Commons queeren Jens Bogena
05 Mai

Commons queeren

von

Commons teilen Macht – und wie? fragt Utta Isop

 

Macht teilen

Macht zu teilen bedeutet, dass verschiedene Lebensformen ausreichenden und gleichen Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen und Gestaltungsspielräumen haben. Diese alltäglich gelebten Praktiken sind entscheidend dafür, dass immer wieder neu entstehende, unterschiedliche Herrschaftsstrukturen präventiv begrenzt werden.

Was sind Commons?

Commons stellen Versuche dar, Macht und Eigentum zu teilen. Welche gesellschaftlichen Alltagspraktiken schlagen Commons vor? Die verschiedenen Ansätze zu Commons erarbeiten auch verschiedene Praktiken. Beispiele für bereits heute gelebte, sehr bedeutsame Praktiken von Commons sind: Wikipedia, Freiwillige Feuerwehr, sogenannte »Ehrenamtliche Tätigkeiten«, Vereinstätigkeiten und vieles mehr.

Besitz statt Eigentum & beitragen statt tauschen

Friederike Habermann beispielsweise fokussiert in ihrer Theorie zu »Economy« auf zwei gesellschaftliche Praktiken: »Besitz statt Eigentum: bei Commons zählt, wer etwas tatsächlich braucht und gebraucht, und nicht das Recht zum Ausschluss anderer oder zum Verkauf« und auf »Beitragen statt Tauschen: tätig werden aus innerer Motivation – bei gesichertem Ressourcenzugang«. Sie bezieht sich bei diesen beiden Praktiken auf den Satz von Karl Marx: »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Die Praxis »Besitz statt Eigentum« verhindert die Akkumulation von Eigentum und begrenzt dadurch die Ausübung von Macht durch Eigentümer*innen. Die Praxis »Beitragen statt Tauschen« verhindert das Dominant-werden von Märkten und begrenzt dadurch die Macht von Händler*innen. Durch welche Praktiken aber wird der »gesicherte Ressourcenzugang« für alle tatsächlich gesichert? Hier benötigen wir zusätzliche Praktiken.

Macht durch Identität und Gruppenzugehörigkeit

Dieser »gesicherte Ressourcenzugang« für alle wird durch Identitäten, dominante Kollektivsubjekte und Gruppenzugehörigkeiten bedroht. Hier sprechen wir von der Ausübung von Macht durch Geschlecht, Herkunft, Alter, Ethnie, Religion, Arbeitsteilung, Spezies, Behinderung und vieles mehr. Mit Hilfe welcher Praktiken begrenzen wir die Ausübung von Macht durch Männer, Familien, Netzwerke, Dynastien, Clans, Regionen, Religionen, Tätigkeitsbereiche, Institutionen, Lebensformen? Friederike Habermann zitiert hier David Graeber: ›Die Logik der Identität ist immer und überall mit der Logik der Hierarchie verwoben‹, warnt David Graeber nach einer kurzen Darstellung, wie Kastensysteme entstehen.« Und weiter zitiert sie: »Und wie kam es nach Graebers anthropologischer Darstellung zu den Kastensystemen? Durch sich institutionalisierende Arbeitsteilung, welche sich zu Identitätskategorien verfestigten.« Habermann schlussfolgert daraus: »doch die freie Wahl dessen, womit sich ein Mensch in dieser Welt verwirklichen möchte, bleibt eine fundamentale Grundlage einer queeren, einer emanzipatorischen Gesellschaft.« (Habermann 2016, 167f.)

Losen von Arbeit und politischen Tätigkeiten

Es sind zusätzliche Praktiken nötig, die das Verfestigen von Identitäten in Tätigkeiten, in Bedürfnissen, in Fähigkeiten, in Selbstverwirklichung, in Beziehungen, in der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und deren Interessen, Orten, Generationen, Religionen öffnen und vermitteln. Es reicht nicht aus, die Beziehungsprozesse des Eigentums und des Marktes zu begrenzen, um die Machtakkumulation bei bestimmten Gruppen in Gesellschaften zu begrenzen. Um die unterschiedlichen Gruppen in Gesellschaften strukturell zu öffnen, schlage ich eine Praxis des Zufalls in Form des Losens von sozialen Positionen, von Arbeits- und/oder Tätigkeitsfeldern und politischen Positionen vor. Der Vorschlag, nicht nur wie bei Bürger* innen-Rät*innen Delegierte für politische Repräsentationsfunktionen zu losen, sondern gerade auch die Positionen in Tätigkeitsfeldern, die meist den Zugang zu zentralen Ressourcen in Gesellschaften regeln, zu losen, zielt darauf ab, Identitäten zu queeren, Perspektiven zu wechseln, Interessen und Konflikte zu vermitteln. Warum sind solche Praktiken zum Queeren von Identitäten nötig? Weil das Ausüben von Tätigkeiten »nach Bedürfnissen und Fähigkeiten« tendenziell dazu führt, dass sich Identitäten verhärten, anstatt miteinander ins Gespräch zu kommen.

Bedürfnisse und Fähigkeiten der einen und der anderen

Die Bedürfnisse und Fähigkeiten der einen Gruppen und Lebensformen entsprechen wahrscheinlich nicht den Bedürfnissen und Fähigkeiten anderer Gruppen, Gesellschaften und Lebensformen, wie viele historische Ereignisse zeigen. Die Bedürfnisse und Fähigkeiten aktueller menschlicher Gesellschaften wirken mörderisch auf die unzähligen Pflanzen- und Tierarten, die dadurch zum Aussterben gebracht werden. Wir benötigen alltägliche Praktiken, um diese Konflikte imperialen Lebensstils nicht tödlich enden zu lassen. Eine davon könnte eine Praxis des Losens und des Zufalls beim Zugang zu Ressourcen, Arbeiten, Institutionen, Entscheidungsfunktionen sein.

»Vier in einem Losen«

Über die Konzepte der Organisationalen Demokratie und der Wirtschaftsdemokratie hinausgehend schlage ich demokratisierende Praktiken im Alltag vor, an das Konzept von Frigga Haug »Die-Vier-in-einem- Perspektive« und Friederike Habermann anknüpfend. Die Zugänge zu wichtigen Ressourcen und Institutionen sollen nicht der »freien Wahl nach Bedürfnissen und Fähigkeiten« überlassen werden, da damit die Ausbildung von Klassengesellschaften einhergeht. Mächtige Netzwerke zeigen ihren Mitgliedern und Jugendlichen das Begehren nach diesen Zugängen, die anderen Kindern, Jugendlichen und Menschen ohne Beziehungen zu mächtigen Netzwerken nicht gezeigt werden. Wie wir durch das Studium der Subjektkonstitutionen und des Begehrens wissen, orientiert sich die »freie Wahl« der Subjekte und die Konstruktion von Bedürfnissen und Fähigkeiten sehr an dem Kontext, der gesellschaftlich erwartet und zur Verfügung gestellt wird. »Klassistisch« gesprochen werden Akademiker* innen-Kinder aus »freier Wahl« Akademiker*innen und Arbeiter*innen-Kinder aus »freier Wahl« Arbeiter*innen mit ein paar Ausnahmen. So schlage ich in Analogie zu Frigga Haug eine habituelle Tätigkeitsstruktur von »Vier in einem losen« vor:

1 »Tun, was alle brauchen«: geloste Gesellschaftsarbeit

Das, was wir jetzt als »Lohnarbeit« bezeichnen, wird dann gelost, damit die Zugänge zu bedeutsamen Ressourcen und Institutionen per Zufall über gesamte Gesellschaften verteilt werden. Für diese gelosten Tätigkeiten oder Gesellschaftsarbeiten wird ein Viertel des Tages veranschlagt. Der Einsatz des Loses hilft Identitäten zu queeren, Netzwerke zu öffnen, Traditionen zu verbinden, Bildung zu verallgemeinern und Zugänge zu bedeutsamen Ressourcen und einflussreichen Institutionen allen Menschen möglich zu machen und nicht nur solchen, die dies von sich aus wollen oder suchen. Bildung wird in völlig neuem Maße in Learning-by-Doing-Prozessen möglich. Diese Losprozesse sollen mehrmals in einem Menschenleben statthaben.

2 »Tun, was Interessensgruppen brauchen«: Willentlich gewählte und geloste politische Tätigkeit

Diese Tätigkeit stellt ebenfalls ein Viertel des Tages dar, da alltäglich Aspekte gemeinschaftlichen Lebens kontinuierlich auszuhandeln sind. Auch für politische Tätigkeiten ist es wichtig, etwa bei der Auswahl von Delegierten, die Praktiken des Losens einzusetzen, um die Akkumulation von Macht zu begrenzen. Hier kann die Tradition der Bürger*innen-Rät*innen hilfreich sein. Diese Prozesse sollen häufig in einem Menschenleben statthaben.

3 »Tun, was meine Lieben brauchen«: Willentlich gewählte Freundschaft, Sorge, Care, Pflege, Liebe

Ein Viertel des Tages steht Zeit für Pflege, Beziehungen und (Selbst-)Sorge zur Verfügung. Ein geloster Arbeitsplatz und zeitlich geloste Delegierte in den Regierungen verändern die Arbeitsteilung zu Hause. Zusätzlich werden gesellschaftlich begehrte Gratifikationen für diese Tätigkeiten vergeben.

4 »Tun, was ich brauche«: Willentlich gewählte Selbstverwirklichung

Auch stimme ich mit Friederike Habermann überein, dass Menschen ein Viertel ihres Tages benötigen, um sich selbst zu verwirklichen, beispielsweise in freien Verbindungen, Vereinen, Zusammenkünften, Netzwerken, usw.

Perspektivenwechsel – Konfliktvermittlung – soziale Mobilität

Zur Vermittlung von Konflikten in Gesellschaften sind Praktiken des Perspektivenwechsels und der sozialen Mobilität von Bedeutung. Es ist wichtig, dass ich mich in die Perspektiven anderer Lebensformen hineinversetzen kann. Das kann ich am besten, wenn ich selbst bereits mehrmals meine Perspektiven gewechselt habe. Dies als Teil selbstverständlicher und gewohnter Lebenspraxis in Gesellschaften kann zur Konfliktvermittlung beitragen.

Die große Zahl

Die große Zahl an Menschen und Lebensformen macht es bedeutsam, klar benannte und funktionierende Praktiken im Alltag gewohnheitsmäßig zu verankern, die ein Überleben von vielen verschiedenen Lebensformen sichern können. Es ist wichtig, Lebensstile des Alltags für Menschen zu finden, die die Anhäufung von Macht bei einigen Menschengruppen und bei der Spezies Mensch als imperialen Lebensstil zu verhindern, um ein langfristiges Überleben von Menschen und vieler anderer Spezies von Pflanzen und Tieren zu ermöglichen!

Bürger*innen-Rät*innen und die Lust an Hierarchien und Identitäten

Die aktuell wieder auflebende Praxis des Losens von Bürger*innen-Rät*innen beispielsweise für den Klimarat in Österreich kann »trotz aller Scheinpartizipation« ein Schritt auf dem Weg des Verlernens der Lust an Hierarchie und Identität von gro-ßen Kollektivsubjekten darstellen. Die Lust an Hierarchie und Identitäten kann in der Lebenszeit der Selbstverwirklichung frei gepflegt werden.

Der Zufall begrenzt Willen und Identität und schafft Commons

Die Begrenzung des Willens und der Kolonialisierung der Welt durch »unsere Identität« kann im Alltag in unterschiedlicher Weise in Gesellschaften gelebt werden. Vor allem aber ist es von Bedeutung, allen jenen Macht und Stimme zu geben, die durch dominante Lebensformen verdrängt und ausgelöscht werden! Praktiken des Zufalls können eine Form darstellen, um mächtige Kollektivsubjekte zu begrenzen und zum Überleben vieler verschiedener Lebensformen und nicht zuletzt der menschlichen selbst beizutragen. Das Sicherstellen von Zugängen für alle zu überlebenssichernden Ressourcen ist ein zentraler Inhalt des Commoning.

 

Utta Isop ist Philosophin und Geschlechterforscherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Geschlechterdemokratie, Bedingungsloses Grundeinkommen, Solidarische Ökonomie und soziale Bewegungen

http://uttaisop.at/

https://de.wikipedia.org/wiki/Utta_Isop

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