Demonstration in Minsk ( 30. August 2020) Daniel Schukovits Demonstration in Minsk ( 30. August 2020) FOTO © NATALLIA RAK/FLICKR
17 Oktober

WEISSRUSSLAND: »Nichts zu verlieren, als unsere Ketten«

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In Weißrussland (Belarus) finden seit Monaten Massenproteste gegen das Regime von Alexander Lukaschenko statt, der seit 26 Jahren autoritär regiert. Der Abschaffung demokratischer Rechte folgten auch neoliberale Reformen. Dass sich in Belarus auch eine linke Opposition formiert, bleibt im Westen meist unerwähnt. Im Interview mit der Volksstimme erzählt Pavel Katarzheuski (24), Mitglied des Zentralkomitees der Linkspartei »Gerechte Welt«, über die Entwicklung der Protestbewegung, über Gefängnis und Folter sowie über die Perspektiven der linken Opposition.

VON DANIEL SCHUKOVITS

Die aktuellen Massenproteste in Belarus dauern schon Monate an. Woher nimmt man die Kraft, fast täglich auf die Straße zu gehen?

PAVEL KATARZHEUSKI: Eigentlich haben die Proteste Mitte Mai begonnen, als die Wahlen vorbereitet wurden. Die heiße Phase kam dann mit dem Wahltag. Sicher waren die absurden 80 Prozent für Luka­schenko ein wichtiger Grund. Aber hier hat es auch einen Umschlag von Quantität in Qualität gegeben. Mit seinem Amtsantritt hat Lukaschenko damit begonnen, demo­kratische wie soziale Rechte zu zerstören. Mitte der 2000er-Jahre wurden benachtei­ligte Gruppen wie Studierende, Pensionist:innen oder auch die Liquidator:innen, die in Tschernobyl im Einsatz waren, ihrer Zuschüsse beraubt. Zudem wurde ein Kurz­zeit-System bei Arbeitsverträgen einge­führt, das an Sklaverei erinnert. Hinzuge­kommen ist der Versuch, Arbeitslose zu bestrafen. Zwar ist ein großer Teil der Wirtschaft in Staatseigentum – das aber von einer Bürokratie verwaltet wird, die mit dem Regime verbunden ist. Der Lebens­standard ist immer weiter gesunken und es gibt keine Möglichkeit, das zu verhindern. Mit den Worten von Marx und Engels gesagt, haben die Menschen nichts mehr zu verlieren als ihre Ketten.

Auch der Polizeiterror darf nicht uner­wähnt bleiben. Nach aktuellem Stand sind fünf Demonstrant:innen getötet worden, viele sind verschwunden. Laut UN gab es mehr als 500 Fälle von Folter. Doch das sind keine vollständigen Zahlen, weil viele Betroffene keine Beschwerde einreichen. Das System will, dass man stillhält, sonst wird man bestraft. Sollten die Proteste auf­hören, würde sich die Repression verschär­fen. Wir müssen gewinnen, um unsere Frei­heit, unsere Rechte und auch unsere Leben zu verteidigen. Nur so können wir uns wei­ter frei bewegen, ohne Angst haben zu müssen.

Du warst wie viele Demonstrierende im Gefängnis. Kannst du von deinen Erfah­rungen in der Haft berichten?

PAVEL KATARZHEUSKI: Ich war mit Genoss:innen auf dem Weg zu einer Demo, als ich festgenommen wurde. Eigentlich war es keine Festnahme, sondern Kidnap­ping. Leute in schwarzen Sturmhauben ohne Abzeichen haben uns in einen Klein­bus ohne Nummernschild gezerrt. Sie droh­ten uns mit dem Tod, verlangten, dass wir unsere Handys entsperren und sagten, sie würden uns sonst die Finger brechen. Nachdem wir bereits dort geschlagen wur­den, haben sie uns in eine Polizeistation gebracht. Dort wurden unsere Hände am Rücken gefesselt, wir wurden auf den Boden geschleudert. Bei vielen waren die Hände so abgeschnürt, dass sie schwarz wurden. So mussten wir im Freien zwölf bis vierzehn Stunden mit Gesicht auf dem Boden liegen. Man verprügelte alle, die ver­suchten, zu sprechen. Ein Mitgefangener mit Behinderung, der nach einem Arzt fragte, wurde so lange geschlagen, bis er verstummte.

Später wurden wir in einem überfüllten Haftwagen in das Gefängnis von Zhodino gebracht. Der Wagen heizte sich so auf, dass ein Mitgefangener kollabierte. Sie haben ihn rausgeholt und ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Im Gefängnis war es insofern besser, weil wir nicht geschla­gen wurden. Sicherlich waren die Bedin­gungen grauenhaft. Wir waren 24 in einer Zelle mit acht Betten, das Essen war furcht­bar und es gab kaum Sanitäreinrichtungen. Die meisten Mitgefangenen waren interes­sante und nette Menschen, die nur durch Zufall festgenommen wurden. Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, am Weg in die Arbeit einfach gekidnapped, geschlagen und ins Gefängnis gebracht zu werden?

Das Schlimmste war aber, dass es keinen Kontakt nach draußen gab. Primär dachte ich an meine Familie, an die Genoss:innen, die uns in Krankenhäusern, Polizeistationen und Leichenhallen suchten. Später wurde ich in einem Schnellverfahren zu fünf Tagen Haft verurteilt. Als ich herausgekommen bin, war ich erstaunt, dass die Proteste auch zu Streiks geführt haben. Vor dem Gebäude warteten Taxis, die Freigelassene kostenlos befördert haben. Ich bin dann in ein Kran­kenhaus gefahren, um meine Verletzungen zu dokumentieren. Was ich dort gesehen habe, werde ich nicht so schnell vergessen: Junge Menschen mit Gesichtern, die schwarz angeschwollen waren, viele im Rollstuhl. Dort erfuhr ich, dass ich mit dem Gefängnis in Zhodino Glück gehabt hatte. Im Gefängnis in Minsk wurden den Leuten die Knochen gebrochen, viele wurden mit Schlagstöcken vergewaltigt. Einige, die dort im Gefängnis waren, haben das Tageslicht nie wieder gese­hen.

Erzielen die repressiven Maßnahmen dei­ner Ansicht nach den gewünschten Effekt? Lassen sich die Menschen einschüchtern?

PAVEL KATARZHEUSKI: Die Gewalt hat die Proteste weiter befeuert. In Fabriken kam es zu Widerstand und die spontane Bewegung »Frauen in Weiß« hat sich gegründet, die »Ketten der Solidarität« an den Straßen organisiert. Viele frühere Anhänger:innen von Lukaschenko haben sich aufgrund der Gewalt vom Regime distanziert.

Hat sich im Laufe der Zeit etwas an den Protesten und ihrer Zusammensetzung verändert?

PAVEL KATARZHEUSKI: Seit den 1990er Jahren hat sich jetzt erstmals die Arbeiter:innenklasse wieder zu Wort gemel­det. Während der Protest anfangs eher abs­trakt war, führte der Terror dazu, dass die Industriearbeiter:innen zu einem Motor des Protests geworden sind. Dazu kommen auch Gruppen, die bisher als »Rückgrat des Regimes« gegolten haben. Viele der Streik-Komitees wurden aber zerschlagen, und jetzt herrscht ein Gefängnisregime in den Fabriken. Trotzdem geht der Widerstand weiter. Hervorheben möchte ich einen Hel­den dieser Tage: Der Minenarbeiter Yuri Korzun hat sich in einer Tiefe von 300 Metern angekettet und wird erst wieder herauskommen, wenn Lukaschenko zurückgetreten ist. Was die offiziellen Gewerkschaften angeht, so verteidigen sie nicht die Arbeiter:innen, sondern die Unternehmen. Unabhängige Gewerkschaf­ten sind sehr schwach, eine Folge ihrer Ein­schränkung. Jetzt unterstützen sie den Kampf gegen die Diktatur.

In den westlichen Medien werden die Proteste als liberales Phänomen darge­stellt, während das Regime von Luka­schenko teilweise als kommunistisch beschrieben wird. Wie würdest du die Stellung der linken Opposition beschrei­ben?

PAVEL KATARZHEUSKI: Entgegen der Berichterstattung haben Personen wie die Kandidatin Svetlana Tikhanovskaya kaum Einfluss. Der Protest ist dezentral und selbstorganisiert. Menschen unterschiedli­cher politischer Meinung, auch Unpoliti­sche, beteiligen sich. Sie fordern lediglich Neuwahlen und ein Ende des Autoritaris­mus. Das Regime lässt sich kaum als »kom­munistisch« einstufen, nachdem es sämtli­che soziale und demokratische Rechte zer­stört hat. Lukaschenko hat bereits 1996 das Parlament ausgeschaltet, dem eine große kommunistische Fraktion angehörte und hat im Prinzip das gleiche wie Jelzin in Russland gemacht. Nur ohne Panzer, dafür aber mit der Festnahme und Ermordung politischer Gegner:innen. Dabei setzt er auf eine gewisse Sowjet-Nostalgie, um ältere Wähler:innen zu halten. Unsere Partei wurde damals durch ein Manöver von Lukaschenko gespalten, der später die Gründung einer regimetreuen KP veran­lasste. Diese unterstützt das Regime und fungiert als dessen Propaganda-Instru­ment. Aus diesen Gründen hat sich meine Partei zur Linkspartei »Gerechte Welt« umbenannt.

Wie steht deine Partei zur Verwendung der weiß-rot-weißen Flagge bei den Pro­testen? Ist das nicht auch ein Anknüpfen an die bürgerliche Opposition zu Zeiten des realen Sozialismus und an die Zeit der Nazi-Besatzung?

PAVEL KATARZHEUSKI: Die weiß-rot-weiße Fahne wird oft als Symbol des Natio­nalismus, Antikommunismus, fast schon als faschistisch angesehen. Historisch gesehen, war die Flagge 1917 ein sozialdemokrati­sches Symbol. Aber es gibt auch eine dunkle Seite: Diese Fahne wurde vom NS-System genutzt und war direkt nach dem Ende der UdSSR Staatsflagge. Seit Mitte der 90er Jahre gilt sie eher als liberales und nationales Symbol. Ich lehne eine Ände­rung der Staatssymbole jedenfalls ab und werde so eine Fahne niemals tragen. Aber ich bin auch froh, dass sich die Bedeutung dieser Farben verändert hat und dass sie jetzt auch ein Symbol der Demokratie und des zivilen Ungehorsams sind.

Steuert Belarus, sofern die Proteste erfolgreich sind, auf eine neue Republik zu? Welche Perspektiven könnten sich dabei für das Spannungsverhältnis zwischen Russland und der EU erge­ben?

PAVEL KATARZHEUSKI: Die Proteste haben keinen geopolitischen Charakter. Auf den Demos gibt es weder anti- noch pro-russische Slogans. Dasselbe trifft auch für die EU zu. Es stimmt aber, dass man sich mit den Protesten in Sibirien solidarisiert hat. Die Menschen in Weiß­russland und Russland haben gemein­sam gegen den Faschismus gekämpft, und jetzt kämpfen sie gemeinsam gegen bonapartistische Diktaturen, das ist sehr inspirierend. Im Falle eines Sieges der Proteste wäre ein neutraler Status für Belarus die beste Lösung, die Neutralität ist bereits in der Verfassung angelegt.

Österreich ist derzeit der zweitgrößte Investor in Belarus, das Unternehmen A1 kontrolliert einen großen Teil des Kommunikationssektors. Kannst du etwas über die Rolle von A1 bei den Internet-Sperren berichten?

PAVEL KATARZHEUSKI: Sie haben zugegeben, dass sie nach Aufforderung der Regierung das Internet abgedreht haben. Immerhin hat A1 die Kunden für den Ausfall entschädigt und sich offiziell entschuldigt. Am Rande erwähnt, nutze ich ebenfalls diesen Anbieter.

Wie können die Europäische Linke und die fortschrittlichen Parteien in der EU euren Kampf unterstützen?

PAVEL KATARZHEUSKI: Liebe Genoss:innen, ihr habt mit euren Solida­ritätserklärungen bereits viel getan. Die »linken« Unter stützer:innen des Regimes schädigen die linke Opposition enorm. Die Leute protestieren gegen die Repression, gegen Mord und Wahlfäl­schung, und manche »linke« Partei übt dann Kritik daran. Das diskreditiert doch die Linke in den Augen der gesam­ten Bevölkerung. Der Antikommunismus beginnt immer auch damit, wenn die Linke rebellierende Arbeiter:innen ver­rät, dafür gibt es viele historische Bei­spiele. Erzählt euren Freund:innen und Genoss:innen, was in unserem Land pas­siert. Ich danke euch jedenfalls für eure Solidarität!

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