11 Mai

Gerechtigkeit für Sorgearbeit. Über die Ausbeutung von 24-Stunden-Pflegepersonal vor und während der COVID19-Krise und den selbstorganisierten Widerstand.

von

D.R.E.P.T. PENTRU ÎNGRIJIRE *

Im Kapitalismus gibt es nur ein Ziel: Profit zu machen. Aber es gibt keine Möglichkeit, weiterhin etwas zu produzieren, ohne die Arbeitskraft zu reproduzieren. Und genau an dieser Stelle erfolgen Ausbeutung und Über­ausbeutung, um auch und gerade mit der Not und der Hilfsbedürftigkeit von Menschen Profite zu machen. Die kapitalistische Wirt­schaftsweise konzentriert sich vermeintlich auf die Produktion, will aber nicht für die Reproduktion bezahlen. Dasselbe gilt für die Arbeit mit Menschen. Der Kapitalismus behandelt die 24-Stunden Pfleger*innen wie eine weitere Ware, die für mehr verkauft werden soll als es kostet, sie herzustellen und zu erhalten. Menschen sind aber eine unberechenbare Ware: Sie haben Bedürfnisse und Wünsche, sie werden krank, und sie wehren sich. Es besteht eine ständige Span­nung zwischen Profit machen und Leben erhalten. Wenn letzteres endlich gewinnt, wenn wir gewinnen, ist das Ende des Kapita­lismus erreicht.

Überausbeutung in Österreich

Das perfekte Beispiel für die kapitalistische Ausbeutung von Menschen sind die den-Personenbetreuer*innen in Österreich. Sie bieten eine wesentliche Dienstleistung an. Ohne sie stünde unsere Gesellschaft vor ernsthaften moralischen Fragen: Was tun wir mit unseren alten Menschen? Im Kapi­talismus werden sie als nutzlose Last betrachtet. Ihre Arbeitskraft kann nicht mehr gekauft und verkauft werden. Aber wir sind von Natur aus nicht kapitalistisch. Wir wollen nicht unsere Eltern und Groß ­eltern dem Tod überlassen, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Aber es ist auch sehr schwierig, ihre Betreuung innerhalb der Familie zu organisieren. Es würde bedeuten, dass ein jüngeres Mitglied der Familie, in der Regel eine Frau, eine bezahlte Arbeit aufgeben und zu Hause bleiben müsste.

Die Lösung für das Problem der Alten­pflege kommt dann durch den Staat, der diese Dienstleistung subventioniert, indem er die Familien unterstützt, die 24-Stun­den-Personenbetreuer*innen zu bezahlen. Damit das ganze System jedoch nicht zu teuer wird und der soziale Frieden dennoch gewahrt bleibt, werden diese Pflegekräfte aus dem Ausland angeworben. Aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder der Slowa­kei, in denen große Teile der Bevölkerung wirtschaftlich keine andere Wahl haben, als ihr Land, ihre Kinder und ihre eigenen älte­ren Verwandten zu verlassen, um sich um die der anderen zu kümmern. Diese Pflege­kräfte müssen in Österreich als selbstän­dige Ein-Personen-Unternehmen arbeiten. Das bedeutet, dass sie keine Arbeitsplatz ­sicherheit, keinen Zugang zu gewerkschaft­licher Interessenvertretung und sehr wenig sozialen Schutz haben. Wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, haben sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Es überrascht nicht, dass viele die Gele­genheit ergriffen haben, aus der Arbeit die­ser Betreuungskräfte Profit zu schlagen. Die Rekrutierung erfolgt durch Vermitt­lungsfirmen, die vom Lohn der Pflegekräfte eine Provision einheben. Dabei kommt es zu allen möglichen Arten von Missbrauch. Zum Beispiel werden die Verträge nur in deutscher Sprache verfasst, was bedeutet, dass manche Pflegekräfte die Verträge nicht verstehen, die sie unterschreiben müssen. Diese Firmen verfügen auch oft über Inkassovollmacht, d. h. sie überneh­men die Verwaltung der Finanzen der Pfle­gekraft und können damit drohen, ihre Gewerbeanmeldung zu annullieren oder die Zahlung der gesetzlichen Steuern einzube­halten. Einige Firmen schreiben auch eigene Transportleistungen vor als Teil des Beschäftigungspakets, wofür sie den Betreuer*innen Gebühren in Rechnung stel­len. Wenn es ein Problem mit der Gastfami­lie gibt, sollte die Personalvermittlungs­firma die Pflegekraft schützen, tut das aber nicht. Denn diese Betreuer*innen sind ent­behrlich und leicht austauschbar.

Die Pflegesituation seit COVID 19

Wie zu erwarten war, hat die COVID-Pande­mie in Bezug auf transnationale Pflegenetz­werke vieles verändert. Zunächst einmal war es mit der Schließung der Grenzen eine Zeitlang unmöglich, dass neue Personenbe­treuer*innen nach Österreich kommen konnten und dass diejenigen, die ihren vierwöchigen Turnus beendet hatten, nach Hause zurückkehren konnten, um sich aus­zuruhen. Es ist eine sehr herausfordernde Arbeit, rund um die Uhr, so dass die Betreuer*innen diese Pausen einlegen müs­sen, um die Arbeit wieder aufnehmen zu können. Deswegen passte sich das System schnell an. Obwohl soziale Distanzierung, Reiseverbote und das Verbleiben zu Hause für alle anderen die Regel sind, wurden schnell Charterflüge organisiert und die Grenzen geöffnet, um Personal für die 24-stündige Betreuung älterer Menschen auf­zunehmen. Warum aus dem Ausland? Weil es vor Ort fast kein qualifiziertes Personal gibt. Weil Österreicher*innen oder in Öster­reich ansässige Personen die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne, die diesen Arbeitsmigrant*innen angeboten werden, niemals akzeptieren würden.

Aber diese Migrant*innen begrüßten die Öffnung der Grenzen, da sie lieber einem möglichen Tod durch COVID als dem völli­gen Mangel an Einkommen für sich und ihre Familien entgegensehen würden. Sie haben keine anderen Möglichkeiten zu überleben, keine anderen Einkommens­quellen. Sie sind gerne bereit, in Charter­flugzeuge oder überfüllte Kleinbusse einzu­steigen, wo die Ansteckungsgefahr hoch ist. Nach ihrer Ankunft in Österreich wurden sie zwei Wochen lang unter unbezahlte Quarantäne gestellt. Erst nachdem sie keine COVID-Symptome gezeigt haben, wurden sie in die Gastfamilien entlassen und begannen mit der Arbeit.

Und es stellt sich noch ein weiteres Pro­blem: Wie kann man in das Heimatland zurückkehren? Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel und die Grenzen sind noch immer geschlossen. Und einmal nach ihrem Turnus wieder in ihrem Heimatland angekommen, werden die Personenbe­treuer*innen wieder unter Quarantäne gestellt. In dieser Zeit haben sie wieder kein Einkommen. Um all diese Mängel aus­zugleichen, haben einige österreichische Regionalbehörden begonnen, Prämien für die Zeit der Pandemie anzubieten. Die Antragsformulare sind jedoch nur auf Deutsch verfügbar, obwohl der Großteil der potenziellen Begünstigten Migrant* innen sind. In der Praxis werden nur sehr wenige Personenbetreuer*innen tatsäch­lich in der Lage sein, die bürokratischen Hürden zu überwinden und den Bonus zu erhalten.

Die Forderungen der Interessensvertretung

Glücklicherweise haben die Personen-Betreuer*innen in den letzten Jahren begonnen, ihren Widerstand zu organisie­ren. Sie waren sich bewusst, wie wichtig ihre Arbeit ist, noch bevor die COVID- Pandemie dies ganz offensichtlich machte. Eine Gruppe, die den Kampf anführt, ist »D.R.E.P.T. pentru îngrijire« (Gerechtigkeit für Pflege und Personenbetreuung), die 24-Stunden-Pflegekräfte in ihrem Kampf gegen die Ausbeutung zusammenbringt. Sie üben Druck auf Regierungsbehörden aus, den 24-Stunden-Pflegebereich zu regulieren, um die Arbeitsbedingungen und den Schutz dieser wichtigen Arbeits­kräfte zu verbessern. Sie weisen auch auf die vielen Möglichkeiten hin, wie die Ver­mittlungsagenturen von der Situation pro­fitieren, sowohl in normalen Zeiten als auch während der Pandemie, und wie diese die Rechte der 24-Stunden-Personen­betreuer*innen missbrauchen, um Geld zu verdienen. Sie bieten Vertretung für 24-Stunden-Personenbetreuer*innen in Öster­reich an. Sie ermöglichen es 24-Stunden-Personenbetreuer*innen, sich mit ihrer eigenen Stimme Gehör zu verschaffen – durch Erfahrungsberichte in sozialen Netz­werken, Artikel in der Presse oder Inter­views im Fernsehen. Nicht zuletzt beteiligen sie sich an Straßenprotesten. Vor kurzem waren sie bei der Demonstration für den Internationalen Frauenkampftag am 8. März in Wien vertreten, wo sie ihr Manifest verle­sen haben und die Welt an ihre Forderungen erinnerten. Ihre Intervention wurde mit tosendem Applaus und vielen Solidaritäts­bekundungen begrüßt. Für die Zeit der Pan­demie sind ihre Forderungen klar: Löhne entsprechend dem erhöhten Risiko, Bezah­lung für die Zeit in der Quarantäne, sicherer Transport und die gleichen Schutzmaßnah­men vor Ansteckung wie für den Rest der Gesellschaft.

Es steht außer Frage, dass die COVID-Krise gezeigt hat, welche Branchen in unserer Gesellschaft wirklich unverzichtbar sind und welche verschwinden können, ohne jemals vermisst zu werden. Die Krise zeigt: wir brauchen die Menschen, die Pflege leis­ten, die Menschen, die Nahrung ernten und herstellen, die Menschen, die sich um die Kinder kümmern, die Menschen, die putzen, die Menschen, die Waren liefern und die Menschen, die den Müll einsammeln. Sie haben weitergearbeitet, ihr Leben riskiert und vielleicht sogar ihr Leben verloren, damit sich der Rest von uns isolieren und in Sicherheit bleiben kann. Sie erhielten selten mehr Geld für die Risiken, die sie eingehen. Das ist unglaublich ungerecht.

Eine wirklich gerechte Gesellschaft würde auf Profit verzichten. Sie würde sich statt­dessen darauf konzentrieren, das Leben zu erhalten. Eine solche Gesellschaft würde auch ganz anders mit der Arbeit umgehen, die für ihre Reproduktion notwendig ist. Sie würde die Menschen nicht mehr in Produ­zent*innen und Reproduzent*innen auftei­len, wie es jetzt geschieht. Infolgedessen würden wir während einer Pandemie alle abwechselnd wesentliche Arbeiten verrich­ten, uns gegenseitig Pausen einräumen und einander ablösen. Wir würden abwechselnd für Pflege sorgen, Nahrung ernten und her­stellen, uns um die Kinder kümmern, put­zen, Waren liefern und Müll einsammeln. Das ist die solidarische Gesellschaft, für die wir gemeinsam kämpfen müssen.

* D.R.E.P.T. PENTRU ÎNGRIJIRE
»Gerechtigkeit für Pflege- und Personenbetreuung« ist eine selbstorganisierte Gruppe von rumäni­schen 24-Stunden-Per­sonenbetreuer*innen und Aktivist*innen. Gemeinsam kämpfen sie für bessere Arbeits­bedingungen in der 24-Stunden-Betreuung in Österreich.

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