Von Karl Reitter
Begriffe sind nicht neutral und unschuldig. Mit Begriffen wird definiert, bestimmt, auf- und abgewertet, und vor allem wird mit Begriffen Politik gemacht. Einer der wichtigsten Begriffe aus dem Arsenal der herrschenden Klassen lautet »Parallelgesellschaft«. Dieser Ausdruck zieht eine scharfe Grenze zwischen einem fiktiven »Wir« und eben den anderen, die nicht wirklich dazugehören und, so der Vorwurf, gar nicht dazugehören wollen: diese würden sich in »Parallelgesellschaften« abschotten. Dieses »Wir« wird als moralisch überlegen und kulturell homogen phantasiert. Es soll sich dabei um eine einheitliche, humanistisch geprägte Gesellschaft mit klaren Werten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen handeln. Dieses fiktive »Wir« nimmt oft nationalistische Färbung an. »Wir« seien eben die echten Österreicher: innen, anderswo die wahren Ungar:innen und richtigen Spanier:innen. Als gemeinsame Klammer fungiert das Phantasma eines aufgeklärten, europäisch-christlichen Kulturraums. Die »Parallelgesellschaften« seien nicht bloß anders, sie seien gefährlich und bedrohlich, sie gefährden unsere Kultur und unsere Sitten. »Parallelgesellschaften« soll es mehrere geben. Waren es früher die jüdischen Gemeinschaften, so sind es jetzt vor allem Migrant:innen mit moslemischem Hintergrund und ihrem bedrohlichen Fremdsein. Viel bedarf es nicht, um Angst und Hass gegen diese anderen zu schüren: Da genügt schon der Anblick einer türkischen Frau mit Kopftuch, die am Brunnenmarkt einkaufen geht und sich mit dem Verkäufer in türkischer Sprache unterhält.
Mit dem Konstrukt »Parallelgesellschaft« wird nicht nur der Alltagsrassismus begründet und geschürt, sondern auch ganz praktische Regierungspolitik betrieben. Türkis-grün hat uns ein nagelneues Integrationsministerium und eine Reihe von Gesetzen beschert, in deren Begründungen permanent der Begriff »Parallelgesellschaft« verwendet wird. Die Niederösterreichischen Nachrichten (NÖN) feierten die neue Bundesministerin Susanne Raab mit den Worten, nun würde eine »konsequente Linie im Kampf gegen Parallelgesellschaften« beginnen. (NÖN, 30.12.2019) Auf der Webseite des Bundeskanzleramtes wird klargestellt, dass es mit »Parallelgesellschaften« ein Ende haben muss und Migrant:innen die »Grundwerte eines europäischen demokratischen Staates kennen und respektieren« zu haben (bundeskanzleramt.gv.at). Worin denn diese Grundwerte eigentlich bestehen und ob sie hierzulande denn tatsächlich verwirklicht sind, bleibt vollständig offen. Dass die »Aufnahmegesellschaft«, so die Sprachregelung des Bundeskanzleramtes, moralisch und ethisch jeder »Parallelgesellschaft« überlegen sei, das hingegen ist sozusagen in Stein gemeißelt.
Der Kampfbegriff »Parallelgesellschaft« legitimiert auch eine ganze Reihe von Verordnungen und Gesetzen, mit denen Migrant:innen und Asylwerber:innen drangsaliert werden. Insbesondere im Fremdenrecht und im 2019 beschlossenen Sozialhilfe Grundgesetz werden eine ganze Reihe von Schikanen juristisch legalisiert. Allerdings erkannte der Verfassungsgerichtshof die Senkung von Sozialhilfe um 35 Prozent für Migrant:innen ohne Nachweis der entsprechenden Deutsch- oder Englischkenntnisse (!) als verfassungswidrig, ebenso die degressive Staffelung der Sozialhilfe für Kinder. Aber auch »echte« Österreicher:innen bleiben nicht ungeschoren. Die Erwerbslosen würden aus dem sozialen Zusammenhang herausfallen, pflegten einen unverantwortlichen Lebensstil und müssten via AMS-Kursen wieder fit für die Reintegration in die Gesellschaft gemacht werden, »fit to work« also.
Die akademische Soziologie weiß, dass die Vorstellung einer kulturell und hinsichtlich der Werteorientierung homogenen »Aufnahmegesellschaft« völliger Humbug ist. Ihre Begriffe sprechen von Differenzierung und Verschiedenheiten. Auf die Theorie der Zweidrittelgesellschaft und der Rollentheorie folgte die feinere Lebensstilforschung, die uns unter anderem für das schlechter gestellte Segment der Gesellschaft so nette Begriffe wie das »abgehängte Prekariat, die autoritätsorientierten Geringqualifizierten, die selbstgenügsamen Traditionalisten und die bedrohte Arbeitnehmermitte« bescherte. (Steinert; old.links-netz.de) Hinzu kommt die Milieuforschung, die zahllose Unterschiede bezüglich der Grundwerte in den verschiedenen Milieus konstatiert. Der empirische Befund lautet zusammengefasst: Unsere Gesellschaft zerfällt in eine bunte Palette von Wertorientierungen, Lebensstilen und kulturellen Orientierungen, die sich teilweise radikal unterscheiden. Die Trennlinien laufen kunterbunt quer durch die Gesellschaft.
Eines haben allerdings die differenziert beschreibende Soziologie und die ideologische Gegenüberstellung von »Parallelgesellschaften« und »Aufnahmegesellschaft« gemeinsam: Mit ihren Begriffen und ihrer verwendeten Terminologie kann die Tatsache der sozialen Herrschaft nicht einmal beschrieben, geschweige denn kritisiert werden. Sie lassen uns nur die Wahl zwischen einem Bedrohungsszenario und der oberflächlichen Beschreibung unterschiedlichster Werthaltungen und Lebensweisen. Zu einer wirklich kritischen Analyse taugen beide nicht. Zweifellos sind zum Beispiel soziologische Studien zur Snowboard-Szene, die Vergleiche zur Pius-Brüderschaft erlauben sympathischer, als die paranoiden Bedrohungsszenarien durch die »Parallelgesellschaften«. Ein Verständnis von gesellschaftlicher Unterdrückung und Widerstand lassen beide nicht zu. Die Unmöglichkeit, mit diesen Ausdrücken, allen voran dem Begriff »Parallelgesellschaft«, über Herrschaft überhaupt zu reden, macht sie so nützlich und brauchbar. Und genau deswegen werden sie in den offiziellen Nachrichtensendungen wie in den Massenmedien gerne verwendet.
Das Blatt wendet sich, wenn wir Begriffe und Ausdrücke verwenden, die eine Diskussion über alle Formen der Herrschaft ermöglichen. Wir sind mit einer Vielzahl von Herrschaftsformen konfrontiert, deswegen benötigen wir auch eine Vielzahl von Begriffen. Wir benötigen den Klassenbegriff, um die Ausbeutung der Arbeiter: innenklasse durch die Bourgeoisie zu thematisieren, wir benötigen den Begriff der bürokratischen Herrschaft, um die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft zu benennen und wir benötigen den Begriff des Patriarchats, um die Herrschaft des Mannes über die Frau zu erkennen. Mit diesen Begriffen verschiebt sich die Perspektive gewaltig. Wir wissen, dass der Kampf gegen die »Parallelgesellschaften« heuchlerisch mit der Gleichstellung der Frau legitimiert wird. Als ob die Diskriminierung von Frauen nichts mit sozialer Herrschaft, sondern mit massiven Kulturdefiziten fremder Zuwanderer zu tun hätte. Der Begriff Patriarchat ermöglicht hingegen den Blick auf Herrschaftsverhältnisse selbst, etwas das es in der Denkwelt unserer Kulturkämpfer:innen gegen die »Parallelgesellschaften« gar nicht gibt und geben darf. Werden unsere wackeren Kulturkämpfer:innen mit der Tatsache der Herrschaft konfrontiert, so schlägt Heuchelei in Wut und Hass gegen »Emanzen« und »Genderwahn« um. Die Verteidiger: innen der abendländischen Kulturwerte erahnen, wenn von Patriarchat, Klassen und Staatsmacht gesprochen wird, wird auch über sie gesprochen.
Die Debatte um Begriffe ist kein leerer Streit um Worte. Was ich erkennen kann und was nicht, ja, worüber ich überhaupt sprechen kann und wozu ich schweigen muss, entscheidet sich an den Begriffen. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung spielt sich auch in der Sprache ab. Die Forderung nach einer nicht diskriminierenden Sprache alleine greift da zu kurz. Es geht um Sprache und Begriffe, die die Mechanismen der Herrschaft darstellen, erkennen und kritisieren lassen. Und es geht um die klare Kritik an Begriffen, die exakt das Gegenteil bewirken.