisse sind über­all komplexer als es diese simple Einteilung suggeriert, außer vielleicht in Saudi-Ara­bien und im Vatikan.

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Gelesen 2491 mal Letzte Änderung am Dienstag, 31 Mai 2022 11:18
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