Vergessene Teilzeit ILLUSTRATION: JAMIE WOITYNEK

Vergessene Teilzeit

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LGBTIQ+ Personen gehen oft Teilzeitarbeit nach. Die Gründe dafür sind vielfältig und selten nur selbstbestimmt. Von Zoe* Steinsberger

Mitte Feber musste Arbeitsminister Kocher hastig zurückrudern. Natürlich würden seine Vorschläge, die Sozial- und Familienleistungen für Personen in Teilzeitarbeit zu reduzieren, nicht auf Mütter mit Betreuungspflichten zielen, bemühte er sich zu betonen. Denn umgehend wurden Kochers Vorschläge als frauen- bzw. familienfeindlich kritisiert. Die Maßnahmen des Ministers würden dazu führen, dass sich die soziale Lage von Frauen weiter verschlechtert.

Doch bei all dem lauten und wichtigen Widerspruch ist auffällig, wie fast alle sozialpolitischen Akteur*innen in ihrer Kritik einer Perspektive folgen, die inter- und transgeschlechtliche Lebensrealitäten ebenso ignoriert, wie nicht hetero sexuell oder kleinfamiliär lebende Menschen. Eine solche Perspektive ist hetero-cis (also nicht trans*) und endo (also nicht inter*)-normativ. Denn während die Figur der implizit heterosexuell und cis-endogeschlechtlich gedachten Mutter im Zentrum der Kritik an den Bestrebungen Kochers stand, wurden LGBTIQ+ Personen übersehen.

Dabei weisen zahlreiche Erhebungen aus dem österreichischen und deutschen Raum darauf hin, dass LGBTIQ+ Personen deutlich seltener als hetero-cis-endo Personen vollzeiterwerbstätig sind. Eine Studie der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2018 kam zu dem Ergebnis, dass nur 60 Prozent der LGBTIQ+ Personen Vollzeitarbeit nachgehen. Eine Studie für den Deutschen Bundestag 2010 ermittelte, dass trans* Frauen und transfeminine Personen im EU Schnitt nur zu rund dreißig Prozent und damit deutlich weniger als cis Frauen Vollzeit lohnarbeiten.

Frei von Lohnarbeit

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen werden LGBTIQ+ Personen noch immer in der Lohnarbeit diskriminiert. In Branchen, in denen es wenige Vollzeitstellen gibt, erhalten sie diese nur selten. Zugleich finden sich LGBTIQ+ Personen überproportional häufig in Feldern, in denen Vollzeitstellen selten sind oder (schein-)selbstständige Arbeit die Regel ist, wie etwa Unterhaltung, Gastronomie, der Sozialbereich, Wissenschaft oder Kreativberufe. LGBTIQ+ Personen finden sich hier häufig, weil diese Branchen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität als eher offen und tolerant gelten.

Anders am Arbeitsplatz

Viele LGBTIQ+ Personen entscheiden sich angesichts von Diskriminierung in der Lohnarbeit auch selbst dafür, nicht Vollzeit lohnzuarbeiten. Außerdem geht für sie das Versprechen sozialer Teilhabe über Lohnarbeit häufig nicht auf. Die Entscheidung, in Teilzeit lohnzuarbeiten, ist dann sowohl der Versuch, sich einem diskriminierenden Umfeld zu entziehen und andererseits Zeit im Leben für Beziehungen zu schaffen, in denen sie Anerkennung erfahren. Denn während heteronormativ lebende Personen sich sicher sein können, in der Lohnarbeit von PartnerInnen und Kindern erzählen zu können und dafür anerkannt zu werden, ist dies für LGBTIQ+ Personen nicht der Fall. Privates mit Kolleg*innen zu teilen ist für sie stets mit der Gefahr von Diskriminierung oder zumindest Unverständnis für die eigene Lebenswelt verbunden.

Frei zur Pflege

Schließlich haben LGBTIQ+ Personen nicht nur wie cis-endo heterosexuelle Frauen ebenso elterliche Verpflichtungen oder kümmern sich um ältere Verwandte. Die fortdauernde gesellschaftliche Diskriminierung für LGBTIQ+ macht darüber hinaus ein Mehr an Selbstsorge und an fürsorglichen Beziehungen zwischen LGBTIQ+ Personen nötig. Diese können in Form von Partner*innenschaften organisiert sein, aber auch als WGs, intensive Freund*innenschaften und selbstorganisierten Gruppen. Gerade weil sie dabei den Entwurf eines kleinfamiliären Haushalts überschreiten und oft ohne gesellschaftlich etablierte Vorbilder entwickelt werden, benötigen sie Zeit, die eine Vollzeitbeschäftigung kaum erlaubt.

So bleibt Kochers Rede in neoliberaler Manier ignorant für die gesellschaftlichen, geschlechtlichen und sexuellen Herrschaftsverhältnisse, welche verunmöglichen, Vollzeitlohnarbeit nachzugehen. Es sind nicht nur die als hetero, cis und endo gedachten Mütter, die massiv von Kochers Ansinnen betroffen wären. Ebenso greifen Kochers Pläne auch LGBTIQ+ Personen an, weil deren Leben zwischen offener Feindlichkeit und subtiler aber doch struktureller Cis-Endo-Heteronormativät nicht in das Modell Voll-zeitlohnarbeit passen.

Zoe* Steinsberger (sie*/ihre*) ist transfeministische Aktivistin* und Wissenschaftlerin* und promoviert an der Universität Innsbruck zur Prekarisierung transfemininen Lebens und Formen des Widerstands und Umgangs damit.

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Gelesen 1346 mal Letzte Änderung am Dienstag, 11 April 2023 12:16
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