1918–2018: Inmitten von Hunger und Elend – ein erwartungsvoller Neubeginn

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»Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« (Art. 1 BV-G) Der 2. Satz der gel­tenden Bundesverfassung geht auf Hans Kelsen zurück, der damit den Staat explizit mit dem Recht und nicht mit der traditionellen Gewaltterminologie identifiziert (Theo Öllinger). Die praktische Umsetzung der sozialen Rechte garantierten in den ersten Jahren wesentlich die Soldatenräte, bis die Vertretungsorgane der ArbeiterIn­nen gesetzlich verankert und soziale Errungenschaften bis in die Gegenwart unangetastet blieben.

FRIEDL GARSCHA zum 100. Gründungstag der Republik

Fast eine Revolution

Als 12. November 1918 proklamierten die Präsidenten der Provisorischen National­versammlung vor dem Parlamentsge­bäude die Republik. Die deutschsprachi­gen Abgeordneten des »Reichsrats« (des Parlaments der österreichischen Reichs­hälfte der Monarchie) hatten sich zuvor, am 21. Oktober, als Provisorische Natio­nalversammlung konstituiert, um einen neuen Staat – »Deutsch-Österreich« – zu schaffen, nachdem absehbar wurde, dass mit der bevorstehenden Niederlage im Krieg auch die Habsburger-Monarchie auseinanderbrechen werde. Parallel dazu hatte die kaiserliche Regierung weiter bestanden, die den Waffenstillstand vom 3. November schloss. Am 11. November verzichtete Kaiser Karl zwar auf die Regie­rungsgeschäfte, trat aber nicht zurück, um die Fiktion des Fortbestands der Monar­chie aufrechtzuerhalten – er hat 1921 zweimal von Ungarn aus versucht, sich wieder an die Macht zu putschen.

Der österreichische Staatsrechtler Hans Kelsen hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der neue Staat nicht in Form einer Übertragung der Macht durch den alten Staat entstand, sondern einen »Bruch der Rechtskontinuität« darstellte. Der Führer der Sozialdemokratie, Otto Bauer, nannte seine Analyse der Gründungsjahre der Republik »Die österreichische Revolu­tion«. Die Reichsratsabgeordneten mit Karl Renner an der Spitze, die die Repu­blik ausriefen, waren jedoch keine Revolu­tionäre. Sie schufen zwar neue, republika­nische Instanzen, doch die Verwaltung der Republik baute auf dem kaiserlichen Beamtenapparat auf.

1932 veröffentlichte der Berliner Schriftsteller Theodor Plievier, am Ende des Ersten Weltkriegs führender Teilneh­mer des Kieler Matrosenaufstandes, im kommunistischen Malik-Verlag sein Buch »Der Kaiser ging, die Generäle blieben«. Der Titel des Romans verwies auf das Dilemma der revolutionären Umwälzung in Deutschland 1918/19: Die militärische Macht war in den Händen der Reaktion geblieben. In Österreich hingegen war die k.u.k. Armee zerfallen, die aus ihr entstan­dene »Volkswehr« knüpfte an revolutio­nären Traditionen an. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis das aus ihr hervorgegan­gene Bundesheer zu einem verlässlichen Instrument der bürgerlichen Staatsmacht wurde. Der Wiener Universitätsprofessor Adam Wandruszka spöttelte in den 1970er Jahren in seinen Vorlesungen, für Öster­reich müsse man Pliviers Buchtitel abwan­deln: »Der Hof ging, die Hofräte blieben.«

Die Rätebewegung

Doch parallel zum kaiserlichen Beamten­apparat und den Institutionen bürgerlich-parlamentarischer Mitbestimmung waren seit 1918 neue Formen der Vertretung von Arbeiterinteressen entstanden, die sich an den russischen Sowjets orientier­ten und, auf lokaler Ebene, Ansätze entwi­ckelten, zu Organen einer proletarischer Gegenmacht zu werden. Im Gegensatz zu Otto Bauers Einschätzung, es habe 1918–1920 ein »Gleichgewicht der Klas­senkräfte« bestanden, war es den von der Sozialdemokratie beherrschten Arbeiter­räten allerdings nie gelungen, tatsächlich die bürgerliche Macht im Staat in Frage zu stellen; eine Ausnahme bildete das Militär – die Soldatenräte garantierten während der revolutionären Periode in den ersten Jahren der Republik, dass das die Armee nicht, wie in Deutschland, gegen die Arbeiterschaft eingesetzt wer­den konnte.

Was die Arbeiterräte leisteten, fasste Hans Hautmann in seinem 1987 erschie­nenen Standardwerk zu diesem Thema so zusammen: »... die nach gehorteten Lebensmitteln fahndenden, die Schleich­handelsbestände an die Notleidenden ver­teilenden, freien Wohnraum zur Anzeige bringenden, hungernde Kinder tatkräftig unterstützenden, Waffen- und Munitions­lieferungen an konterrevolutionäre Staa­ten hintanhaltenden, jeden Auskunftssu­chenden und Bittstellenden in sozialen Angelegenheiten kostenlos beratenden Räteorgane der österreichischen Revolu­tion [waren] eine wahrlich einmalige Erscheinung in der Geschichte unseres Landes, die sich in die beste Tradition des­sen einreiht, was man gesunde Initiative erwachter und selbstbewußter Arbeiter­massen nennen kann« (Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Seite 680)

Demokratie und Sozialreform

Am Beginn der neugegründeten Republik standen Änderungen in der Sphäre des Rechts, die Hoffnungen auf einen tatsäch­lichen revolutionären Neubeginn weck­ten.

Die als Provisorische Nationalversamm­lung tagenden Männer beschlossen am 12. November als eines ihrer ersten Gesetze ein neues Wahlrecht, mit dem sie der bis dahin von der demokratischen Mitbestim­mung ausgeschlossenen weiblichen Hälfte der Bevölkerung das aktive und passive Wahlrecht zuerkannten. Den Hintergrund hierfür bildete die Erfahrung der massen­haften Einbeziehung der Frauen in die industrielle Produktion während des Krie­ges und die Tatsache, dass die es waren, die angesichts des Versagens der Nah­rungsmittelversorgung der Bevölkerung durch die k.u.k.-Behörden das Überleben der Menschen gesichert hatten.

Die Abschaffung der Todesstrafe im April 1919 fand 1920 auch Eingang in die neue Verfassung. Hintergrund war die Abscheu, welche die exzessive Anwen­dung der Todesstrafe, selbst gegen Min­derjährige, durch die k.u.k. Militärjustiz in Galizien und Serbien erzeugt hatte.

Die sozialen Errungenschaften der Jahre 1918 bis 1920 umfassten die Einführung des Achtstundentages und des bezahlten Urlaubs, die Ausweitung der Arbeitslosen­versicherung, das Betriebsrätegesetz, die Einführung von Kollektivverträgen, die Errichtung der Arbeiterkammern und andere mehr. Hervorzuheben ist, dass dieses gewaltige Reformwerk – das in den darauffolgenden Jahren im »Roten Wien« seine Fortsetzung fand – in einer Zeit beschlossen und umgesetzt wurde, in wel­cher die staatlichen Finanzen durch den Krieg zerrüttet war, die Mehrheit der Bevölkerung Hunger litt und die Spani­sche Grippe Zehntausende Menschenle­ben forderte. Die Vorstellung, dass der Sozialstaat »zu teuer« sei, blieb Zeiten vorbehalten, in denen der gesellschaft liche Reichtum sich vertausendfacht hatte.

Gelesen 5407 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 08 Mai 2019 16:41
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