Das Ende des armenischen Bergkarabach

von

Von Thomas Schmidinger

Der letzte Angriff der aserbeidschanischen Armee auf den verbliebenen Rest der »Republik Arzach« dauerte nicht lange. Nachdem klar war, dass die Schutzmacht Russland nicht ihrer Funktion nachkommen würde, die sie nach dem Waffenstillstand vom November 2020 übernommen hatte, kapitulierte die international nicht anerkannte Republik am 20. September 2023 und stimmte der Entwaffnung ihrer Streitkräfte zu. In den folgenden Tagen übernahmen aserbeidschanische Truppen das Gebiet und fast alle Bewohner:innen der Region flohen in die Republik Armenien.

Jahrtausende armenischer Geschichte

Bergkarabach war seit über 2000 Jahren armenisch besiedelt. Nach der Islamisie­rung des Nahen Ostens konnte sich hier vom 9. bis zum 14. Jahrhundert mit dem Fürstentum Chatschen eine unabhängiges armenische Monarchie halten, die noch bis 1750 von den fünf armenischen Fürstentümern Golestan, Dschraberd, Chatschen, Waranda und Disak als persische Vasallen­staaten eine Fortsetzung fand. Im Gegen

satz zu den tiefer liegenden Tälern blieb das Bergland von Karabach auch nach der Turkisierung Nordwestpersiens weitgehend christlich-armenisch. Dies änderte sich auch nachdem Bergkarabach 1750 vom türkisch-tatarische Khanat Karabach erobert worden war, nur partiell für die neue Hauptstadt Shusha (aserbeischanisch) bzw. Shushi (armenisch). Um näher an den schwer zu kontrollierenden armenischen Berggebieten zu sein, verlegte der Herrscher des Khanats Panah-Ali Khan, seine Hauptstadt von NiederKarabach nach Berg­karabach.

Die Stadt sollte trotzdem einen großen Anteil armenischer Bevölkerung behalten. Nachdem die Region Anfang des 19. Jahrhunderts russisch geworden war, blieb die Stadt multiethnisch und multireligiös. Die Volkszählung von 1897 ergab für die Stadt 55,7 Prozent Armenier:innen, 41,6 Prozent Aserbeidschaner:innen und 1,4 Prozent Russ:innen. Armenisch-apostolische und russisch-orthodoxe Kirchen fanden sich ebenso in der Stadt wie schiitische Moscheen. Erst Ende März 1920 wurde ein Großteil der armenischen Bevölkerung in einem Pogrom ermordet und vertrieben.

Sowjetische Nationalitätenpolitik

In den Berggebieten um die Stadt hielten sich die Armenier:innen jedoch und so wurde nach der sowjetischen Übernahme des Transkaukasus schließlich die Konflikte zwischen muslimischen Aserbeidschaner: innen und christlichen Armenier:innen vorerst so gelöst, dass Bergkarabach 1923 zu einer armenisch dominierten Autono­men Oblast (Gebiet) Bergkarabach inner­halb der Aserbeidschanischen SSR wurde. Zwischen Bergkarabach und Armenien lag von 1923 bis 1929 der allerdings weniger autonome Oblast Kurdistan, der von teilweise bereits sprachlich an das Aserbeidschanische assimilierten Kurd:innen bewohnt war.

Diese Lösung sollte jedoch mit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr haltbar sein. Spätestens mit dem Pogrom von Sumgait am 27. Februar 1988, das zu einer Massenflucht von Armenier:innen aus Aserbeidschan führte, setzte sich bei den Armenier:innen von Bergkarabach die Forderung nach einer Unabhängigkeit von Aserbeidschan durch, die schließlich nach dem armenischen Sieg über Aserbeidschan im armenisch-aserbeidschanischen Krieg von 1994 auch de facto durchgesetzt werden konnte.

Republik Arzach

Armenien und die Truppen der neu etablierten aber international nicht anerkannten Republik Arzach kontrollierten nun allerdings ein Gebiet doppelt so groß wie das alte autonome Gebiet, und vertrieben nun ihrerseits die muslimische Bevölkerung der neu eroberten Gebiete. In diesen Jahren der militärischen Stärke verabsäumten es Armenien und die neue de-facto-Republik, eine Friedenslösung mit Aserbeidschan zu suchen. Das durch Erdöl- und Erdgasförderungen erstarkte Aserbeidschan versuchte hingegen, sich für die Rückeroberung der Region aufzurüsten.

Engster Verbündeter der autoritären Machthaber in Baku wurde dabei die Tür­kei. Unterstützung erhielt Aserbeidschan aber auch von Israel. Für die Freundschaft mit Israel wurden auch die aserbeidschanischen Bergjuden benutzt, deren Rabbiner zuletzt öffentlich für den Sieg der aserbei­dschanischen Truppen gegen Armenien beteten.

Armenien hielt sich hingegen lange an Russland als christlicher Schutzmacht und an den südlichen Nachbarn Iran, der trotz gemeinsamer schiitischer Religion nicht Aserbeidschan unterstützt, sondern sich tendenziell eher vor aserbeidschanischen Ansprüchen auf den Nordwestiran fürchtet, wo eine sehr große aserbeidschanische Minderheit lebt.

Opfer geopolitischer Verschiebungen

Versuche des 2018 an die Macht ge kommen armenischen Premierministers Nikol Paschinjan, sich von der einseitigen russischen Abhängigkeit zu lösen und sich Europa und den USA anzunähern, führten allerdings nicht zu einer westlichen Unterstützung, sondern nur zu einer Distanzierung Russlands. Mit dem russisch-ukrainischen Krieg konnte es sich das um freundliche Beziehungen zur Türkei bemühte Russland endgültig nicht mehr leisten, die Armenier:innen zu schützen.

Die Armenier:innen von Bergkarabach sind damit nicht nur ein Opfer Aserbei­dschans und eigener Fehler in den 1990er-Jahren, sondern auch geopolitischer Ver­schiebungen geworden. Eine Rückkehr der Geflohenen unter aserbeidschanische Herrschaft ist angesichts der traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit nicht vorstellbar. Immerhin hat Aserbeidschan bereits eine Straße in der neu eroberten Hauptstadt Stepanakert – nun aserbeidschanisch Khankendi – nach dem Kriegsverbrecher Enver Pasha benannt, der zu dem Hauptverantwortlichen des jung türkischen Genozids an den Armenier:in nen von 1915 gehörte und noch vom späten Osmanischen Reich dafür zum Tode ver urteilt worden war.

Humanitäre Katastrophe

Das internationale Desinteresse an der Situation spiegelt sich auch in der spärlich tröpfelnden humanitären Hilfe für die Region wieder. Am Samstag, den 7. Oktober meldete Armenien für insgesamt 136.000 Flüchtlinge einen Bedarf von 97 Millionen US-Dollar an dringendem Bedarf an die UN. Unter den Flüchtlingen sind nach armenischen Angaben über 30.000 Kinder und viele vulnerable Personen, wie Alte, Kranke oder Schwangere. Die Gesamtzahl von 136.000 Flüchtlingen setzt sich aus über 100.000 Flüchtlingen aus Bergkarabach und etwa 35.000 Personen zusammen, die bereits zuvor nach Armenien geflüchtet waren, darunter Staatenlose oder auch Flüchtlinge aus Syrien. Die EU hatte zunächst Ende September nur 5 Millionen Euro zugesagt, verdoppelte diesen Betrag jedoch am 5. Oktober am European Policy Community Summit in Granada mit weiteren 5,25 Millionen Euro Zusagen. Von den laut Armenien dringend benötigten Hilfsgeldern sind dies nun aber gerade einmal etwas mehr als 10 Prozent.

Das bitterarme Armenien, das deutlich ärmer ist als seine Nachbarstaaten, kann die humanitäre Katastrophe auf jeden Fall nicht alleine schultern. Wie eine lang fristige Lösung für die Flüchtlinge aussehen kann, steht noch mehr in den Sternen. Solange es keinerlei internationale Sicherheitsgarantien für Bergkarabach gibt, wird

niemand eine Rückkehr in ein unter aserbeidschanischer Souveränität stehendes Bergkarabach wagen. Ob das ökonomisch desolate Land in der Lage wäre, über 100.000 Flüchtlinge zu integrieren, ist fraglich. Asylangebote aus Europa, den USA oder Australien sind bisher allerdings keine bekannt.

Dabei könnte die Bedrohung für das verbliebene Armenien noch lange nicht vorbei sein. Aserbeidschan machte nie ein Hehl aus dem Ziel, einen Korridor zwischen der Auto ­nomen Republik Nachitschewan und dem Rest Aserbaidschans zu schaffen und damit auch Baku direkt mit der Türkei zu verbinden. Ein solcher Korridor wäre aber nur auf Kosten Armeniens oder Irans möglich. Die etwa 44 km lange Grenze zwischen Armenien und dem Iran hat nur einen Grenzübergang, über den der gesamte Handel und Personen ­verkehr zwischen Iran und Armenien verläuft. Auch wenn das Flusstal des Grenzflusses Aras selbst kaum besiedelt ist, so liegen an den Hängen des Tales mit Alvank, Meghri und Agarak mehrere armenische Klein­städte. Würde Aserbaidschan entlang des Flusses Aras Gebietsansprüche gegenüber Armenien stellen, um Nachitschewan mit dem Kern der Republik zu verbinden, wäre nicht nur das Kernland der Republik Armenien bedroht, sondern würde Armenien Gefahr laufen, noch weiter isoliert zu werden.

Bereits nach dem Waffenstillstand von 2020 wurde von aserbeidschanischer Seite aber genau so ein Korridor gefordert. Eine Verbindung zu Nachitschewan, der Region, aus der auch die Präsidentenfamilie Aliyev stammt und bis heute dort ihre Hochburg hat, dürfte zentrale Agenda für den autoritär regierenden aser beidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev sein. Der Konflikt wird damit noch lange nicht zu Ende sein.

AA FB share

Gelesen 469 mal Letzte Änderung am Montag, 18 Dezember 2023 16:31
Mehr in dieser Kategorie: « Widerspenstige Antennen
Bitte anmelden, um einen Kommentar zu posten

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367