Kategorie: Sozialthemen

VS 2025/9 S.51

„Gentile“* (60), Busfahrer 

im Gespräch mit Jonas Kraft

„Gentile“, 60 (Spitzname, richtiger Name ist der Redaktion bekannt)

Wie ist Ihre Berufsbezeichnung?

Bis zu meiner Pensionierung vor ein paar Jahren war ich Busfahrer.

Wie sind Sie dazu gekommen?

Es ist eine lange Zeit her, in den frühen 90ern. Ich war Staplerfahrer in einem großen österreichischen Unternehmen. Es hieß, sie suchen eventuell LKW-Lenker. Danach habe ich privat den LKW-Führerschein gemacht. Man denkt, ja, das ist kein Dauerzustand, Staplerfahrer zu werden oder zu bleiben. Noch dazu ist es uns angeraten worden, eine Stufe höher zu steigen, weil einfach zu wenig Arbeit für uns übergeblieben ist. Und habe mich nachher halt beworben. Auf einmal kurz vor der Ferienzeit fragt mich der Meister bzw. Partieführer, sie suchen Buslenker, aber das muss heute passieren, das muss eine schnelle Entscheidung sein, es wird alles gezahlt und so weiter. Nachher habe ich gedacht, ja, eigentlich ein Glück für mich, die große Chance. Dann war ich ein sogenannter „Abgeordneter“, ich habe mich gefühlt wie ein Nationalrat. Nicht alle haben das gut geheißen, aber zu 99 % haben sie gesagt, ja das ist eine gute Chance für dich, da wirst du wenigstens ein selbstbewusster Mensch. Nach zwei Monaten sind wir als Lkw-Fahrer gefahren und gleichzeitig eingeschult worden zum Buslenker. Und für mich war es eine Überraschung, dass ich gleich beim ersten Mal durchgekommen bin. Ich habe gesagt, oh, ich bin ja gut. Und mein Vater war immer auch talentiert für Traktorfahren, Pferde, Kutschenfahren etc. Also das liegt mir eigentlich eh im Blut, aber es ist nicht wirklich herausgekommen, bis zu diesem Zeitpunkt. Mir ist eigentlich nichts anderes übrig geblieben. Sonst wäre ich dort versandelt, wenn man das so sagen darf.

Was waren Ihre Aufgaben und Arbeitsbedingungen?

Die Arbeitszeit war nicht geregelt. Du hast meistens oder sehr oft Tagesdienste schon noch gehabt, aber das heißt, ein Tagesdienst ist ungefähr von 6 Uhr Dienstbeginn gewesen bis 18 Uhr. Also kurze Dienste hat es auch gegeben, die sind zirka vier Stunden gewesen. Das heißt, du hast den ersten Kurs zu fahren gehabt und bist drei Stunden lang gefahren, nachher bist du nach Hause gegangen. Oder die Nachmittagsdienste, die zwischen 15 und 17 Uhr begonnen haben, so gesehen hat es alles gegeben. Ein Fahrgast hat einmal gesagt, du sitzt noch immer drinnen. Ich antwortete, schau mal, wir haben unsere gesetzlich vorgeschriebenen Pausen. Die halten wir ordnungsgemäß ein. Der Disponent hat gesagt, du bist gerade noch im grünen Bereich, sage ich mal so. Mit den Überstunden war es so, wenn ich fahren durfte, war ich glücklich, aber nachher, kurz vor der Pensionierung, hat es Zeiten und Phasen gegeben, die ich nicht ganz nachvollziehen konnte, dass wir praktisch keine oder nur wenig Überstunden machen durften. Sonst hätten andere Kollegen gekündigt werden müssen, weil wir praktisch zu wenig Arbeit gehabt haben. Solche Phasen hat es auch gegeben. Aus menschlicher Sicht habe ich sie natürlich nachvollziehen können. Es hätte aus meiner Sicht auch andere Lösungen geben können.

Du hast spätestens alle viereinhalb Stunden eine 45 Minuten Pause gehabt oder gestaffelt, laut EU-Gesetz und laut normalen Gesetzen. Meistens haben sie noch gesagt, in dem Gesetz bist du drin, in den anderen wärst du nicht mehr drin. Ich bin ja kein Philosoph oder Rechtswissenschaftler. Soll ich da jetzt wegen jeder Minute drauf schauen? Und darum hat das Digitalgerät meistens aufgeleuchtet. Und da waren auch oft die Streitereien. Normalerweise hat es geheißen, wenn es aufleuchtet, darfst du eigentlich nicht mehr fahren. Und der Disponent hat gesagt, das ist falsch eingestellt, du kannst trotzdem fahren. Ich hab gesagt, nach was soll ich mich richten? Und darum sind dann nachher Ex-Kollegen auch zu Gericht gegangen. Wir müssen fahren, wenn es da oben aufleuchtet und piepst. Es kann aber auch die eigene Schuld sein, wenn du vergessen hast, die Taste zu drücken. Wenn das nicht automatisch geht, dann hat der Disponent gesagt, der Fahrer hat vergessen zu drücken, dass er in der Pause ist. Und nachher rennt das weiter und nachher kennt sich der Blechtrottel da oben nicht aus. Er glaubt, er fährt, aber er ist eine halbe Stunde gestanden. Solche Sachen hat es auch gegeben. Früher hast du nur die Scheiben beim Tachographen gehabt, da gab es noch keine digitalen Geräte.

Es hat fast alles gegeben, zum Beispiel hat einer einmal schon verkaufte Fahrscheine eingesammelt und wieder verkauft. Oder einer hat Tachoscheiben nachgeritzt, dass er mehr gefahren ist, als er wirklich gefahren ist. Die sind ungefähr ein Jahr vom Lenkdienst abgezogen worden und dann haben sie eine zweite Chance gekriegt. Das habe ich nicht persönlich erlebt, aber man hat es uns bei der Ausbildung als Warnung erzählt.

Wenn du wegen Baustellen oder Stau immer Verspätung hast, beziehungsweise es sich mit dem Fahrplan nicht ausgeht, hast du echt Probleme mit WC gehen, ich habe da Fälle gesehen, da muss halt der Busch oder der Baum her, auch wenn es eigentlich für Österreich eine Schande ist, sagen wir mal so. Aber das mit den Pausen, da habe ich sogar bei einer Gerichtsverhandlung dabei sein müssen, der Ex-Kollege ist wegen solcher Sachen mehr oder minder gekündigt worden, dass er so viele Kursausfälle gehabt hat und ich habe bei Gericht wahrheitsgetreu aussagen müssen, wie das wirklich war, weil ich als Zeuge vorgeladen wurde. Ich weiß noch, der Disponent hat mir mal erzählt, manche sind schon lustig, die schreiben ein, was sie um diese Zeit getankt haben oder in die Waschhalle wegen Kleinigkeiten gefahren sind, dabei hätten sie einen Kurs bedienen müssen.

Früher war der Dienstbeginn überhaupt keine Herausforderung, weil man teilweise in Schlafräumen bei den Garagen übernachten konnte. Im Winter gab es Herausforderungen bei Schneefall, pünktlich den Dienstbeginn einzuhalten. Der Arbeitgeber meinte dazu, dass es ihm wurscht ist, wie wir in die Arbeit kommen. Du musst zur rechten Zeit am Arbeitsplatz sein, ob du jetzt mit dem Hubschrauber oder mit dem Taxi oder was auch immer kommst.

Auch die Ruhezeiten sind am Papier geduldig. Ruhezeit sind so, oder Nachtruhe besser gesagt, 8 bis 9 Stunden, aber da war auch manchmal die Fahrt von einem Dienstende zum Dienstanfang an einem komplett anderen Standort dabei. Du kannst nur hoffen, dass der Disponent Verständnis hat und menschlich handelt.

Waren Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?

Ja, ich war zufrieden, weil ich Busfahrer sein konnte, auch wenn es auf alle Fälle stressig war. Am Arbeitsplatz war ich nicht einmal ein Jahr, dann bin ich sowas wie Betriebsrat geworden. Meine Frau hat mich so gut wie überhaupt nicht mehr gesehen. Die Arbeitszeiten sind familienfeindlich, sage ich mal. Du bist zwar im Betrieb anerkannt und beliebt und passt mehr oder minder alles, aber zu Hause hast du Stress, weil du mitbekommst, irgendwas hat’s, weil das passt nicht mehr zusammen, du müsstest mehr zu Hause sein und so weiter. Ja, das ist ein Vor- und Nachteil eines Buslenkers. Eigentlich war ich happy, dass ich endlich einmal meine Kompetenz zeigen konnte.

Was sieht die Öffentlichkeit nicht?

Da fällt mir dazu ein, wir haben relativ viele Putzbereiche machen müssen, also Tanken und Pflegen des Busses. An meiner ersten Arbeitsstelle hat es eigene Tankwarte gegeben und die haben auch den Bus gereinigt, ausgekehrt und so weiter. Wie ich an einen anderen Ort gekommen bin, hat es das auch nicht mehr gegeben. Nein, das kostet was, hat es geheißen, der Buslenker ist nicht so blöd, der kann das ja selber auch machen. Natürlich kann er das auch machen, aber was ist dabei zu beachten? Nicht nur, dass die Lenkpause meistens kürzer wird, wenn er Verspätung hat, aber das gehört zu einem Bereich, was die meisten Fahrgäste gar nicht gewusst oder geahnt haben. Du hast vor allen Leuten beim Busbahnhof ausgekehrt, es hat furchtbar gestaubt.

Was wünschen Sie sich von der Politik für Ihren Beruf?

Mehr Wertschätzung gegenüber den Buslenkern, weil sie unterbezahlt werden, dann ist es vorgekommen, dass viele in den Krankenstand gegangen sind. Oder gleich am Anfang, vor ungefähr 20 Jahren, dass sie wieder retour gegangen sind zum alten Beruf, zum LKW-Fahrer, zur Mischmaschine oder ähnliches, weil es finanziell fast kein Unterschied mehr war. Ich habe gefühlt zehnmal so viel Verantwortung, weil da hinten sind als LKW-Fahrer Schottersteine oder Pflastersteine. Die tun sich normalerweise nicht weh, das ist egal, wie schnell ich in die Kurve fahre. Höchstens, wenn es zu schnell ist, dass er umkippen würde, aber das ist ja der Ausnahmefall. Bei den Fahrgästen, wie ich eingeschult wurde, hat es immer geheißen, im Bus hast du volle Verantwortung, was drinnen passiert. Das ist, wie gesagt, das Credo gewesen, im Bus bist du hundertprozentig verantwortlich. Ich wünsche mir, dass diese große Verantwortung, die der Lenker jeden Tag übernimmt, mehr anerkannt wird.

Außerdem möchte ich, dass nicht nur die Kundenwünsche, sondern die Lenkerwünsche mehr berücksichtigt werden. Am Ende des Tages hat es geheißen, wir werden bei der nächsten Ausschreibung, alle drei, vier bis fünf Jahre ist eine neue Ausschreibung, wieder dabei sein und können wieder auf den Linien fahren. Nachher ist schon mitgeteilt worden, nein überhaupt nicht so, ihr könnt euch mehr oder weniger auf anderen Linien umschauen, andere Diensteinteilungen, nicht mehr am alten Standort. Weil die so wenig bezahlt haben, dass der Arbeitgeber gesagt hat, das ist so finanziell nicht relevant und uninteressant, dass wir gar nicht mehr mitgeboten haben. Und das  würde ich mir wieder zurückwünschen für die Kollegen. Weil früher hat es geheißen, so wie beim Kreisky, mir sind Schulden egal, Hauptsache keine Arbeitslosen. Und dass die Lenker zufrieden sind. Ja, was ist dabei herausgekommen? Die haben sich, wie gesagt, auf andere Linien umschauen müssen, unter anderen Arbeitgebern oder ähnliches mehr.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Berufs?

Es wird viel über selbstfahrende Autos und Busse geredet, in Japan, in Amerika, von mir aus; haben sie in Wien, glaube ich, auch schon ausprobiert, dass so kleine City-Busse, selbst fahren, aber es ist nichts draus geworden. Am Ende des Tages machen Buslenker auch Fehler. Ich will nicht sagen, dass das hundertprozentig alles fehlerfrei abläuft, aber da steht dann nachher irgendwann einmal der Roboter und weiß nicht, was vor ihm steht, und steht eine Stunde und glaubt, da ist ein Hindernis, dabei ist es nur ein Schatten oder ein kleiner Ast, der zu überwinden ist oder irgendetwas ähnliches. Also da hat es noch relativ viele Herausforderungen gegeben, dass das nicht geklappt hat. Sonst hätte sich das schon durchgesetzt. Das würde ich schon sagen. Außerdem werden viele Billigarbeiter aus den ehemaligen Ostblockländern herangezogen. Lohndumping wird ein immer größeres Problem werden.

VS 2025/6 – S. 8

 

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Friedrich Merz, der schwer Bewaffnete

Von Antonia Zarth

Nach jahrzehntelangem Machtkampf und zweitweisem Rückzug in die Privatwirtschaft ist es dem CDU-Politiker nun endlich gelungen, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Bis dahin war es ein steiniger Weg, der beinahe ins Nichts geführt hätte. Doch warum ist Merz selbst in den eigenen Reihen derart unbeliebt? Eine Rekonstruktion von Antonia Zarth.

 

Ein Raunen geht durch den Bundestag an jenem 6. Mai 2025. Eigentlich sollte alles in trockenen Tüchern sein. Der designierte Bundeskanzler steht fest, die Koalitionsverhandlungen mit der SPD waren erfolgreich, der jetzige finale Wahlgang der Parlamentsmitglieder scheint eine reine Formsache. Doch dann verkündet Julia Klöckner, die Sprecherin des Bundestages etwas, das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist: Von den benötigten 316 Stimmen für eine erfolgreiche absolute Mehrheit sind nur 310 zustande gekommen. Merz scheitert im ersten Wahlgang. Die große Koalition aus SPD und CDU, die insgesamt mit ihren 328 Stimmen quasi einstimmig den Wahlsieg im letzten Schritt bestätigen sollte, scheint tief gespalten. Sind ihm sogar Parteikolleg*innen in den Rücken gefallen?

 

Es ist ein Paukenschlag und eine Demütigung, die es in Österreich gar nicht geben würde. Während der Bundespräsident in Deutschland den Kanzlerkandidaten lediglich zur Wahl durch den Bundestag vorschlägt, wird dieser in Österreich direkt vom Bundespräsidenten durch den Auftrag zur Regierungsbildung ernannt. Der österreichische Nationalrat muss dieser Entscheidung nicht mehr zustimmen, kann allerdings jederzeit ein Misstrauensvotum fordern. Während Merz also auf eine zwingend erforderliche Mehrheit des Bundestages angewiesen war, um ins Amt gehoben zu werden, muss ein österreichischer Kanzlerkandidat nur eine faktisch mehrheitliche Zustimmung haben, die ein Misstrauensvotum ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich macht. Der letzte Wahlgang des deutschen Bundestages ist ein Charakteristikum einer dezidiert parlamentarischen Demokratie – die Volksvertreter*innen dürfen in einer letzten Instanz entscheiden, ob der vorgeschlagene Kandidat wirklich ihrer Ansicht nach dem Willen der Wähler*innen gerecht werden kann.

 

Umso bitterer die Niederlage, die trotz der Anwesenheit aller Abgeordneten aus SPD und CDU und der Zuversicht, mit einem Koalitionsprogramm nach erfolgreichen Verhandlungen die nötige Mehrheit zu erbringen, die Sitzung unterbricht. Stimmen werden laut. Zweiter Wahlgang in 14 Tagen? Neuwahlen wären eine Katastrophe, da sie vermutlich nur der AfD zu einem Plus an Stimmen verhelfen würden. SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil ist irritiert – es ist keine Liebesheirat aber wir hatten das doch so gut geübt mit dem JA-Ankreuzen! Gerüchte werden laut, dass sich Merz aufgrund seiner Ämtervergabe innerhalb der CDU Feinde gemacht hat, die sich als zu kurz gekommen sehen. Dabei beginnt dessen Geschichte der Unbeliebtheit schon sehr viel früher.

Bereits Ende der 1990er ist Merz eine feste Größe des ultrakonservativen Zweiges der CDU. Mit seiner Stimme gegen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen 1995 sowie gegen einen Gesetzesentwurf für den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe 1997 kristallisiert sich heraus, dass die Werte der bürgerlich-konservativen CDU für Merz bedeuten, den status quo beizubehalten und dementsprechend keinerlei Stärkung von Frauenrechten vorzunehmen. Zwar würde er heutzutage über die innereheliche Vergewaltigung anders abstimmen, allerdings offenbart seine Pöbelei gegen den Popanz der »feministischen Außenpolitik« der Außenministerin Annalena Baerbock zu Zeiten der Ampel-Koalition, dass es ihm ums Geld geht: »Sie können von mir aus feministische Außenpolitik machen, feministische Entwicklungshilfepolitik, können Sie alles machen, aber nicht mit diesem Etat für die Bundeswehr«, sagt er in der Bundestagssitzung vom 23. März 2022 und degradiert die Versuche, Vergewaltigung als Kriegswaffe zu kategorisieren, quasi zu einem Nischenthema. Ebenso kaltherzig und engstirnig zeigte er sich bereits 2000 bezüglich der – wie er es nannte – »sogenannten Homo-Ehe«. Er bezeichnet die Ablehnung einer Heirat gleichgeschlechtlicher Paare als »eine der wichtigsten, grundlegendsten Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes« – und natürlich vergisst er hierbei die freie Entfaltung der Bürger*innen als essentiellen Leitwert.

 

Doch dann schafft es Angela Merkel 2002, Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz zu entreißen und somit gleichzeitig Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU zu werden wird, bis sie 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wird. 2007 zieht sich Merz bis auf Weiteres aus der Politik zurück, 2009 verlässt er den Bundestag und wird Anwalt für Großkonzerne. Bei der Stadler Rail Group ist er Anteilseigner, durch deren Börsengang verdient er 2019 auf einen Schlag 5,7 Millionen Euro. Von 2016 bis 2020 ist er zudem im Aufsichtsrat des Vermögensverwalters BlackRock. Diese Tätigkeit, die oftmals lediglich in Nebensätzen erwähnt wird, muss in ihren Dimensionen nochmals hervorgehoben werden. BlackRock verwaltet ein Vermögen von 11,5 Billionen Dollar – fast das Doppelte von dem, was alle Deutschen besitzen. BlackRock ist beispielsweise einer der größten Investoren in fossile Brennstoffe und unterstützt einen Raubbau, der in Zeiten der immer deutlicher sichtbaren Folgen des Klimawandels einfach nicht mehr zu verantworten ist.

 

Merz ist also keinesfalls nur ein moralisch grauer Lobbyist, der Wirtschaftsgeschenke dankend annimmt und sich etwas dazuverdient. Er stellt sich hinter hyperkapitalistische Unternehmen und lässt sich vor deren Karren spannen. Laut CORRECTIV-Recherchen stimmt das CDU-Wahlprogramm für die Bundestagswahl im vergangenen Februar »teils wortgenau mit Forderungen der Chemie- und Metallindustrie überein«. Auch der Chemiekonzern BASF legt offen, dass Merz in seiner Zeit als Firmenanwalt Mandate übernommen hat. Merz arbeitete zum Zeitpunkt der BASF-Mandate für die Kanzlei Mayer Brown, die laut Aussage eines ehemaligen Kollegen Brücken zwischen Wirtschaft und Politik schlagen. Und wie es der Zufall will, ist ausgerechnet der weltweit größte Chemiekonzern BASF der größte Investor in den wiederum weltweit größten Vermögensverwalter BlackRock.

 

Somit stellt sich die Frage: Für wen macht Merz eigentlich Politik? Ist er ein Volks- oder ein Wirtschaftsvertreter? CORRECTIV betont, dass bei Merz ein »umgekehrter Drehtüreffekt« vorliege: Während andere Politiker*innen nach ihrer Politkarriere in die Privatwirtschaft wechseln, kommt Merz gerade aus dieser wieder zurück und könnte dezidiert ihre Ziele verfolgen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Mitglieder aus der – einst sich als Arbeiterpartei begreifenden – SPD einer Koalition trotz der Notwendigkeit einer neuen Regierung nicht widerstandslos zustimmen konnten. Ein weiterer entscheidender Punkt kommt in der ZDF-Nachrichten-Sondersendung »Mensch Merz! Der Herausforderer« 2024 zum Tragen. Während Merz Konzerne wie BASF vertrat und Millionen verdiente, haben Andere weiterhin Politik gemacht. Merz´ Rückkehr aus den Kommandohöhen des Kapitalismus ist für viele Politiker*innen, die sich nach wie vor mit den Problemen der deutschen Bürger*innen befasst haben, den Kontakt gesucht und oftmals den Konflikt gefunden haben, nachvollziehbarerweise ein rotes Tuch.

 

Auch in der jüngeren Vergangenheit hat sich Merz durch seine ungeschickte Ausdruckweise diskursiv immer mehr dem rechten Rand angenähert. »Kleine Paschas« und »Sozialtourismus« sind Unwörter, die in Interviews und Talkshows verwendet wurden und die eine Abgrenzung des bislang seriösen CDU-Konservatismus gegenüber der rechtspopulistischen AfD infrage stellen. Hinzu kommt, dass Merz die von ihm mehrfach betonte Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD am 29. Januar 2025 verwarf. Der Antrag für einen Gesetzesentwurf eines Fünf-Punkte-Plans der CDU/CSU zur Verschärfung der Migrationspolitik wurde mithilfe der Stimmen der AfD im Parlament beschlossen. Zwar wurde dieser wenig später als unzulässig wieder verworfen, allerdings handelte es sich dabei um einen beispiellosen Bruch: Vor allem die Forderung nach direkter Zurückweisung Schutzsuchender an den Grenzen widersprach nicht nur dem Asylrecht, sondern war als Antrag einer christlich-demokratischen Partei an Herzlosigkeit kaum zu überbieten. Von sämtlichen Parteien hagelte es scharfe Kritik, CDU-Urgesteine wie Michel Friedmann gaben ihren Parteiaustritt bekannt. Merz handelte trotzig, berechnend und nahm billigend in Kauf, die Demokratie nach seinen Vorstellungen zu untergraben. Den Umfragewerten tat dies jedoch keinen Abbruch.

 

Das Debakel des 6. Mai war dementsprechend nur vordergründig ein Schock. Friedrich Merz schaffte es schon in der Vergangenheit, mit Doppelmoral und Opportunismus zu glänzen. Die Frage, für wen ein Kanzler, der sich mit Privatjet und einem Vermögen in Millionenhöhe zum Mittelstand zählt, Politik macht, wird jedenfalls durch sein Tun beantwortet. Deutschland (wieder) zur führenden Militärmacht in Europa machen zu wollen, und mit unglaublichen Milliardensummen die Rüstungsindustrie zu füttern, spricht für eine unfassbar antisoziale bzw. asoziale militaristische Orientierung, die ihrer inneren Logik nach auf Krieg ausgerichtet ist. Aber damit ist er leider nicht der einzige in der deutschen Regierungsriege.

Quellen:

https://www.berlinertageblatt.de/Politik/445041-massive-kritik-an-merz-nach-annahme-von-antrag-zu-migration-mit-afd-unterstuetzung.html?utm_source=chatgpt.com

https://www.youtube.com/watch?v=FYAqvdloGDUhttps://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2025/01/28/bester-mann-der-grosskonzerne-das-lobby-netzwerk-von-friedrich-merz/

VS 2025/6 – S. 20

Bildquelle: KI-generiert

Die Mystik der Zahlen

Mit welchen Tricks die Kosten der Pensionen manipuliert werden

Von Michael Graber

Seitens der Regierung durfte ein 30jähriger Schnösel von den Neos die Maßnahmen präsentieren, mit denen sich die Regierung zwecks Budgetsanierung an den Pensionen schadlos hält. Das sei nur logisch, denn es stünden immer weniger Aktive einer wachsenden Zahl von PensionistInnen gegenüber.

Schnösel brauchen sich offenbar, auch wenn sie in höchste politische Positionen aufrücken, nicht mit Zahlen zu beschäftigen, ihr Wort soll einfach brutto für netto gelten. Ein Blick in das Statistische Handbuch der Österreichischen Sozialversicherung (2024) zeigt allerdings: Die sogenannte Pensionsbelastungsquote (Zahl der Pensionen auf je 1.000 Pensionsversicherte) ist in den letzten zwanzig Jahren gesunken, von 624 im Jahr 2004 auf 577 im Jahr 2023. Aber was solls?

Die staatlichen Aufwendungen zur Sicherung der Stabilität der Pensionen sind der Teil des Budgets, der die meiste und überwiegend unqualifizierte Kritik auf sich zieht. An dieser Kritik sind verschiedene Interessen beteiligt: Private Versicherungskonzerne und ihre Agenturen, Ökonomen, denen die »unproduktiven« Ausgaben ein Dorn im Auge sind und die überhaupt das umlagefinanzierte öffentliche Pensionssystem als Störfaktor für das Wachstum der Kapitalmärkte betrachten, und natürlich das politische Personal, das unter dem Vorwand, das Pensionssystem »enkelfit« machen zu wollen, dasselbe meinen.

Unproduktiv? Haben diese Kritiker jemals die »Produktivität« der Ausgaben für das Militär, die derzeit durch die Decke gehen, angeprangert? Was produzieren Soldaten? Was produzieren Panzer, Kanonen und Raketen? Während die Pensionen die Lebensgrundlage für zwei Millionen PensionistInnen darstellen, rosten die Waffen als totes Kapital nutzlos vor sich hin und fallen aus dem Wirtschaftskreislauf heraus.

Die »Pensionsaufwendungen des Staates« – ein Kampfbegriff

Der Begriff »Pensionsaufwendungen des Staates« ist ein Sammel-, letztlich ein Kampfbegriff der Neoliberalen jeglicher Couleur, der unterschiedliche staatliche Aufgaben unter diesem Titel zusammenfasst, die wiederum zum Großteil nichts mit dem eigentlichen Pensionssystem der Arbeiter und Angestellten zu tun haben. Damit wird versucht, das Pensionssystem als Kartenhaus oder unfinanzierbar hinzustellen. Doch davon weiter unten.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Pensionen der Arbeiter und Angestellten, das sind 85% aller Pensionen, zu 84% (2023) aus den Pensionsbeiträgen finanziert werden. Die Gruppe der Sozialversicherten – Aktive und PensionistInnen – zahlen sich die Pensionen in diesem Ausmaß selber. Die Pensionsbeiträge der Dienstgeber sind eigentlich Lohnbestandteile und ändern an dieser Feststellung nichts. Der Rest – 16% – sind seit dem Beschluss über das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), das seit 1956 in Kraft ist, die Ausfallshaftung des Bundes, die aus dem Budget abgedeckt wird, und beträgt derzeit (2023) rund sieben Mrd. Euro. Aus volkswirtschaftlicher Sicht versickern diese Mittel nicht in dunklen Kanälen, sondern fließen als Bestandteil der Einkommen der PensionistInnen in Form von Steuern zum Teil wieder an den Staat zurück.

Aber nicht nur dieser Teil. Letztlich fließen alle Pensionen in den Wirtschaftskreislauf ein und sind damit Bestandteil der Nachfrage-, Konsum- und Kaufkraft der Bevölkerung. Über den Weg der Mehrwertsteuer (10% auf Mieten, Energie, Lebensmittel und Medikamente, 20% auf Konsumgüter und Dienstleistungen) fließt also ein beträchtlicher Teil aller Pensionen zurück an den Staat. Die Pensionsausgaben der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) für die unselbständig Beschäftigten betrugen 2023 knapp fünfzig Mrd. Euro. Wir können daher zurecht davon ausgehen, dass der Steuerertrag aus diesen Ausgaben, die ja die Einnahmen der PensionistInnen darstellen, die sieben Mrd. Euro Ausfallshaftung des Bundes nicht nur kompensieren, sondern sogar übertreffen.

Es geht nicht ohne Tricks

Warum also trotzdem das Geschrei und die permanente Aufregung um die angebliche Unfinanzierbarkeit der Pensionen?

Hier wird für die Öffentlichkeit mit einigen Tricks gearbeitet. Der erste Trick besteht darin, diverse Milliarden Euro als Schreckgespenst in die Öffentlichkeit zu tragen, ohne diese aber in Bezug zu den Quellen zu setzen, aus denen sie finanziert werden. Zehn Milliarden Euro sind viel Geld, aber zehn Milliarden aus einem Topf von hundert Milliarden sind nur zehn Prozent, stehen also in einer Relation zum gesamten Topf. Inflationsbedingte Aufblähungen von Zahlen tragen ein weiteres Mal dazu bei, Horrorzahlen zu produzieren, wobei vergessen oder unterschlagen wird, dass auch der Topf, aus dem finanziert wird, inflationsmäßig wächst.

Zu unserem konkreten Beispiel: Setzt man den Staatszuschuss zu den Pensionen (die Ausfallshaftung des Bundes) von sieben Milliarden Euro in Bezug zu den Gesamtausgaben des Bundes von 115 Mrd. Euro (2023) , so stellt dieser lediglich etwa sechs Prozent der Ausgaben dar, und gemessen an der gesamten Wirtschaftsleistung (478 Mrd. Euro BIP) nur 1,5 Prozent. Das schaut schon anders aus als eine Horrorzahl.

Weiters ist zu berücksichtigen, dass sich der Eigenfinanzierungsgrad der ASVG-Pensionen in den letzten fünfzig Jahren von 74% (1970) auf knapp 86% (2023) erhöht hat. Der Staatszuschuss ist also in dieser langen Periode relativ im Verhältnis zum Pensionsaufwand dramatisch gesunken. Damit ist bewiesen, dass das Pensionssystem im ASVG für die über zwei Millionen PensionistInnen stabil und leistungsfähig war und ist, und das ohne überpropartional staatliche Mittel in Anspruch nehmen zu müssen. 

Der »Horror« – dreißig Milliarden

Noch einmal: Warum trotzdem das Geschrei um die Unfinanzierbarkeit der Pensionen?

Dazu muss man den zweiten Trick enthüllen, mit dem die staatlichen Kosten des Pensionssystems für die Öffentlichkeit manipuliert werden. In den Medien wird ständig behauptet, dass die Pensionskosten des Staates an die dreißig Mrd. Euro betragen und damit ein Viertel des Budgets ausmachen. Wir haben bereits gezeigt, dass der staatliche Zuschuss zu den ASVG-Pensionen lediglich sieben Mrd. Euro oder sechs Prozent des Budgets ausmacht. Woher kommt also die Zahl von »dreißig Mrd. Euro«?

1. Neben dem ASVG gibt es die Sozialversicherung der Selbstständigen und der Bauern. Deren Eigenfinanzierungsgrad beträgt lediglich fünfzig bzw. sechs Prozent. Da es in diesen Bereichen der Sozialversicherung keinen Dienstgeberbeitrag gibt, schießt der Staat für diese Bereiche entsprechende Mittel zu, damit die Versicherten zu ähnlichen Pensionsleistungen wie im ASVG kommen und damit Altersarmut vermieden oder begrenzt wird. Die jeweiligen Zuschusssummen betragen 2,2 Mrd. bzw. 1,9 Mrd. Euro.

2. Im öffentlichen Dienst gibt es keine Pension, sondern Ruhegenuss. Da es für Beamte keinen Dienstgeberbeitrag gibt, zahlt der Staat diese mit den Ruhegenüssen aus.

Kosten der Beamtenpensionen: 12,8 Mrd. Euro. 

3. Als staatliche Maßnahme zur Bekämpfung von Altersarmut gibt es die Ausgleichszulage für PensionistInnen, deren Pension(en) den Richtsatz von derzeit (2025) 1.274.- Euro bzw. bei Partnerschaften im gleichen Haushalt 2009,85 Euro nicht erreichen. Davon profitieren etwa knapp zweihunderttausend PensionistInnen, das sind fast zehn Prozent aller PensionistInnen, und vor allem Frauen zu 80%. Die Kosten betragen 1,2 Mrd. Euro. 

4. Der Staat finanziert auch sonstige Rentenleistungen (etwa aus den Opfergesetzen) : 1,2 Mrd. Euro.

Summiert man alle diese Beträge, kommt man auf 26,3 Mrd. Euro, wovon allerdings nur 7 Mrd. dem tatsächlichen Zuschuss zu den ASVG-Pensionen entsprechen. Trotzdem werden angesichts dieser »horrenden« Summe Pensionsreformen gefordert, die aber in erster Linie die ASVG-Pensionen betreffen würden, obwohl dort die stabilsten Verhältnisse bestehen. Und dies auch über die letzten Jahre. Selbst unter Einbeziehung der Sozialversicherung der Selbständigen und Bauern bleiben die Zuschüsse für die gesamte Sozialversicherung – gemessen an den Budgetausgaben des Bundes – stabil:

2005….11,6 %

2010….13,1 %

2015….14,3 %

2020….12,8 %

2024….13,5 %.

Eine dramatisch angewachsene Budgetbelastung geht aus diesen Zahlen nicht hervor.

Ein ähnliches Bild zeigt die Entwicklung der Pensionsaufwendungen der Sozialversicherung, gemessen an der österreichischen Wirtschaftsleistung (BIP):

2011….16,3 %

2015….16,9 %

2020….18,2 %

2023….17,6%

Auch hier wird deutlich, dass es keine dramatische Entwicklung der anteiligen Belastung durch die Pensionsleistungen der Sozialversicherung am BIP gibt. In all diesen und den vorhergehenden Jahren gab es immer wieder die Behauptung, das Pensionssystem wäre instabilität und unfinanzierbar. Das Gegenteil war und ist der Fall. Daran zweifelt auch die sogenannte Pensionssicherungskommission, die von der Regierung eingesetzt wird, nicht. Sie geht von einer Stabilität des Pensionssystems auf Basis der demographischen Entwicklung bis 2070 aus.