ANGELA ROHR (1890–1985) Lyrische Distanz zum Schrecken

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Gleich drei Bücher – »Zehn Frauen am Amur«, »Lager« und »Der Vogel« – haben in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit auf die in Vergessenheit geratene Autorin Angela Rohr gelenkt.

VON BÄRBEL DANNEBERG

Bevorr ich diese drei Bücher gelesen habe, hat das Foto der Autorin meine Aufmerksamkeit gebannt: Wache Augen blicken aus einem jungen, neugierigen Gesicht, der Körper ist eingehüllt in einen dicken Bärenpelz. Das Bild von Angela Rohr, das vor einer Forschungsreise nach Sibirien um 1927 aufgenommen wurde, will nicht ganz zu dem Bild passen, das ich von ihr nach der Lektüre ihrer Bücher habe: Diese schöne Frau hat all das erlitten? Ich frage mich, wie ein so unversehrter Mensch die erzählten Schrecken aushalten kann, mehr noch: Wie kann ein Mensch bei sei­nen Schilderungen aus dem Gulag mit so viel Ernst, Ironie und Klarheit in so wun­dersamer Sprache sprechen?

Reportagen aus Moskau

Der Dozentin für deutsche Literaturge­schichte an der Humbold-Universität Berlin, Gesine Bey, ist es zu verdanken, dass der Name Angela Rohr seit einigen Jahren ein Fixstern am Literaturhimmel ist. Die 1890 im österreichisch-ungarischen Znaim geborene Angela Rohr hatte ein bewegtes Leben. Sie schrieb unter verschiedenen Namen, hatte ebenso viele Beziehungen und lebte in Wien, Paris, Zürich und Berlin. Sie verkehrte in Expressionisten- und Dadaistenkreisen, studierte Medizin und Psychoanalyse, bevor sie 1925 in großer Hoffnung auf eine neue Gesellschaft mit ihrem Mann nach Moskau ging. Von 1928 bis 1937 war sie Korrespondentin der Frankfurter Zeitung und schrieb literari­sche Reportagen und Erzählungen aus der Sowjetunion.

In dem zuletzt von Gesine Bey herausge­geben Buch »Zehn Frauen am Amur« (mit den wunderschönen Fotos von Margarete Steffin) fängt Angela Rohr in lyrischen Beschreibungen den Alltag in der frühen Sowjetunion ein. »Auch die Bettler bedachte ich mit meiner Aufmerksamkeit, waren doch sie es allein, die es verstanden, von den sonst unfaßbaren Schuldgefühlen der Menschen zu leben«, schreibt sie in »Weite Plätze« in Moskau. Die Reportagen aus Sibirien erzählen von einer fremden Welt, die uns durch ihren genauen Blick für Verborgenes nähergeholt wird. In »Dunkle Tonfolge«, einem Bericht von den Amur-Kosaken, vermerkt sie: »Kinder entschlie­ßen sich hier seltener zum Leben, als es Erwachsene tun, die daran doch schon einigermaßen gewöhnt sind. Die Kleinen sterben einfach und ohne große Umstände an Krankheiten, die man bloß als Vorwände ansehen muß, werden tot aus ihren Wiegen genommen und auf dem Tisch aufgebahrt.« Sie berichtet von der »Kontrolle des Sowjetbürgers« und über »Die Einführung des Paßzwanges in der Sowjetunion« und gebraucht in diesem Zusammenhang visionär den Begriff der »Tschistka« – »Säuberung«. Der Band endet mit »Stalins Gründe«, einem Bericht zu seiner Rede über den ersten Fünfjahresplan, in dem es u. a. heißt: »Nur dort, wo es gilt ideologisch Fremdes abzuwerten, erlaubt er sich unkontrol­lierte Bemerkungen.«

Lager und Verbannung

In dem autobiographischen Roman »Lager« vermerkt die Herausgeberin Gesine Bey in ihrem Nachwort, dass nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjet union am 22. Juni 1941 die meisten Deutschen, die in Moskau lebten, entwe­der evakuiert oder verhaftet wurden. »Kurz nach der Verhaftung ihres Mannes holte man Angela Rohr aus der gerade bezogenen Wohnung in der Uliza Furma­nowa ab. (...) Den Vorwurf der Spionage ließ man fallen, verurteilte sie aber am 8. Juli 1942 nach einem Jahr Untersu­chungshaft ohne Angabe eines Paragra­phen als sozialgefährliche Elementezu einer Strafe von fünf Jahren Gulag.«

In »Lager«, dessen Handlung im Jahr 1943 beginnt, schildert Angela Rohr mit »epischer Distanz« (Gesine Bey) ihr Leben in einer Welt ohne Gesetze. Als Ärztin steht sie vor der unlösbaren Aufgabe, bei fehlenden Medikamenten und Mangeler­nährung, unter hygienisch unvorstellbaren Zuständen und in der bitteren Kälte der Taiga die Menschen vor dem Tod zu bewahren. Rohr erzählt von Frauen, die gefrorene Kartoffeln aus dem Vorjahr ausgraben und den halbaufgetauten Brei essen, von Häftlingen, die massenweise Kasein trinken, das zur Pappmaché- Herstellung gedacht ist, von Kaugummi aus Steinkohleteer, von Männern, die unverdaute Maiskörner aus dem Klosett klauben, von anderen, die süße Schierlings­wurzeln am Flussufer ausgraben und daran erbärmlich zugrunde gehen. Angela Rohr entdeckt in ihren Laborexperimenten auch eine Methode, die Vergiftungen des Schier­lings zu behandeln. Ihre Schilderungen sind unaufgeregt und eindringlich und haben manchmal, etwa bei der Schlitten­fahrt über einen Friedhof, kafkaeske Züge.

Späte Entdeckung

In »Der Vogel« sind späte Erzählungen der Autorin versammelt, die durch die erneute Entfremdung in der russischen Gefangen­schaft und Verbannung wieder mit dem expressionistischen Frühwerk verwandt sind. Im Gefängnishof wird ein kleiner, aus Brot geformter Vogel mit einem roten Bändchen am Fuß zum Glücksbringer. Er begegnet der Autorin erneut am Ende der Erzählung in einer Kirche, in der hunderte Frauen eingesperrt sind: ein zaghafter Ton, ein Zirpen. »Eine Frau mit einem künstli­chen Bein ging durch unsere Nacht. Mit jedem Schritt, den sie machte, gab sie einen Laut von sich, dünn und quiekend, viel­leicht doch nicht so ähnlich einer Vogel­stimme, wie es mir zuerst erschienen war.«

Nach fünfjähriger Haft wird Angela Rohr in die »ewige Verbannung« geschickt, die nach Stalins Tod aufgehoben wird. 1957 wird sie rehabilitiert und kehrt nach Mos­kau zurück, wo sie 20 Jahre lang in einer »Kommunalka«, einer Gemeinschaftswohnung, in einem winzigen Zimmer, vollgestopft mit Büchern, lebt und schreibt. 1985 stirbt sie in Moskau, und erst 2010 wird sie nach etlichen Versuchen, ihr Werk der Öffentlichkeit bekannt zu machen, wie­derentdeckt. Ein bleibendes literarisches Juwel, ein Zeugnis des Überlebenswillens unter düstersten Umständen.

Werke von Angela Rohr Herausgegeben von Gesine Bey

Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reporta­gen, Basis Druck, Berlin, 2010

Lager. Autobiographischer Roman, Aufbau Verlag, Berlin, 2015

Zehn Frauen am Amur. Feuilletons für die Frank­furter Zeitung aus der Sowjetunion (1928–1936), Basis Druck, Berlin, 2018

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