BUCHTIPP: Kochemer Netze

von

Ein Buch, das sich mit den historischen und zeitgenössischen Facetten des Vagabundierens in Wien beschäftigt.

Die beiden Herausgeber:innen dieses Bandes, Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic, beschäftigen sich seit langem mit historischen und kulturwissenschaftlichen Erkundungen gelebter politischer Devianz. Sie gehören, wie einige Autor:innen des textlich vielfältig und graphisch ansprechend gestalteten Buches, zum Papiertheater Kollektiv Zunder, das libertär-emanzipatorische Figuren aus der Geschichte in die Gegenwart holt und in den öffentlichen Raum zurückbringt.

Die kluge Kompilation von Texten bietet ungewöhnliche Einblicke in der Arbeit von Historiker:innen wie Georg Fingerlos, der die Recherche in Archiven mit praktischen Erkundungen verbindet. Für seinen abschließenden Beitrag über die Warden (Wardanieri), lief er den Weg von Wien-Mauer bis zur italienischen Grenze, »um nachzuempfinden, wie es jenen 156 arbeits- und obdachlosen Menschen erging, die im Mai 1928 von Mauer aufbrachen«, ihre Zelte und Hütten in der Lobau, das trostlose Wien ohne Zukunftsperspektive, verließen, um nach Äthiopien auszuwandern. Den Warden war die mediale Aufmerksamkeit gewiss und in den Beschreibungen werden einige zeittypische Bilder ebenso bemüht wie die ambivalente Rezeption, die bis heute den Begriffen und Akteur:innen der Migration, dem Nomadischen, dem Umherschweifen, Vagabundieren, Flanieren, den Passant:innen, Kunden und Tippelschicksen entgegengebracht wird.

Peter Haumer und Andreas Pavlic bezeichnen ihre Erkundungen über die Vagabondage in Wien als historischen Parcour, denn zwischen den Polen »Romantisierung« und »Abwertung« gibt es nicht nur Hunderttausende, die zeitweilig auf der Straße lebten und manche, die Berühmtheit erlangen, wie Jo Mihàly oder Hugo Sonnenschein (Sonka), sondern auch politische Hoffnungen, die sich an den »Fünften Stand« hefteten oder ein »Lumpenproletariat« fixierten, das sich jeglicher Organisierung verwehrt. Die Differenzen lassen sich nicht nur mit Mühsam und Marx benennen, sondern auch mit Gregor Gog, dem »Anarchisten der Landstraße«, der noch in seiner Eröffnungsrede am Internationalen Vagabundenkongress 1929 in Stuttgart die Losung »Generalstreik ein Leben lang« proklamierte und seinen kurz darauf entdeckten Sympathien für die Sowjetunion versus Hugo Sonnenschein, expressionistischer Dichter, der exemplarisch für ein Verständnis von Kommunismus als »freier Vereinigung von Menschen« steht. Sonka schreibt: »Vagabund sein, heißt klassenlos sein und nicht Lumpenproletarier. Fliegendes Element über den Klassen. Freude, Sprung und Flug, nicht ranzige Moral.«

Die Möglichkeiten mit Musik und Tanz dem Vorwurf der Bettelei zu entgehen, aktualisieren Maren Rahmann und Georg Rosenitsch; Lisa Bolyos betrachtet die Geschichte der Wiener Straßenzeitung Augustin (gegr. 1995) von fünf verschiedenen Seiten und verweist dabei auch auf einige zentrale Grundsätze des kritischen Journalismus, darunter: Er darf auf keinen Fall moralisieren.

Mit ihrem Beitrag »Routen der Subversion« unternimmt Eva Schörkhuber zu Beginn theoretische Streifzüge, worin die Voraussetzungen der titelgebenden Kochemer Netze reflektiert werden und der »Widerstand gegen die Einhegungen von Grund und Boden, von Körper und Geist« als Auswirkungen der ursprünglichen Akkumulation (Silvia Federici) bis zu Audre Lordes Erkenntnis weisen: The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House. Um den Band mit all seinen historischen und aktuellen Facetten zu genießen, eine große Leseempfehlung!

Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien. Hg. v. Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber. Wien: Sonderzahl 2022, 28 Euro

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Gelesen 1763 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 19 Oktober 2022 18:24
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