BILDUNG: Systemintegration, keine Sozialintegration

von

Der Umbau der ostdeutschen Hochschulen nach der deutschen Einheit.

Von PEER PASTERNACK

Mit dem Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 setzte eine zunächst spontane demokratische Entwicklung an den Hochschulen ein. Sie führte zur Auflö­sung der SED- und FDJ-Strukturen sowie zur Entsorgung ideologischer und (para-) militärischer Studienanteile, stellte die studentische Selbstverwaltung wieder her und hob die Beschränkungen der Wissen­schaftsfreiheit auf. Die Einführung des freien Studienzugangs war eine durchaus befreiende Erfahrung nach 40 Jahren rigi­der Zulassungspolitik. Mit dem 3. Oktober 1990 setzte dann eine Komplettumgestal­tung der ostdeutschen Hochschulen ein.

Die Rahmenbedingungen des Hochschul­wesens wurden vor allem in zweierlei Hin­sicht verändert. Einerseits änderten sich im Zuge eines weitgehenden West-Ost-Trans­fers die kompletten Strukturen: die Hoch­schulstrukturen, die Personalstruktur und das rahmensetzende Rechtssystem. Ande­rerseits setzte, durch Finanztransfers getrieben, eine deutliche Ausstattungsver­besserung der ostdeutschen Hochschulen ein. Parallel dazu, 1990/91, erfasste die Hochschulen ein Großkonflikt, als die so genannten Abwicklungen verfügt wurden. Abwicklung bedeutete die Schließung von Einrichtungen, die als sachlich überflüssig oder politisch erneuerungsbedürftig galten. Das vorhandene Personal konnte sich zwar für Stellen bewerben, die für die anstelle der alten Einrichtungen neu errichteten Institute ausgeschrieben wurden. Dies war allerdings mit dem Makel behaftet, sich aus einem abgewickelten Zustand heraus zu bewerben. Entsprechend selten führte es zum Erfolg.

Abwicklung und Arbeitsplatzverlust

Zunächst begannen so genannte Integri­tätsüberprüfungen, d. h. Personalkommis­sionen und Ministerien unternahmen poli­tische Bewertungen der WissenschaftlerIn­nen und ihrer Biografien. Der Sache nach waren diese Überprüfungsverfahren Beur­teilungen individualbiografischer Vergan­genheit mit dem Ziel, eine Sozialprognose über die Eignung (bzw. Nichteignung) für den Öffentlichen Dienst der Bundesrepu­blik Deutschland zu gewinnen. Das wurde völlig gegensätzlich bewertet. Die einen vertraten die Ansicht, dies stehe im vollen Einklang mit demokratischen Erfordernis­sen. Andere sahen Defizite, die sich etwa aus zu großer Eile ergaben. Wieder andere sahen solche Defizite auch, meinten aber, es sei der Übergangszeit geschuldet, was es hinnehmbar mache.

In einer nächsten Stufe wurden in den meisten ostdeutschen Ländern alle Hoch­schullehrerstellen neu ausgeschrieben. Die bisherigen StelleninhaberInnen konnten sich auch bewerben, doch dies nun in offe­ner Konkurrenz mit westdeutschen Mitbe­werberInnen, die im Blick auf Publikatio­nen, Auslandserfahrungen und Vernetzun­gen bessere Voraussetzungen mitbrachten. Im Ergebnis gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Fächern. Die Sozial- und Geis­teswissenschaften wurden sehr viel stärker verwestlicht als die Medizin und als Mathe­ matik, Naturwissenschaft und Technik. Innerhalb der letzteren hatten ostdeutsche Professoren in den Ingenieurwissenschaf­ten die größten Verbleibschancen, wäh­rend die Verhältnisse an den medizini­schen und mathematisch-naturwissen­schaftlichen Fakultäten stärker ost-west-ausgeglichen waren. Bereiche wie die Poli­tikwissenschaft wurden nahezu vollständig westdeutsch besetzt, da es ein Fach dieses Namens in der DDR nicht gab.

Parallel zu den Neubesetzungen der Pro­fessuren setzte an den Hochschulen ein politisch verfügter Personalstellenabbau ein, der vor allem (Ost-)Berlin und Sachsen betraf. Dort hatte die DDR fast 50 Prozent ihres gesamten Wissenschaftspersonals konzentriert. An der Universität Leipzig, der TU Dresden und der Humboldt-Univer­sität zu Berlin, um drei Beispiele zu nennen, hatten daraufhin jeweils zwei Drittel des 1990 beschäftigten Personals ihren Arbeits­platz räumen müssen. Dies betraf nun auch die WissenschaftlerInnen unterhalb der Pro­fessuren. Insgesamt verloren bis zum Ende der 1990er Jahre etwa 60 Prozent des wissen­schaftlichen Personals aller ostdeutschen Hochschulen ihren Arbeitsplatz.

Keine Chance für den DDR-Wissenschafts­nachwuchs

Ein besonderes Problem waren die Schwie­rigkeiten, die der Transformationsmodus der jüngeren und mittleren ostdeutschen WissenschaftlerInnengeneration bescherte. Deren Angehörige hatten noch in der DDR ihre ersten Schritte in der Wissenschaft absolviert, dann mit dem Umbruch ihre aka­demischen LehrerInnen und Netzwerke ver­loren, und nun waren sie zudem mit dem Stigma versehen, in der DDR wissenschaft­lich sozialisiert worden zu sein. Aus beiden Generationen gelang es nur wenigen, sich in die neuen Strukturen zu integrieren.

Weitgehend erfolglos blieb das Vorhaben, ForscherInnen aus Akademieinstituten in die Hochschulen zu integrieren. Dem lag eine folgenschwere Fehleinschätzung zugrunde. Ihr zufolge habe es in der DDR eine weitgehende Trennung von Forschung und Lehre entlang einer Linie zwischen Hochschulen und Akademien gegeben. Die DDR-Hochschulen, so die fehlerhafte Annahme, seien weitgehend nur Lehranstal­ten gewesen, während die eigentliche (Grundlagen-)Forschung an den Akademie-Instituten stattgefunden habe. Dies war zwar ein Ziel der SED-Wissenschaftspolitik seit 1968 gewesen. Es wurde aber nicht umgesetzt, da sich die Hochschulen subku­tan dagegen wehrten, zu reinen Lehranstal­ten degradiert zu werden. Nun sollten über ein groß angelegtes Sonderprogramm, das Wissenschaftler-Integrations-Programm (WIP), 1.700 AkademieforscherInnen in die Hochschulen integriert werden. Tatsächlich aber hatten die Hochschulen beträchtliche eigene Forschungspotenziale und mussten im übrigen Personal abbauen. Daher fielen die meisten der vormaligen Akademiefor­scherInnen, die sämtlich positiv evaluiert waren, nach Auslaufen der WIP-Förderung wieder aus den Strukturen heraus.

Der weitgehende Verzicht auf das vor­handene Personal und auf die fast kom­plette ostdeutsche Nachwuchskohorte hatte eine wesentliche Voraussetzung: Die akademische Grundversorgung Ostdeutsch­lands konnte vergleichsweise problemlos aus den vorhandenen personellen Ressour­cen der westdeutschen Wissenschaft erfol­gen. Dies verschaffte auch AnwärterInnen eine Chance, die nach menschlichem Ermessen in der westdeutschen Normalsi­tuation ihre Chancen ausgereizt hatten, ohne auf eine Professur gelangt zu sein.

Kollision der Wissenschaftskulturen

Hinzu traten hierarchische Unterschiede. Die ostdeutschen WissenschaftlerInnen saßen nach dem Umbau an den Hochschu­len typischerweise auf C3- statt C4-Stellen, waren häufiger an Fachhochschulen als an Universitäten anzutreffen, eher Stellvertre­ter denn Chefs. Insgesamt hatte nahezu jede/r Wissenschaftler/in in Ostdeutsch­land seit 1990 eine Veränderung des beruf­lichen Status erfahren: »Beendigung oder Neudefinition der Karrieren nahezu aller DDR-Wissenschaftler«, fasste dies Dieter Simon, seinerzeit Wissenschaftsratsvorsit­zender, zusammen. Für einige in der DDR benachteiligte WissenschaftlerInnen hatte der Vorgang auch zuvor undenkbare Chan­cen geboten. Gleichzeitig wurden aber auch früher benachteiligte Wissenschaftler von der allgemeinen Welle des Stellenabbaus erfasst.

Die deutsch-deutsche Wissenschaftszu­sammenführung war auch eine Kollision zweier extrem fremder Wissenschaftskultu­ren. Gemäß der Einschätzung von Wolfgang Kaschuba, Ethnologe an der Humboldt- Universität zu Berlin, könne die Situation durchaus im Stile eines ethnologischen Feldtagebuchs beschrieben werden: »Fremde rücken in das Gebiet einer indige­nen Stammeskultur vor, sie übernehmen dort die Schlüsselpositionen der Häuptlinge und Medizinmänner, zerstören einheimi­sche Traditionen, verkünden neue Glau­benssätze, begründen neue Riten. Das klas­sische Paradigma also eines interethni­schen Kulturkonflikts, nur dass sein Schau­platz nicht in Papua-Neuguinea liegt, son­dern ganz unexotisch nah, in Berlin, Unter den Linden.« Auswirkungen hatte dies vor allem in Konkurrenzsituationen, in denen Ost- und Westdeutsche aufeinanderstießen. Hier kam es zu einer wechselseitigen Befestigung zweier Tatbestände: Die hierar­chische Untergeordnetheit verursachte eine schwächere Vertretung der Ostdeut­schen in örtlichen wie in überregionalen akademischen und wissenschaftspoliti­schen Gremien. Das behinderte sie darin, ihre unzulängliche Verfügung über symbo­lisches, (wissenschafts-)politisches und ökonomisches Kapital aufzuholen. Infolge­dessen wurde wiederum die Unterreprä­sentanz in Entscheidungsgremien perpe­tuiert.

Das gilt bis heute. Eine aktuelle Studie zur Zusammensetzung der Leitungen deut­scher Universitäten stellte jüngst fest: Aus den ostdeutschen Bundesländern stammt keiner der aktuellen UniversitätsleiterIn­nen. Da es 81 öffentliche Universitäten in Deutschland gibt und heute 20 Prozent der deutschen Bevölkerung in den östlichen Bundesländern inklusive Berlin leben, müsste man statistisch 16 Universitäts rektorinnen oder -präsidenten ostdeut­scher Herkunft erwarten.

Insgesamt wurde in den 1990er Jahren eine Systemintegration der ostdeutschen Hochschulen vollzogen, die jedoch nicht mit einer Sozialintegration einherging. Der ostdeutsche Hochschulumbau hatte sich als ein Anpassungsprozess an das normsetzende und strukturtransferierende westdeutsche Hochschulsystem vollzogen. Dieser Vorgang war gekennzeichnet durch einen (zu) engen Zeitrahmen, Schwächen der Problemdefinition, in ihrem An ­spruchsniveau stark differierende Zielsetzungen, ungleiche Organisiertheit der Interessen und dadurch dominierenden Einfluss von westdeutschen Interessen ­kartellen.

Peer Pasternack war 2002–2003 Staatssekre­tär für Wissenschaft im Senat von Berlin und ist Direktor des Instituts für Hochschulfor­schung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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Gelesen 5758 mal Letzte Änderung am Montag, 11 November 2019 18:10
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