
Bildquelle: https://poldi.leopoldstadt.net/p/article181.html
Irma Schwager – eine jüdische Kommunistin?
Von Ernst Schwager
Als Irma in ihrem 95.Lebensjahr auch bei nichtkommunistischen Kreisen Anerkennung gefunden hatte und Standard und Profil über sie jeweils einen umfangreichen Artikel als Würdigung veröffentlicht hatten, war Irma trotzdem unzufrieden. Weshalb – so fragte sie mich – bezeichnen diese Artikelschreiberinnen mich als JÜDISCH? Die Juden sind doch zionistisch oder religiös oder sowohl zionistisch als auch religiös – aber ich bin doch weder das eine noch das andere, ich bin doch keine Jüdin!
Selbstverständlich hatte meine Mutter vor zehn Jahren (kurz vor ihrem Tod) jedes Recht, sich selbst zu definieren wie sie wollte. Trotzdem halte ich ihre Aussage für eine Schutzbehauptung, die ihr bei der Bewältigung ihrer äußerst herausfordernden Erfahrungen im 2.Weltkrieg in ihrem Gefühlsleben vermeintliche Sicherheiten bot. Meine persönliche Ansicht ist, dass die »Marginalisierten«, also die Juden, die weder zionistisch noch religiös sind, die große Mehrheit des Judentums darstellen (Kafka, Freud und Woody Allen sollen als Beleg für meine Ansicht dienen).
Die kommunistischen Widerstandskämpfer:innen jüdischer Herkunft waren in der KPÖ zahlreich vertreten, allein in der französischen Resistance nach Auskunft von Franz Marek ca. 180 Menschen, von denen mindestens 84 Folter und KZ und viele den gewaltsamen Tod erleiden mussten. Deshalb steht meine Mutter Irma als Beispiel auch für so viele andere Genoss:innen, wobei sie – zufällig – nie gefangengenommen oder gefoltert wurde.
Als ich ca. zehn Jahre alt war, besuchte uns mein Onkel Bruno Gugig aus Venezuela. Er hatte 1938 gerade noch nach Südamerika entkommen können, nachdem zuvor sein Textilgeschäft in Simmering geraubt (»arisiert«) worden war. Und zu meinem kindlichen Unverständnis äußerte Onkel Bruno sich gegenüber meiner Mutter: »Irma, bist du völlig meschugge geworden, dass du ins Land der Mörder zurückgekommen bist?« Die Antwort meiner Mutter erstaunte mich sehr: »Lieber Bruno, ich verstehe dich und deine Revanchegefühle von Hass und Zorn, aber wenn du auch ein bisschen auf deinen Verstand hören könntest, so musst du doch zugeben, dass wir, die Antifaschisten, diesen Krieg gegen Hitler gewonnen haben! Unsere Aufgabe ist es jetzt, in Österreich, Europa und weltweit demokratische Zustände herzustellen.« Und pathetisch fügte sie hinzu: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!«
In Österreich lebten 1938 ungefähr 200.000 Juden und Jüdinnen, von denen 180.000 in der Kultusgemeinde eingeschrieben waren. 60.000 bis 65.000 von ihnen sind ermordet worden. Die überwältigende Mehrheit der Überlebenden dachte so wie Onkel Bruno: Nie wieder ins Land der Mörder! Und die Überlebenden hatten nicht nur Hass- und Rachegefühle, sondern auch Trauer. Sie hatten zusätzlich auch Schuldgefühle, weil speziell viele ältere Menschen den Mördern nicht rechtzeitig entkommen hatten können, und nun vor allem die jüngere Generation der Emigrant:innen sich fragte, ob sie Mitschuld am Tod ihrer Eltern waren, weil sie sie vermeintlich »im Stich gelassen« hatten. Viele fragten sich: Warum habe ich überleben können und meine Angehörigen wurden ermordet? Manche der Überlebenden in Europa wie z.B. Primo Levi verübten noch Jahre danach aus Schuldgefühl Selbstmord.
Aber es gab gleichzeitig eine beträchtliche Anzahl von Jüdinnen und Juden, die schon 1945 nach Österreich gekommen sind: das waren die kommunistischen Mitglieder der ÖFF, der Österreichischen Freiheitsfront. Sie waren während des 2.Weltkriegs weltweit vernetzt. Von Schanghai über Buenos Aires, Bogota über New York und London bis Brüssel und Paris beeilten sich diese jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten nach Wien, um dazu beizutragen, das wiedererstandene Österreich antifaschistisch und demokratisch aufzubauen. Viele von ihnen traten der Kultusgemeinde bei und erhielten bei den ersten Wahlen die Mehrheit in dieser Institution.
Dabei hatten diese Mitglieder der KPÖ ebenfalls starke Hass- und Rachegefühle gegenüber den »Ex?«-Nazis sowie tiefe Trauer und Schuldgefühle gegenüber den ermordeten Verwandten und Bekannten. Aber es war für sie psychisch schwierig, gleichzeitig für ein neues, antifaschistisches Österreich einzutreten und im »Land der Mörder« politisch unter den tief von der Naziideologie beeinflussten Österreichern zu wirken.
Wie äußerte sich dieser Widerspruch bei meiner Mutter Irma? Sie behauptete, dass sie nie ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, weil sie ja aktiv gekämpft habe. Aber wie stand es mit ihren Gefühlen gegenüber ihrer Herkunftsfamilie, der Familie Wieselberg aus der großen Pfarrgasse 8 in der Leopoldstadt? Mein Großvater hieß Nuchim (= Nathan) und hatte eine Greißlerei nahe der Wohnung. Meine Großmutter hieß Lea (geborene Freud). Sie half in der Greißlerei und kümmerte sich um die vier Kinder. Der älteste war Artur, der zu Kriegsbeginn 1914 geboren war. Der zweite war der 1916 geborene Salo. Ihm folgte 1918 Oskar und 1920 kam Irma als Jüngste zur Welt.
Mein Großvater Nuchim wurde im Juni 1942 vom Sammellager in der Sperlgasse in der Mittagszeitszeit gemeinsam mit 1000 anderen Juden in den 3. Bezirk in den damaligen Aspangbahnhof gebracht und von dort nach Weißrussland ins Lager Maly Trostinec bei Minsk transportiert, wo er sofort erschossen wurde. Möglich ist auch, dass er in einem der großen LKWs mit Kohlenmonoxid ermordet wurde. Meine Großmutter Lea bekam im Schloss Hartheim in Oberösterreich eine tödliche Giftspritze. Mein Onkel Artur versuchte über Bratislava mit einem Schiff gemeinsam mit anderen österreichischen Jüd:innen über die Donau nach Palästina zu entkommen. Doch als die deutsche Armee Jugoslawien im Blitzkrieg besetzte, begann auch der heldenhafte Abwehrkampf der »Titopartisanen«. Laut Heeresbefehl wurden als »Sühnemaßnahme« für jeden gefallenen deutschen Soldaten 100 Juden, darunter mein Onkel Artur, ermordet. Da dies bei der Stadt Kladovo geschah, nannte man diesen Fluchtversuch Kladovotransport. Meinem Onkel Salo gelang die Flucht nach Frankreich. Von der Garde mobile wurde er gefasst und nach Auschwitz transportiert. Er überlebte die Auflösung dieses Lagers im Jänner 1945 und wurde auf dem Todesmarsch ins KZ Flossenbürg einen Monat vor Kriegsende getötet.
Meinem jüngsten Onkel Oskar und meiner Mutter gelang es, den Mördern zu entkommen. Überlebt haben also zwei von den sechs Mitgliedern der Familie Wieselberg. Nun kann sich jeder Leser und jede Leserin ein eigenes Urteil dazu bilden, was die Äußerungen von Irma, dass sie nicht jüdisch und kein Opfer sei, mit der harten Realität ihrer Herkunftsfamilie zu tun haben. Mit 95 Jahren gelang es meiner Mutter erstmals, bei der großen Gedenkkundgebung am Heldenplatz im Jänner 2015 über ihre eigene Herkunftsfamilie in der Öffentlichkeit zu reden. Unter starker Erregung sagte sie bloß: »Auch meine Familie war vom Naziterror betroffen.«
Aber ihre starken Gefühle brachen bei anderer Gelegenheit unkontrolliert durch. Sie erzählte mir einmal, dass ihr Vater Nuchim täglich zwischen drei und fünf Uhr früh zum Naschmarkt gefahren ist, um die Waren für sein eigenes Geschäft einzukaufen und in die Pfarrgasse zu bringen. Völlig unschuldig fragte ich: »Wie hat er das gemacht? Hat er einen Leiterwagen gehabt?« Mit zorniger Stimme schrie sie mich unvermutet an: »Bist du bei der Gestapo, dass du solche Fragen stellst? Willst du einen Ariernachweis kontrollieren?«
Über Persönliches aus der Vorkriegszeit konnte Irma kaum sprechen. Als sie einmal im Club 2 eingeladen war, fragte sie der Moderator Horst Friedrich Mayr: »Gnädige Frau Schwager, wie haben Sie persönlich den 12.März 1938 erlebt?« Stolz antwortete meine Mutter: »Die KPÖ hat noch am selben Tag ein Flugblatt verbreitet, in dem der Kampf gegen den ›Anschluss‹ und für die Unabhängigkeit Österreichs gefordert wurde!« Ich sagten ihr: »Er hat dich gefragt, wie du persönlich diesen Tag erlebt hast. Du hast erlebt, dass dein herzkranker Vater Nuchim im Sessel aus dem zweiten Stock auf die Straße zu den Reibepartien getragen wurde, damit er die Antihitlerlosungen wegwasche. Du hast erlebt, wie deine Mutter Lea aus Protest einen Blumenstock vom Fenster auf die Straße geworfen hat. Du hast erlebt, wie dein Bruder Oskar die Ärmel hochgekrempelt hat und gefragt hat, wo die Straße ist, die er waschen darf. Und schließlich hast du in der Taborstraße erlebt, wie man dich vom Fahrrad gerissen hat und dir den Kübel mit Lauge in die Hand gedrückt hat. Aus Protest hast du den Kübel auf die Straße geworfen und bist den verdutzten Männern davongefahren. Das alles hast du auf die Frage nach dem 12.März 1938 nicht erwähnt.« Irma antwortete mir: »Ernstl, wen interessiert schon so Persönliches!«
Die Appelle an die Vernunft und den Verstand, statt sich »von den Gefühlen mitreißen zu lassen«, habe ich nicht nur bei meiner Mutter, sondern auch bei einigen anderen (ehemals jüdischen) Genossinnen und Genossen beobachten können. Der österreichische Autor Robert Schindel hat diese Verhaltensweise treffend »das Wegassimilieren des Holocausts ins Österreichische« genannt. Wir Nachgeborenen, wir Kinder der Emigration, bilden eine »Schnittblumengeneration« Das bedeutet für mich: Wir haben keine Wurzeln. Die meisten der hunderten Kinder der Emigration haben nie in ihrem Leben die eigenen Großeltern oder zahlreiche Onkeln und Tanten erlebt. Diese sind nicht einfach »gestorben«, sondern wie Ungeziefer vergast worden. Die industriell betriebene Vernichtung war nur teilweise erfolgreich, deshalb wünschen sich die Kellernazi in ihren Songbooks »die siebte Million«. Nach deren Überzeugung ist das Heil auf der Welt dann gerettet, wenn sie »judendfrei« wird. Das hat mein Onkel Bruno aus Venezuela gemeint, als er vom „Land der Mörder“ gesprochen hat. Es gibt den Ausspruch »Schwer zu sein ein Jid!“«— für die österreichischen KP-Mitglieder aus jüdischen Herkunftsfamilien trifft diese Charakterisierung.