05 Mai

Polen: Eine autoritäre Regierung und der lange Schatten der Transformation

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Der Protest gegen die polnische Regierung formiert sich, doch die Lager sind tief gespalten. Über den Kampf um die Hegemonie der Opposition und eine neue Linke. Von Sebastian Reinfeldt

Zitiert aus der Volksstimme No.5 Mai 2016

Stettin. Beim Schlendern durch die belebten Straßen in der Innenstadt fallen die vielen kleineren Geschäfte auf, an deren Schaufenstern ein Schild mit der Aufschrift »do wynajęcia« prangt: zu vermieten. Dieses Geschäftesterben passiert seit einiger Zeit und passt nicht so recht zu den Wirtschaftsdaten, die über Polen kursieren. Ein postkommunistisches Boomland, das seit seinem EU-Beitritt rund 80 Milliarden Euro EU-Gelder erhalten hat, und sich damit eine moderne Infrastruktur mit Hochgeschwindigkeitszügen aufgebaut hat. In den großen Städten im Westen und Nordosten läuft es wirtschaftlich gut und die Arbeitslosenraten sind niedrig. In Warschau etwa bei rund vier Prozent. Aber nur 100 Kilometer weiter südlich, in Szydlowiec auf dem Land, werden 30,9 Prozent gemeldet.

Also kommt das Land nicht erst jetzt in die Krise, wie die deutsche Zeitung »Die Zeit« und ihre zahlreichen SekundantInnen prophezeien. Denn mit der Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość – Recht und Gerechtigkeit) seien die falschen Leute zur falschen Zeit an die Macht gekommen, die die »liberalen wirtschaftlichen Reformen« der Vorgängerregierung zurückdrängen würden, so meinen sie. Dazu scheinen dann auch die Proteste auf den Straßen und Plätzen gegen die undemokratischen Verfassungsreformen der Regierung unter Jarosław Kaczyński zu passen. Und auch die de facto Abschaffung der Abtreibung, ein weiteres Vorhaben dieser Regierung, hat schon Zehntausende auf die Straßen getrieben. Kämpfen können die Polinnen und Polen, wenn sie wollen. Und sie scheinen diesen Willen gerade wieder zu entdecken.

Geteilter Protest

»Wir, das Volk«, unter diesem Motto versammelte sich im Winter 2015/2016 die polnische Opposition auf den Straßen und Plätzen im Land, berichteten die Nachrichtenagenturen. Das formal überparteiliche »Komitee zur Verteidigung der Demokratie« (KOD) ruft zu den Protesten auf. In ihren Texten beziehen sie sich ausschließlich auf die offensichtlichen Gesetzes- und Verfassungsbrüche der rechtspopulistischen PiS-Regierung. Die Verfassungsbrüche der Vorgängerregierung werden allerdings nicht erwähnt. »Wir akzeptieren nicht, dass die Verfassung verletzt wird und dass die demokratischen Mechanismen missbraucht werden, wir akzeptieren keine autoritäre Regierung«, heißt es im Manifest dieses Komitees.

Doch gibt es auch andere, linke Stimmen der Opposition, die in diesen Protesten nur eine Fortsetzung des Spiels der polnischen Eliten sehen, das diese seit Jahrzehnten spielen. Demokratie, Mitbestimmung, Grund- und Freiheitsrechte sind dabei nur so etwas wie Monopoly-Spielkarten. Außerhalb des parteipolitischen Spielfelds verlieren sie nämlich ihren Wert. Jede polnische Regierung bricht die Verfassung auf ihre Weise. Deshalb hat sich die neue linke Kraft, Partia Razem, an jenen Protesten nicht beteiligt.

Das ist mit der neuerlichen Protestwelle anders. Diesmal geht es um die Pläne der polnischen Regierung und der katholischen Kirche, das Abtreibungsrecht abzuschaffen. Mit einem Kleiderbügel, dem brutalsten und einfachsten Abtreibungsmittel, als Symbol hat Razem begonnen, gegen die Regierungspläne und für das Recht auf legale Abtreibung zu mobilisieren, und das mit großem Erfolg. Wiederum waren Zehntausende auf den Straßen, mit tausenden Kleiderbügeln als Symbol.

Gegen den Trend

Joanna Gwiazdecka, Büroleiterin der Rosa Luxemburg-Stiftung in Warszawa, hat in Tübingen Philosophie studiert. Ihr Büro befindet sich in einem Einfamilienhaus, das in einer bürgerlichen Siedlung im Warschauer Stadtteil Stare Bielany liegt und gerade mit Stahljalousien ausgestattet wird – »zur Sicherheit« wie sie erläutert, und damit meint sie Schutz vor politisch motivierter Kriminalität. Am Eingangstor des Hauses weist kein Schild darauf hin, wer in diesen Büros und unter welchem Namen arbeitet. Der Name Rosa Luxemburg liegt nicht gerade im Trend in Polen, und das, obwohl sie im Südosten Polens, in Zamość, geboren worden war. Doch so recht stolz ist man auf ihren linken Nonkonformismus und Kampfesmut für die Arbeiterschaft nicht. Auch wenn es so ausschaut, als ob die Polinnen und Polen aus ihrem rechtspopulistischem Schlaf erwachen würden.

Die Analysen der Büroleiterin der gleichnamigen Stiftung erinnern dabei an solche für die Länder Südeuropas. Und sie stehen somit im grellen Kontrast zum Bild der »guten Wirtschaft und der aktuell schlechten Regierung«. Zwei Millionen junge Polinnen und Polen haben das Land in den vergangenen zehn Jahren verlassen, sie leben und arbeiten in Westeuropa, die meisten in Großbritannien. Deshalb liegt die Arbeitslosenrate in dem Land mit 40 Millionen Einwohnern nur in einigen Regionen Polens über zwölf Prozent. Diese Marke ist deshalb wichtig, weil es das Arbeitslosengeld nur in diesem Fall für zwölf Monate gibt. In den anderen Regionen, wo weniger als diese zwölf Prozent zum Arbeitsamt gehen müssen, wird das Geld nur für sechs Monate pro Person ausgezahlt. Und danach? »Pech!« Pech gehabt halt, so sagt man dann auch auf Polnisch.

Gewinner und Verlierer

Einen ganz anderen Eindruck bekommt, wer am Abend beispielsweise ins zentral gelegene Warschauer Einkaufszentrum »Zloty terasy« (die »Goldenen Terrassen«) geht. Dort flanieren viele, die offenbar den Konsum unter dem futuristischen Wabenglasdach genießen. Sogar an einem Montagabend ist es dort bummvoll. Aber: 800.000 polnische Familien (ja, Familien!) sitzen auf toxischen Frankenkrediten, die ihnen vor Jahren von den Banken aufgeschwatzt worden waren. Damals zahlte man noch zwei Zloty für einen Franken, mittlerweile sind es doppelt so viele. Der Wohlstand der Mittelschicht, aufgebaut in den vergangenen zehn Jahren, ist auf Pump, was de facto bedeutet, dass die Familien nunmehr völlig vom Bankensystem abhängig sind. Während andernorts in Europa Bankfilialen reihenweise geschlossen werden, steht in Warschau an jeder Ecke mindestens eine, sehr oft mit direkter Konkurrenz in der Nachbarschaft. Und natürlich gehören auch sie europäischen Bankenkonzernen.

Saisonal werden immer neue Kredite angeboten. »Zum Schulanfang, denn man muss die Schulbücher kaufen, sie sind in Polen nicht frei. Zu Weihnachten, für die Geschenke. Dann ist noch Ostern wichtig und schließlich wird auch der Urlaub oft über einen weiteren Kleinkredit finanziert«, erläutert Gwiazdecka. Das bedeutet, dass wirklich viele Menschen in ständiger Existenzangst leben. Auch dann, wenn sie durch die Geschäfte der »goldenen Terrassen« schlendern und sich zu dem einen oder anderen Einkauf verlocken lassen.

Statt soziale Politik zu betreiben und einen wirksamen Sozialstaat aufzubauen, wurden ausländischen Investoren die Türen nach Polen weit, sehr weit aufgemacht. Nicht nur den Banken. So zahlen etwa die großen Supermarktketten – ebenfalls in der Hand europäischer Lebensmittelkonzerne – de facto keine Steuern. Und die ehemals kämpferische Gewerkschaft Solidarność nickte in der Transformationszeit das meiste ab. Wenn es Widerstand gab, so kam er zu spät.

Lange Schatten

Hier ist ein tief liegender Grund für den Wahlerfolg der PiS zu finden: »Kacynski kommt nicht aus dem Mittelalter, sondern aus der Transformation«, so spitzt Gwiazdecka die strukturellen Ursachen des Wahlergebnisses vom Herbst 2015 zu. Sie spielt damit auf die Slogans der Protestbewegung gegen die autoritäre Regierung in Polen an, die die Wählerschaft der PiS als »Menschen aus dem Mittelalter« bezeichnen. Es sind jedoch keine Zurückgebliebenen, sondern Transformationsverlierer.

Ein Aspekt des Wahlresultats vom 25. Oktober ist das »Ende des Postkommunismus«, zumindest auf politischer Ebene. Direkt nach den Wahlen zum polnischen Sejm gab es zwei ähnlich lautende Aussagen von zwei ganz unterschiedlichen Parteien. Im Herbst 2015 sei die »postkommunistsche Ära« beendet worden, erklärten sowohl die neo-faschistische Bewegung Kukisz’15 (gegründet von dem populären Rockmusiker Paweł Piotr Kukiz), die mit etwas über acht Prozent der Wählerstimmen als drittstärkste Kraft in das Parlament eingezogen ist, als auch die neue linke Bewegung Partia Razem, die bei den Wahlen 3,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Der lange Schatten von 1989 scheint politisch tatsächlich langsam zu verblassen. Die regierenden Eliten kommen in Bedrängnis, eine neue Generation wird eher früher als später die Macht übernehmen. Nach den runden Tischen 1989 hatte sich aus der kämpferischen, antikommunistischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność das Wahlbündnis AWS (Akcja Wyborcza Solidarność) gebildet. In ihrer historisch prägenden Auseinandersetzung mit der postkommunistischen Linken hatte die AWS 1997, ein Jahr nach ihrer Gründung, auch prompt die Wahlen gewonnen. Doch war ihre erste Regierungsperiode bereits nach vier Jahren zu Ende. Es stellte sich heraus, dass AWS zu heterogen und daher zerstritten ist, und on the long run auch ebenso korrupt wie die anderen.

Aber sowohl die neoliberale Vorgänger-Regierung der PO (Platform Obywatelska – Bürgerplattform) als auch die PiS haben ihre Wurzeln in eben jener AWS. Die postkommunistische Linke SLD unter Leszek Miller, ihr angeblich so bedrohliches Gegenüber, ist seit 2015 gar nicht mehr im Parlament vertreten, und auch die beiden dominierenden Parteien der politischen Klasse PO und PiS haben nun Konkurrenz bekommen. Kukisz’15 fischt mit rauen Sprüchen und offenem Antisemitismus im nationalkonservativen Teich, und die radikalliberale Bewegung Nowoczesna, angeführt von Ryszard Petru, macht der neoliberalen Bürgerplattform Konkurrenz.

Neue Linke

Zwar hat die linke Partia Razem (Razem bedeutet gemeinsam) mit 3,6 Prozent bei den Parlamentswahlen die 5-Prozent Hürde verfehlt, doch ist allen klar: Wenn auf Seiten der Linken nachhaltig etwas Neues entstehen kann, das als »dritte Alternative« dem System die Stirn bietet, dann wird dies die Partei Razem sein, deren Parteifarbe jener der spanischen Bewegung Podemos ähnelt. Diese Podemos-Bewegung auf Polnisch sieht ihren Platz vorwiegend an der Seite derjenigen Menschen, die in Polen in ihrer Existenz bedroht sind. Sie sind dies durch die Folgen der Transformation und der knallharten neoliberalen Politik derjenigen, die bis Ende 2015 das Ruder in der Hand hielten.

»Wir wollen eine politische Kraft sein, die als Erste an der Seite der Leute kämpft, wenn es Probleme mit und in der Gewerkschaft gibt, wenn jemand illegal gekündigt wird oder wenn Schulen geschlossen werden.«, so die Ansage von Jakub Danecki, der in den Herbstwalen 2015 für Razem im schlesischen Provinzwahlkreis 32 kandidiert hat und mit sechs Prozent weit über dem Landesdurchschnitt lag. »Wir kämpfen an der Seite von Leuten, die dafür gefeuert wurden, dass sie an gewerkschaftlichen Aktivitäten teilgenommen haben. Das wollen wir weiter tun. Damit die Menschen wissen: Wenn ich Hilfe brauche, weil meine verfassungsmäßigen Rechte verletzt werden, dann sind wir diejenigen, die man anruft.« Das gehe mittlerweile so weit, dass auch Leute, die rechts gewählt haben, sich bei Razem melden, wenn sie Unterstützung brauchen. Das gilt besonders für die polnische Provinz, wo die Folgen der neoliberalen Politik am stärksten zu spüren sind.

Kampf um die Hegemonie

Razem nimmt an den Kundgebungen des Komitees zur Verteidigung der Demokratie nicht teil, hat aber mit einer spektakulären Aktion vor dem polnischen Regierungsgebäude auf sich aufmerksam gemacht. Nachdem der Verfassungsgerichtshof die Verfassungswidrigkeit der neuen Gesetze festgestellt hat (die eben diesen faktisch lähmen), weigerte sich die Regierung, den Entscheid im Amtsblatt zu veröffentlichen, da sie ihn nicht anerkennt. Razem projizierte daraufhin jede Nacht die Entscheidung des Gerichtes an die Fassade des Gebäudes, damit die Menschen die Gründe wenigstens lesen können.

Hinter diesem Beteiligen-Nichtbeteiligen steckt ein politischer Kampf um die Hegemonie der Opposition. »Wir wollen unsere Demokratie nicht für 500 Zloty aufgeben!«, so hieß es anfangs direkt nach den Wahlen vom eher liberal-konservativen Demokratiekomittee. Damit wird auf die zentrale Wahlforderung der PiS angespielt. Diese hatte ein Kindergeld von 500 Zloty pro Kind versprochen, und wird dies auch einführen. Zusammen mit einer sehr moderaten Bankensteuer. Für viele Polen war dieses Forderung der wichtigste Grund PiS zu wählen, und eben nicht der Kampf gegen postkommunistische Windmühlenflügel, den Kaczyński bis heute ausficht. Denn für die große Mehrheit der Polen sind diese 120 Euro viel Geld.

Für Razem kann Demokratie aber ohne soziale Grundsicherungen nicht funktionieren. Insofern sind die Märsche für Demokratie einseitig ausgerichtet. Während der Proteste hat beispielsweise eine Firma MitarbeiterInnen gefeuert, die versucht haben, dort eine Gewerkschaft zu bilden. »So etwas zu tun ist ein durch die Verfassung garantiertes Recht. Also haben wir einen Protest inszeniert, um das Recht auf Gewerkschaftsbildung zu verteidigen. Aber außer uns hat sich niemand bei den Protesten gezeigt«, berichtet Razem-Aktivist Danecki. Die Leute, die jetzt die Verfassung verteidigen wollen, waren nicht dort. Dieser Teil der Verfassung interessiert sie nämlich überhaupt nicht. Jede Regierung in Polen wird die Verfassung auf ihre Weise brechen.

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