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Gedanken von HELGA WOLFGRUBER
»Wenn die Wahrheit bei irgendjemand auf Erden zu finden ist, dann ganz bestimmt nicht bei Menschen, die behaupten, sie zu besitzen.«
Albert Camus
An diesen Satz von Camus habe ich in den letzten Wochen oft denken müssen. Vor allem dann, wenn meine Gedanken und Gefühle im Dickicht der täglichen Berichterstattung die Orientierung verloren haben. Corona-ExpertInnen verschiedener Fachrichtungen verteidigen unermüdlich ihre unterschiedlichen Wahrheiten, kämpfen um die besseren Argumente, sprechen einander die Richtigkeit ihrer Aussagen ab und erzeugen Ratlosigkeit. Und Politik erschwert das Ertragenmüssen pandemischer Ungewissheiten durch eine angsterzeugende Rhetorik.
Corona ist ein Ersatzschlachtfeld, von dem der Neurobiologe Gerald Hüther meint, wir würden auf ihm kämpfen, weil »wir es nicht mehr aushalten, dass wir auf allen anderen Problemfeldern nicht mehr weiterkommen«. Vom neoliberalen Dogma des Wachstumswahns und dessen zerstörerischen Folgen scheint nicht nur Ökonomie und individuelle Lebensweise infiziert zu sein, sondern auch der Covid 19 Virus selbst. Auch dessen Wachstumsfreude weist einige ökonomische und ideologische Gewissheiten in die Schranken. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für eine längst fällige Generalinventur unseres Systems und für einen Paradigmenwechsel unseres Arbeits- und Wirtschaftslebens.
Jenseits der widersprüchlichen Zahlen und Hypothesen gibt es aber einige wenige Gewissheiten, auf die sich merkwürdigerweise Viele einigen können. Eine davon ist: Einsamkeit nimmt zu!
»Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei« (Genesis I)
Gereinigt von moralischen, biblischen Imperativen wird der Mensch von BiologInnen als »physiologische Frühgeburt« oder auch als »Nesthocker« bezeichnet. Er ist von Geburt an auf fremde Hilfe und Beschützung angewiesen. Seine Überlebensfähigkeit ist davon abhängig und macht ihn zwangsläufig zu einem sozialen Wesen. Und als solches lernen wir auch die Fähigkeit zum Alleinsein, das Ertragen von Einsamkeit oder sogar das zeitlich begrenzte Genießen von beidem.
Der englische Psychoanalytiker D. W. Winnicott legt dem Erlernen dieser Fähigkeit die Erfahrung des Kleinkindes »of beeing alone in the presence of the mother/of another« zugrunde. Erst wenn die Bedürfnisse des Kindes in jeder Hinsicht »gestillt« sind, die Mutter/Bezugsperson aber in ihrer Verfügbarkeit präsent bleibt, vermittelt sie Stabilität und Sicherheit. Die Erfahrung ihrer verlässlichen Wiederkehr ermöglicht dem Kind durch wiederholte Erfahrung die Verinnerlichung einer vertrauensvollen Beziehungsfigur. BindungstheoretikerInnen leiten aus diesen Erfahrungen auch die spätere Bindungs- und Beziehungsfähigkeit ab. Sind diese kindlichen Abhängigkeitserfahrungen vorwiegend von Enttäuschung und Entbehrung geprägt, können spätere Trennungen von realen Menschen in zerstörerisches Einsamkeitserleben münden. Das oft zitierte »Urvertrauen« wäre eine wichtige Quelle und Kraftspender für Selbstwirksamkeit. Und vielleicht auch ein »Möglichkeitsraum«, in dem die Wiederholung kraftraubender Kindheitsmuster durchbrochen werden kann. Corona-Politik scheint zum Wiederaufleben und Wachstum von Ängsten einzuladen, versagt aber kläglich beim Schaffen vertrauensbildender Maßnahmen.
Einsam oder gesellig
Einsamkeitskonzepte wurden im Laufe der Jahrhunderte viele entworfen und ranken sich um die Worte Einsamkeit, Alleinsein, Verlassenheit, soziale Marginalisierung oder gesellschaftliche Exklusion. Die Bedeutungen dieser Begriffe überschneiden sich, sind jedoch nicht deckungsgleich. So muss nicht jedem sozialen Rückzug schon ein Einsamkeitsgefühl innewohnen. Eine vorübergehende Verabschiedung von der modernen »Geselligkeitspflicht« (Odo Marquard) kann auch emotionaler Erholung dienen, dem Kraftschöpfen für Kreatives Platz geben oder auch das Bekanntwerden mit »sich selbst« ermöglichen. Auch dazu wurden Stimmen während des ersten Lockdowns laut. Tief empfunden kann Einsamkeit sogar ein Stimulus für die Aufnahme von Beziehungen sein oder umgekehrt den Ausstieg aus einem Leben in »Einsamkeit zu zweit« einläuten. Oder sie kann den Rückzug aus einer Gruppe bedeuten, in der die Vorstellung von Dazugehörigkeit und Sinnfindung nicht erfüllt wird.
Für Gerald Hüther sind es zwei Menschheitsbedürfnisse, deren Nichtbefriedigung gerade jetzt Ängste auslösen und Schaden sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft bedeuten können. Das eine wäre der Wunsch nach Verbundenheit mit Anderen – Hartmut Rosa würde von Resonanzerfahrung reden –, das andere der Wunsch nach Freiheit und autonomer Selbstbestimmung. In diesem Spannungsverhältnis sehe ich zunehmende Rebellion und Demonstration gegen derzeitige staatliche Maßnahmen und individuelle Einschränkungen angesiedelt. Diktaturfantasien und Verschwörungsideen befeuern diesen Kampf gegen einen Außenfeind und binden diffuse Ängste. »Unbefriedigende Befriedigung«: Ich gehöre zu einer Gruppe (der GegnerInnen) und ich mache meine eigenen Regeln (z. B. Mundschutzverweigerung). Warum sich auch Linke an diesem Kampf beteiligen, kann ich nicht nachvollziehen. Sind diejenigen GenossInnen, die sich jetzt gegen die Corona-Politik auflehnen, dieselben, die Chinas brachiale, freiheitseinschränkende, aber effiziente Maßnahmen loben?
Einsamkeitsverstärker Innen und Außen
Die Versuchung ist groß, die Ursachen für die Vereinsamung entweder nur in der psychischen Innenwelt zu suchen, wie es viele PsychotherapeutInnen tun, oder aber nur in den äußeren Verhältnissen, wie es viele KapitalismuskritikerInnen postulieren. Die Realität aber ist komplizierter und dialektisch: so beschrieb auch Pierre Bourdieu »die Spuren des Außen im Herzen des Innen«. Und dieses geformte Innen-Verändernde gibt dem Außen seine neue Gestalt. Anders, so glaube ich, lässt sich Veränderung schwer denken.
Aktuelle Belastungen durch die Pandemie hinterlassen neue, schmerzliche Spuren des Außen nicht nur in der Psyche des Menschen. Karl Marx und Sigmund Freud waren die »Meisterdenker« des 19. und 20. Jahrhunderts zu psychischer und materieller Realität. Freud konnte die wichtige Rolle der ökonomischen Realität durchaus anerkennen, während Marx die Wichtigkeit »der Traditionen aller toten Geschlechter« betont, die »als Alp auf den Gehirnen der Lebenden« lasten.
Der Alp, der jetzt das Gehirn der Lebenden zermartert und zunehmend auch deren Seelen quält, heißt Virus, ist eine vorgefundene Tatsache, die zeigt, dass sich Menschen von Gewohnheiten und Traditionen, wider jede Vernunft, schwer lösen können. Der Ruf nach einem »Zurück zur Normalität« wird auch von linker Seite lauter und lässt vergessen, dass linke Politik dieser »alten Normalität« nie ihre Zustimmung gegeben hat.
Brennglas Krise
Risikofaktoren, auch für die Entstehung von Einsamkeit, sind längst bekannt und beschrieben. Sie werden durch die Krise nur deutlicher sicht- und spürbar. Fällt der Arbeitsplatz als Ort der Begegnung weg, verkleinert sich auch die Möglichkeit für Beziehungsaufnahmen. Ohne Sozialkontakte, in physisches Alleinsein gedrängt zu sein, kann für alleinlebende, ältere oder kranke Menschen zu einer trostlosen Erfahrung werden. Hingegen kann das Zusammengesperrtsein von Familien auf engem Raum zum Wunsch nach einem »Ort für sich alleine« führen. Lohn- und Einkommensverlust bedeuten Verlust des Selbstwertes, begünstigen sozialen Rückzug und fördern das Gefühl von Ausgeschlossensein. Und dieses Gefühl bahnt den Weg in die Einsamkeit. Und chronische Einsamkeit bildet den Nährboden für Depression.
Wen aber interessierte vor Corona die Depression vereinsamter Flüchtlinge, die zugleich eingeschlossen und ausgeschlossen, ohne Sicherheit und Perspektive auf einer Warteliste stehen? Warum wurde Isolationshaft als gefürchtetste Maßnahme des Strafvollzugs nicht schon längst als Folter abgeschafft? Waren AlleinerzieherInnen nicht schon vor Corona sozial isoliert und deshalb oft verzweifelt? Und wie viele Untersuchungen weisen schon lange auf den Zusammenhang zwischen materieller Armut und sozialer Exklusion hin?
Auswege, Irrwege
Die derzeitige Situation der Unsicherheiten macht uns vermehrt mit Gefühlen von Machtlosigkeit und Angst bekannt. Das Bedürfnis nach Spannungsreduktion intensiviert sich, und je nach Persönlichkeitsstruktur haben wir unterschiedliche Reaktionsweisen zur Verfügung: Lähmung, Flucht, Angriff.
Während sich die einen in Ergebenheit an Verordnungen halten und still hoffen, dass ein Impfstoff sie aus einer lähmenden Starre »befreit«, bereiten andere ihre Flucht vor. Corona verändert aber drastisch die Reiseziele. Der Weg führt jetzt in die Gegend von Netflix, sozialen Medien, Arbeit, Alkohol. Im Gegensatz zu echten Urlaubsreisen ist eine Rückkehr hier nicht immer garantiert. Die dritte Möglichkeit wäre der Angriff: auf staatliche Verordnungen, Andersdenkende, auf Schwächere. Vielleicht lässt sich Angriff auch positiv verstehen, als angreifen, in die Hand nehmen, um neue Konfliktlösungen für diese neue Situation zu suchen. Denn wenn es jetzt so weiterginge, dann wäre das, nach Walter Benjamin »die eigentliche Katastrophe«.
Plädoyer für Solidarität
Es hat sich gezeigt, dass in Ausnahmesituationen verbales Katastrophenmitgefühl und praktische Hilfe rasch geleistet werden. Der gemeinsame Einsatz für ein sinnvoll erachtetes Ziel, das gemeinsame Tun, schafft Verbindlichkeit und macht unser Leben meist sinnvoller. Warum die Bereitschaft zu solidarischem Handeln oft nicht von Dauer ist, erklärt sich schwer. Ist es auch hier die »verordnete« Einsicht in die Notwendigkeit, die dem Credo der Freiwilligkeit entgegensteht? Das Akzeptieren von Abhängigkeit sowie die Beseitigung von ungleicher Verteilung von Last und Macht wären ein guter Klebstoff für einen überlebenswichtigen Zusammenhalt vieler unterschiedlicher Menschen. Denn: »No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent«, diese oft zitierten Zeilen von John Donne drücken auch heute noch die existenzielle Erfahrung von Abhängigkeit voneinander und auch die Verantwortung füreinander aus.
Einen Operationstermin Mitte Oktober kurz vor den rasant steigenden Covid-Ansteckungszahlen und dem Lockdown bekommen zu haben – welch ein Glücksfall.
EINE MISZELLE VON BÄRBEL DANNEBERG
Das Eintreffen im Landesklinikum Zwettl ist ungewohnt: abgeschirmter Eingangsbereich, externes Covid-Personal weist auf maximal eine Begleitperson hin, Maskenpflicht, Händedesinfektion, Fiebermessen, Fragebögen ausfüllen. Nach den Aufnahmeformalitäten auf der Station: nochmals Fiebermessen, Befragungen, Anamnese, Rachenabstrich, Warten.
Das Pflegepersonal ist erstaunlich gelassen und routiniert im Umgang mit den erschwerten Arbeitsbedingungen. Im Krankenzimmer werden wir vom eintretenden Pflegepersonal ermahnt, Mund- und Nasenschutz anzulegen, erst dann nähern sie sich, selbst vermummt und handschuhbestückt, dem Bett.
Im Laufe meines Aufenthaltes erfahre ich, dass im Spital ein Covid-19-Cluster ist. Alle PatientInnen müssen sich nochmals einem Corona-Test unterziehen. »Im Zusammenhang mit einem Cluster um das Landesklinikum Zwettl in Niederösterreich sind am Freitag 26 mit dem Coronavirus infizierte Personen gemeldet worden«, schreibt die Kronen Zeitung. »Das Büro von Gesundheits landesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) verzeichnete zehn angesteckte Patienten und zwei erkrankte Besucher …«
»Jetzt steht das auch schon in der Krone«, sagt der Bewegungstherapeut seufzend, der mir das Gehen mit Krücken beibringen soll. Das Dilemma sei, dass die Tests zu lange dauern. »Kommt ein Patient rein, wird er getestet, das Ergebnis ist erst am nächsten Tag da. 14 Kolleginnen des Pflegepersonals sind infiziert. Und wenn Pflegepersonal ausfällt, müssen die anderen die Arbeit machen. Mehr Personal gibt’s nicht«, meint er. Die anstrengende Arbeit mit den Masken oder einem Schutzschild, manche tragen beides, würde Augenentzündungen und Entzündungen des Nasen- und Rachen bereichs nach sich ziehen. »Das Personal ist überlastet. So langsam sind wir am Ende unserer Kräfte«, sagt er. Wir werden darauf hingewiesen, dass nur eine Besuchsperson pro PatientIn für maximal eine viertel Stunde erlaubt sei.
Diese Zeit droht zum Belastungstest für die Gesundheitseinrichtungen und Landesspitäler zu werden. Knapp 400 Covid-PatientInnen mussten Anfang November in diesen Einrichtungen Niederösterreichs versorgt, mehr als 50 davon intensivmedizinisch betreut werden. Betten für den noch bevorstehenden Ansturm müssen freigehalten werden. Meine Spitals-Bettnachbarin, die nach ihrer Knie-OP zur Rehabilitation nach Gmünd überwiesen wurde, schreibt mir, dass sie zehn Tage früher in häusliche Betreuung entlassen wurde, »eine Station um die andere wurde für Covid-Patienten frei geräumt.« Ich bin froh, nach gelungener Operation und trotz schwierigster Arbeitsbedingungen optimal betreut und rasch entlassen zu werden. Eine Woche später wäre meine Operation von der Spitalsorganisation wahrscheinlich abgesagt worden. Andere Menschen, die keine unbedingt lebenserhaltende OP wie ich vor sich haben, müssen warten und mit Schmerzen, der Ungewissheit, mit der Resignation und der Einsamkeit im Lockdown leben.
Das Ende des Corona-Tunnels ist längst nicht in Sicht. Eine Triage-Situation in den Spitälern, also eine Auswahl, welche PatientInnen zuerst hochprofessionelle Hilfe bekommen, wäre eine Katastrophe.
Die staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 werden auch in der Linken sehr kontrovers diskutiert. Ein Plädoyer für eine mehrdimensionale Sichtweise.
VON KARL REITTER
Nach Monaten der Erfahrung mit Covid-19 lassen sich ernsthafte Aussagen über die Gefährlichkeit des Virus treffen. Die Sterblichkeit ist inzwischen fast auf das Niveau einer Grippe gesunken. »Der Median liegt bei 0,23 Prozent, aber es gibt große regionale Unterschiede«, zitiert Florian Rötzer den international anerkannten Epidemologen John Ioannidis. (Rötzer, telepolis, 24.10.2020) Der Professor für Allgemeinmedizin an der MedUni Wien, Andreas Sönnichsen, ermittelte auf Basis des amtlichen Dashboards eine »Infection-Fatality-Rate« (IFR), sprich eine Sterberate »zwischen 0,1 % und 0,8 %« (Sönnichsen, 57) Seine Schlussfolgerung: Sars-CoV-2 sei »nicht wesentlich gefährlicher als eine etwas heftigere Grippewelle«. (Sönnichsen, 59) Das Problem liegt weniger in der Gefährlichkeit der Erkrankung, sondern in der Rasanz der Ausbreitung. So trifft eine steigende Zahl von infizierten Personen auf ein neoliberales, kaputt gespartes Gesundheitssystem, dessen Mängel angesichts der Pandemie nicht mehr zu verschleiern sind. Diese Mängel sind selbst bei ehrlichem politischem Willen kaum in wenigen Wochen zu kompensieren. Daher die Schlussfolgerung: Es gäbe, schon um den Zusammenbruch des Gesundheitssystem zu verhindern, keine Alternative zu den einschneidenden staatlichen Maßnahmen. Für manche ist die Debatte damit schon beendet. Eigentlich beginnt sie erst.
Vermintes Gelände
Anstatt das soeben skizzierte Szenario zum Ausgangspunkt einer dringend nötigen Debatte zu nehmen, wird jede weitere Diskussion oftmals demagogisch verunmöglicht. Wer Kritik äußert, ja selbst nur eine sachliche, wissenschaftlich fundierte Debatte einfordert, wird als Corona-LeugnerIn und VerschwörungstheoretikerIn denunziert. Zu diesem Zweck werden bedeutungslose Mini-Sekten und ihre abstrusen Vorstellungen zu relevanten gesellschaftlichen Strömungen aufgeblasen und als repräsentativ für all jene vorgeführt, die eine ruhige, abwägende Debatte einfordern. Erfahrene MedizinerInnen und ExpertInnen wie John Ioannidis und Hendrik Streeck werden medial als verantwortungslose Scharlatane vorgeführt. Wer sich kritisch äußert, ist geradezu genötigt, erstmal einen Eid abzulegen, er oder sie sei keine Corona-LeugnerIn. Ein Beispiel: Rolf Gössner, ein engagierter, linker Anwalt in Deutschland, bekam den Hans-Litten-Preis zugesprochen. In seiner Dankesrede kommt Gössner auch auf Corona zu sprechen und leitet seine Redepassage mit folgenden Worten ein: Er würde sich nun auf »ziemlich vermintes Gelände« begeben. Er wusste offenbar, seine Aussagen – wie etwa folgende – können auch in der Linken einen Sturm der Entrüstung hervorrufen: »Es gibt begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der panikartigen und pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf ungesicherter Datenlage.« (Gössner, junge Welt, 13.10.2020)
Vom Kleinreden der Folgeschäden
Die Diskussion wird insbesondere dann schwierig, wenn die dramatischen Folgeschäden der Maßnahmen systematisch kleingeredet werden. Man kann die Gefährlichkeit des Virus unterschätzen, man kann aber auch die Folgewirkungen der Einschränkungen unterschätzen, und zwar auf allen Gebieten des sozialen Lebens. Studien weisen auf die dramatischen gesundheitlichen und psychischen Folgen des Lockdowns hin. (Andreas von Westphalen, telepolis, 12.11.2020) Es ist für mich bedrückend, wie viele Kräfte auch in der Linken diese negativen Folgeschäden nicht wahrhaben wollen oder kleinreden. Selbst die kapitalistische Ökonomie kommt nicht ungeschoren davon. Machen wir uns nichts vor, obwohl die Produktion weiter läuft und alles andere erstickt wird, verstärken die Maßnahmen die schwelende Krise der kapitalistischen Ökonomie. Alfred Noll hat das Dilemma des Staates diesbezüglich treffend beschrieben: »Der Covid-19-Staat ist der Würgeengel der kapitalistischen Produktionsweise, indem er Produktion und Konsumtion über weite Strecken verhindert – er macht also exakt das Gegenteil von dem, wozu er geschaffen wurde.« (Noll, 93). Nolls entscheidende These dazu lautet: Die Notwendigkeit, »immer das eine und das andere zugleich machen zu müssen«, kann mit den »üblichen parlamentarischen Routinen« nicht bewerkstelligt werden. Massive Schädigung der Ökonomie verknüpft sich mit weitgehender Suspendierung der Rechtsstaatlichkeit. Viele linke Stimmen weisen kritisch darauf hin. Halina Wawzyniak und Udo Wolf schreiben in einem Papier der Rosa Luxemburg Stiftung: »Linke Politik, die aus der Geschichte gelernt hat, darf Freiheitsrechte nicht geringschätzen. […] Ohne Freiheitsrechte lässt sich gesellschaftlicher Fortschritt nicht erstreiten und auch keine sozial gerechte Politik. Die Würde des Einzelnen, die nach dem Grundgesetz unantastbar ist, beinhaltet, dass der Mensch nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf.« Der Parteigenosse von Wawzyniak und Wolf, Klaus Lederer, ist anderer Meinung und plädiert für den Ausnahmenzustand: »Die begrenzte Außerkraftsetzung von Grundrechten ist angesichts der Bedrohung für Menschenleben nicht nur legitim, sondern notwendig.« (Lederer, Neues Deutschland, 13.10.2020) Der Aufschrei aus der Linken blieb aus.
Von Schuldzuweisungen auf Basis absurder Annahmen
Stattdessen passiert etwas sehr Problematisches. Normalerweise weisen vernünftig und besonnen denkende Menschen Schuldzuweisungen an bestimmte Personengruppen mit guten Argumenten zurück. Weder die Jüdinnen und Juden, die MigrantInnen, die Muslima noch die Erwerbsarbeitslosen usw. sind am Übel der Welt schuld. Bei Corona wird anders argumentiert: Aus Angst und Frust werden Sündenböcke gesucht und drakonische Strafen gefordert. Nun seien es die unverantwortlichen HedonistInnen, die die Ausbreitung des Virus weiter ermöglichen. Um es unmissverständlich und klar zu sagen: Zu meinen, wenn wir uns alle nur richtig verhalten würden, würde Covid-19 aus der Welt verschwinden, ist eine unverantwortliche Wahnidee. Keine Frage, entsprechendes Verhalten kann wohl die Ausbreitung bremsen, aber kein denkbares Verhalten kann Covid-19 ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Es müssten schon jegliches soziale Leben, jeglicher Kontakt auf Tage, wenn nicht Wochen, vollständig eingestellt werden, und das ohne Ausnahme, weltweit – eine Unmöglichkeit. Selbst wenn das Virus unter die Wahrnehmungsschwelle herabgedrückt werden würde, könnte es jederzeit umso rascher wieder ausbrechen. Wie sich das Virus tatsächlich ausbreitet, wissen wir kaum. Die Cluster-Analyse der staatlichen Agentur AGES weist »Haushalt« zu 67 Prozent als Infektionsherd aus, aber wie kommt Covid-19 in die Familien? (Quelle: www.ages.at) »Bürgerinnen und Bürger können nirgendwo nachlesen, ob ein Restaurantbesuch zu zweit gefährlich ist; ob sich viele Menschen beim Friseur oder Arztbesuch oder zum Beispiel in Aufenthaltsräumen oder Meetings am Arbeitsplatz angesteckt haben.« (Standard, 1.11.2020) An die Stelle wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse treten Phantasien über die Verbreitungswege des Virus. Der Hass gegen die Uneinsichtigen hat auch eine soziale Dimension: »Während die unterprivilegierten Massen nun dem Staat misstrauen, sind es die privilegierten linksliberalen und postmaterialistischen Oberschichten und Eliten, die dem Staat täglich die Mauer machen und ihn immer wieder dazu anfeuern, gegen ungestüme und uneinsichtige Massen vehement durchzugreifen.« (Heinzlmaier, 245)
Hoffen auf die Erlösung?
Der Erlöser heißt 2020 nicht Jesus, sondern »Die Impfung«. Wenn überhaupt, beruht der rationale Kern der aktuellen Maßnahmen auf der Hoffnung, spätestens im Frühjahr 2021 gäbe es einen Impfstoff. Und was ist, wenn nicht? Zweifellos konnten Infektionskrankheiten tatsächlich ausgerottet werden, etwa die Pocken. Gegen andere Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV und Hepatitis C gibt es bis dato keine Impfung und es scheint auch keine in Sicht. Nun erreichen uns Pressemeldungen aus den Hauptquartieren der Pharmafirmen Pfizer und BioNTech, sie hätten bereits den Impfstoff BNT162b2 entwickelt, der bald einsatzbereit wäre. Viele medizinische Fragen sind offen, aber es gibt in jedem Fall GewinnerInnen. Allein Pfizer-Chef Albert Bourla machte innerhalb von Tagen durch Verkauf seiner Aktien 5,6 Millionen US-Dollar Gewinn (Rötzer, telepolis, 12.10.2020). Angesichts jüngster Erfahrungen mit Pharmafirmen ist jedenfalls Skepsis angebracht. 2009 wurde durch die WHO die Schweinegrippe-Pandemie ausgerufen, deren Gefährlichkeit völlig überschätzt wurde. Die Infektionskrankheit wurde mit dem rasch entwickelten Impfstoff Pandemrix bekämpft, mit dramatischen Folgen. »Insbesondere in Schweden kam es in Folge der H1N1-Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix in mehreren hundert Fällen zu unheilbaren Nebenwirkungen der Narkolepsie (Schlafkrankheit), von der vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren.« (Hunko, 50) Ein Großteil der Medikamente wurde deswegen vernichtet, die Kosten betrugen 30 Milliarden Euro. Aber das Starren auf die Entwicklung von Impfstoffen provoziert eine weitere Frage: kein Interesse an Medikamenten?
Erstaunlicherweise ist von der Entwicklung wirksamer Medikamente gegen Covid-19 nirgendwo die Rede. Krankheiten durch Impfungen zu verhindern ist eine Sache, eine andere, sie mit Medikamenten zu lindern und zu heilen. Gegen AIDS gibt es keine Impfung, aber wirksame Medikamente haben der Krankheit ihren Schrecken genommen. Wieso gibt es offenbar so wenig Interesse an der Entwicklung von Medikamenten gegen Covid-19? Wieso ist das schlichtweg kein Thema? Liegt es am Profitinteresse der Pharmafirmen? Derzeit würden wirksame Medikamente gegen Covid-19 hierzulande wohl nur einigen tausenden Menschen verabreicht werden. Zu impfen sind aber hunderte Millionen … Die Debatte ist eröffnet.
Quellenangaben: Um den Text nicht mit Fußnoten zu überlasten, wurde nur Name, Medium und Datum angegeben. Die Quelle ist so leicht zu recherchieren. Namen mit Seitenzahlen verweisen auf Texte im Sammelband Lockdown 2020, der im Promedia-Verlag erschienen ist. Zitiert wird aus den Texten: Alfred Noll, Seuchenzeit: der Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Bernhard Heinzlmaier, Jugendliche als Betroffene der Corona-Pandemie; Andrej Hunko, WHO – Wer bestimmt, was gesund ist?, Andreas Sönnichsen, Covid-19: Wo ist die Evidenz?
Die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie auch an der UNO-Weltgesundheitsorganisation Schaden gelassen haben. Eine grundlegende Reform ist notwendig.
VON ANDREJ HUNKO
In der Corona-Pandemie zeigen sich viele strukturelle Probleme wie unter dem Brennglas. Seien es die prekären Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege, die Abhängigkeit von Marktmechanismen bei der Beschaffung essenzieller medizinischer Güter oder die mangelhafte multilaterale Kooperation in Zeiten der Krise: auf viele Bereiche trifft diese Beobachtung zu. So auch für eine Institution, die gerade in diesen Zeiten von herausragender Bedeutung ist: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen. Wie andere internationale Organisationen steht auch die WHO seit Langem unter Druck, sich der wachsenden Macht privater AkteurInnen zu öffnen. Das Jahr 1993 war ein Meilenstein in dieser Entwicklung. Die USA unter George Bush setzten eine Einfrierung der Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten durch. Dadurch wurde das schon in den 1980er Jahren eingeführte reale Nullwachstum durch ein nominelles ersetzt.1 Inflationsschwankungen wurden forthin nicht mehr ausgeglichen. Seitdem sinkt der Haushalt alljährlich real, also inflationsbereinigt. In die so organisierte Finanzierungslücke traten zunehmend freiwillige, programmgebundene Beiträge. Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass die WHO sich heute nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären, frei verfügbaren Mitgliedsbeiträgen finanziert. Etwa 70 Prozent der Mittel sind zweckgebunden.
Soziale Faktoren vernachlässigt
Hauptproblem: Bei »freiwilligen Beiträgen« bestimmen die GeberInnen über die Verwendung. Die sozialen Determinanten von Gesundheit, also Wohn- und Arbeitsverhältnisse, gesunde Ernährung und Zugang zu sauberem Trinkwasser, die in der Geschichte der WHO durchaus eine Rolle gespielt hatten, treten zugunsten rein kurativ-medizinischer Faktoren – also vermarktbare Medikamente und Impfstoffe – immer mehr in den Hintergrund.
So bewegte sich die WHO gerade von jenen Grundprinzipien weg, die sie zu einer zivilisatorischen Errungenschaft gemacht hatten. Zwar erreichte die WHO durch Impfungen viel – als größte Leistungen gelten zu Recht die Ausrottung der Pocken und die weitgehende Eliminierung der Poliomyelitis (Kinderlähmung). Der erklärte Zweck der 1948 parallel zu den Vereinten Nationen geründeten Organisation liegt allerdings darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen. In der wegweisenden Erklärung von Alma-Ata aus dem Jahr 1978 definierten die Mitgliedsstaaten Gesundheit als »Zustand von vollständigem physischen, geistigen und sozialen Wohlbefinden, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behinderung auszeichnet«. Dabei wurden auch soziale und ökonomische Aspekte betont, die Voraussetzungen für das Erreichen dieses Ziels sind. Bedauerlicherweise sind diese Aspekte zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden. Auch in der gegenwärtigen Frage der Strategien gegen Covid-19 werden diese relevanten sozialen Faktoren weitgehend ausgeblendet.
Beschäftigt man sich mit der Entwicklung der WHO und ihrer Finanzierung, drängt sich zwangsweise ein Name in den Vordergrund: Bill Gates. Die Stiftung des Microsoft-Gründers und seiner Frau Melinda gibt nach eigenen Angaben jährlich vier Milliarden US-Dollar aus. 2016/2017 gingen davon zusammen 629 Millionen an die WHO. Damit war die Gates-Stiftung mit gut zehn Prozent des Gesamthaushalts der Organisation zweitgrößte Einzelspenderin. Sollte der WHO-Austritt der USA Bestand haben, wird die Stiftung zum größten Einzelfinancier der WHO. Bis zur überwiegend eindimensionalen Berichterstattung im Zuge des Corona-Lockdowns ab Mitte März 2020 konnte man in deutschsprachigen Medien durchaus Kritisches zu diesem Missverhältnis lesen. Ein Deutschlandfunk-Beitrag vom Juli 2018 hatte beispielsweise den Titel »Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation gefährdet – Was gesund ist, bestimmt Bill Gates«. Als jedoch eben dieses Thema zunehmend bei Corona-Protesten prominent und teils zu Verschwörungsphantasien überdehnt wurde, die Bill Gates die heimliche Weltherrschaft andichteten, drehte sich der Wind. Am 7. Mai, kurz vor dem Höhepunkt der ersten Welle der Proteste in Deutschland, wurde der Titel nachträglich »präzisiert« und hieß fortan »Das Dilemma der WHO«. Dabei ist ein kritischer Blick auf die WHO heute wichtiger denn je. Das bedeutet nicht, teils abstrusen Theorien das Wort zu reden. Aber weil gerade einmal die »Falschen« durchaus richtige Aspekte der Kritik mit aufgreifen, wäre es fatal, diese nicht weiter zu thematisieren.
Zwangsläufige Interessenskonflikte
Es ist unerheblich, ob man Bill Gates wohltätige oder bösartige Motive unterstellt. Dass ein einzelner Mensch Kraft seines akkumulierten Kapitals einen solchen Einfluss auf die Weltgesundheit hat, ist mit demokratischen Prinzipien unvereinbar. Es ist auch ein Ergebnis der in der neoliberalen Ära beschleunigten Vermögenskonzentration. Das Problem dieses obszönen Reichtums liegt ja nicht nur darin, dass der Reichtum der einen die Armut der anderen bedingt. Er kann auch verwendet werden, um die Gesellschaft nach den eigenen Vorstellungen und Interessen zu formen. Und genau das können wir bei der Weltgesundheit beobachten. Fast alle großen Unternehmen unterhalten Stiftungen, die natürlich für einen guten Zweck gegründet werden. Dabei geht es jedoch primär darum, Politik und Gesellschaft im Interesse der Stiftungsgründer zu beeinflussen. Das Kapital der Gates-Stiftung von knapp 50 Milliarden Euro ist in Konzernen wie Coca-Cola, Walmart, Monsanto (seit 2018 Teil von Bayer), aber auch in der Rüstungs- und Pharmabranche investiert. So entstehen zwangsläufig Interessenskonflikte. Denn die Profitinteressen dieser Konzerne widersprechen gesundheitspolitischen Zielen fundamental. So macht die Stiftung auf der einen Seite Gewinne mit Produkten, die Krankheiten wie Diabetes verursachen, an deren Folgen weltweit rund vier Millionen Menschen pro Jahr sterben.
Der Journalist Thomas Kruchem fasste das Dilemma wie folgt zusammen: »Für die Gates-Stiftung heißt dies: Je mehr Profite die genannten Firmen machen, desto mehr Geld kann sie für die WHO ausgeben. Für die WHO heißt es: Mit jeder Maßnahme gegen gesundheitsschädliche Aktivitäten der Süßgetränke-, Alkohol- und Pharmaindustrie würde die WHO die Gates-Stiftung daran hindern, das Geld zu erwirtschaften, mit dem die Stiftung die WHO finanziert. Kurz, die Weltgesundheitsorganisation steckt in einem klassischen Interessenkonflikt.«
Der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist auch deshalb so schwierig, weil die WHO bei der letzten Pandemie-Ausrufung vor Corona völlig daneben lag. Die im Vergleich zur jährlichen Grippewelle relativ milde H1N1-Influenza aus den Jahren 2009 und 2010 (sogenannte Schweinegrippe) wurde von der WHO zur Pandemie mit der höchsten der damals gültigen Pandemiestufen erklärt. In der Folge traten in fast allen Mitgliedsstaaten Pandemie-Pläne in Kraft und sie schlossen milliardenschwere Verträge mit Impfstoffherstellern. Im Ergebnis war die Einstufung der Schweinegrippe als Pandemie eine gigantische Fehleinschätzung. Die Welt wurde unbegründet in Panik versetzt, ein zweistelliger Milliardenbetrag an öffentlichen Mitteln wurde für Impfdosen aktiviert, von denen später ein wesentlicher Teil wieder vernichtet werden musste, und viele Menschen nahmen durch die Impfung Schaden. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss privater AkteurInnen aus der Pharmaindustrie in der WHO dabei eine entscheidende Rolle spielte. In einer Resolution des Europarates vom Juni 2010 heißt es geradezu prophetisch: »Die Versammlung befürchtet, dass dieser Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht dazu führen könnte, dass das Vertrauen in die Empfehlungen der wichtigsten öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sinkt. Das könnte sich bei der nächsten Krankheit von pandemischem Ausmaß (…) als katastrophal erweisen.« Diese Warnung von 2010 sollte sich zehn Jahre später bewahrheiten. Zwar ist die Corona-Pandemie als ungleich ernsthafter einzuschätzen als die Schweinegrippe und bedarf international koordinierter Maßnahmen. Viele Worst-Case-Szenarien aus der Anfangszeit der Pandemie haben sich jedoch glücklicherweise als unrealistisch erwiesen.
Reform und Kontrolle
Beachtlich ist, dass die aktuelle Pandemie die Welt weitgehend unvorbereitet traf, obgleich die WHO 2018 vor einer neuen pandemischen »Krankheit X« warnte und etwa der Europarat 2016 auf eine Vorbereitung auf gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite drängte. Auch verschiedene nationale Gesundheitsinstitute, wie im Jahr 2012 das deutsche Robert-Koch-Institut, legten Pandemieszenarien vor, die zumindest in Deutschland ebenso ignoriert wurden.
Bis Juni riet die WHO vom Massengebrauch von Masken ab, gleichwohl machten viele Länder ihren Gebrauch in der Öffentlichkeit zur strafbewehrten Pflicht. Dann änderte die WHO ihre Richtlinien und empfahl den Gebrauch in überfüllten öffentlichen Einrichtungen wie dem Öffentlichen Personennahverkehr. Zugleich warnte sie aber vor einem falschen Gefühl der Sicherheit. Es ist offensichtlich, dass die WHO in dieser Frage keine Orientierungsinstanz für die Staaten war. In der Frage der Grenzschließungen war die WHO hingegen von Beginn an klar und riet unmissverständlich davon ab, da diese mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Doch der Appell verhallte weitgehend ungehört.
Insgesamt traf die Corona-Pandemie auf eine unvorbereitete Welt. Die wichtigste Gesundheitsorganisation, die WHO, ist stark unterfinanziert und abhängig von privaten AkteurInnen mit ihren eigenen Interessen und Prioritäten. Zu allem Überfluss wurde ihre Existenz vom neuen geopolitischen Großkonflikt zwischen den USA und China überlagert. Anfang Juli 2020 erklärten die USA ihren Austritt aus der WHO, der am 6. Juli 2021 wirksam werden würde.
Eine grundlegende Reform der WHO ist angezeigt. Im Ende Juni 2020 mit großer Mehrheit angenommenen Corona-Bericht für die Parlamentarische Versammlung des Europarates2 habe ich bezüglich der WHO mehrere Vorschläge auf diesen beiden Ebenen gemacht. Kernpunkte sind die Unabhängigkeit von freiwilligen, zweckgebundenen Beiträgen sowie eine wirksame und unabhängige, idealerweise parlamentarische Kontrolle der Organisation. Für den ersten Punkt müssten vor allem die Mitgliedsstaaten ihre Zahlungen massiv aufstocken. Zumindest auf EU-Ebene scheint sich diese Einsicht teilweise durchzusetzen.
Ob sich eine mögliche Reform in diese Richtung entwickeln lässt, hängt natürlich von vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt davon, ob sich gewachsene weltweite Macht profitgetriebener AkteurInnen im Gesundheitswesen zurückdrängen lässt und ob die Welt in den nächsten Jahren überhaupt jene internationale Kooperationsbereitschaft entwickelt, die der Etablierung der WHO zu Grunde lag. Dass enorm viel gemacht werden kann, wenn der politische Wille da ist, hat die Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt. Ob der politische Wille für eine grundlegende Reform der WHO zur Beseitigung der erwähnten Missstände bei den aktuellen EntscheidungsträgerInnen vorhanden ist, erscheint hingegen zweifelhafter.
1 Reddy, S., Mazhar, S. & Lencucha, R. (2018): The financial sustainability of the World Health Organization and the political economy of global health governance: a review of funding proposals. Global Health 14, https://doi.org/10.1186/s12992-018-0436-8
2 Für die Parlamentarische Versammlung des Europarates war ich Berichterstatter für einen Bericht mit dem Titel »Lehren für die Zukunft aus einer wirksamen und auf Rechte gestützten Reaktion auf die COVID-19-Pandemie«, der am 26. Juni 2020 angenommen wurde, siehe https://pace.coe.int/en/news/7938/covid-19-responding-to-the-next-pandemic-states-should-act-fast-and-comply-with-human-rights
Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter in Deutschland für die Partei DIE LINKE. Er ist europapolitischer Sprecher seiner Fraktion sowie stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktionen im Bundestag und in der Parlamentarischen Versamm lung des Europarates.
Seit dem Erscheinen des betont innovativen »Craftbiers« wissen wir: ein Märzen ist kein Pils und erst recht kein IPA und schon gar kein Barley Wine.
VON THOMAS ASKAN VIERICH
Jetzt beschäftigen sich auch Archäolog* innen, Soziolog*innen oder Historiker* innen mit dem Wesen des Biers: Warum gibt es das? Was sagt welches Bier über unsere Gesellschaften aus? Ist Saufen böse? Wenn ja, war es das schon immer? Und wer sagt das eigentlich? Einstieg in die Geschichte des Bierbrauens und Biertrinkens.
Wahrscheinlich hat man die berauschende Wirkung des Biers, wie so vieles in der Zivilisationsgeschichte, zufällig entdeckt: Getreidevorräte waren feucht geworden und hatten zu gären begonnen. Als Mutige den Brei kosteten, schmeckte er bescheiden, aber hatte eine ungewohnte Wirkung: er machte lustig.
Das hat sich zwischen Euphrat und Tigris vor etwa 10.000 Jahren bei den Sumerern abgespielt. Parallel entdeckten auch andere Völker und Kulturen die berauschende Wirkung von fermentierten Früchten und Flüssigkeiten. Den Siegeszug rund um die Welt trat das Bier aber von Europa aus an.
Symbolisches Kulturgut
Bier ist ein symbolisch besetztes Kulturgut, in dem sich gesellschaftliche Normen, Rollen, Machtverhältnisse und technologischer Fortschritt spiegeln. Es war – und ist es heute wieder – ein Prestigeprodukt, dessen Konsum die soziale Stellung der Konsument*in unterstreicht. Das war schon so in der römischen Antike, als man verschiedene Bierstile und Biertrinker unterschied: Das Weizenbier tranken die Reichen, das gewöhnliche Gerstenbier die breite Bevölkerung. Wenn für sie nicht ohnehin der einheimische Wein attraktiver war und gegorener Gerstensaft eigentlich doch nur etwas für Thraker und Barbaren (Germanen und Kelten).
Im späteren Mittelalter hatte das Einbeckerbier einen besonders guten Ruf auf adeligen Tafeln, es war qualitativ und geschmacklich dem doch eher faden Braunbier des Volkes überlegen. Heute bezahlen Freunde der Craftbiere für eine Flasche handgemachtes, häufig braunes Bier gerne mehr als zehn Euro aufwärts, während sich im Supermarkt die helle Industrieware in Dosen für die Masse stapelt.
Bier war und ist aber auch ein Gemeinschaftsstifter. Nicht erst heute kommt man auf ein oder mehrere Biere zusammen. Von Beginn an spielte es eine große Rolle in religiösen Riten, oft stand es sogar in deren Zentrum. Der Rausch wurde nicht immer verunglimpft, sondern offen gefeiert. Bier wurde heilende Wirkung zugeschrieben und es war ein wichtiges Nahrungsmittel, das zum Überleben in schweren Zeiten beitrug (nicht nur in Bayern). Die Klöster brauten Bier, weil sie damit ihre Mönche zur Fastenzeit ernähren konnten. Und Bier wurde nicht gebraut, wenn der Bevölkerung auf Grund von Kriegen und Missernten zu wenig Getreide zur Verfügung stand. Aus Gerste wurde und wird Bier hauptsächlich deshalb gebraut, weil es sich weniger gut zum Brotbacken eignet. Brot und Bier standen bei knappen Ressourcen in einem direkten Konkurrenzverhältnis zueinander. Das galt noch im 20. Jahrhundert während der großen Kriege, als Nahrung rationiert werden musste. Vor allem war Bier (und ist es noch heute in manchen Weltgegenden) viele Jahrhunderte lang gesünder, weil sauberer, als das sonst zur Verfügung stehende Trinkwasser.
Staatlich geförderter Proleten-Trank
Bier war das Schmierfett der Industrialisierung, es prägte den Lebensstil einer völlig neuen Bevölkerungsgruppe, dem Proletariat, dem »vierten Stand«. Nach der Arbeit, das heißt, Samstagabend und am freien Sonntag, hatten die Arbeiter* innen oft wenig andere Gelegenheit, ihre Freizeit zu verbringen, als im Gasthaus, der Kneipe. Und dort konnten sie sich wenig anderes leisten als Bier. Wein tranken die vornehmen Leute. Andere Rauschmittel standen nicht zur Verfügung oder waren noch unerschwinglicher. Lediglich der aufkommende billige Branntwein konnte dem Bier Konkurrenz machen – war aber leider noch gesundheitsschädlicher und verringerte so die Arbeitskraft. Also förderte der Staat im Auftrag der besorgten Arbeitgeber*innen bis ins 20. Jahrhundert das Bierbrauen und den Biergenuss – im Sinne der Volksgesundheit.
Er tut das heute noch in Russland. Auch Russland ist nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem Biertrinkerland geworden, weil Bier dort als »gesündere« Alternative zum weitverbreiteten Wodka gefördert wird. Heute gilt es in den russischen Metropolen als schick, Bier zu trinken, gerne auch einheimisches. Während man auf dem rückständigen Land weiterhin zur Wodkaflasche greift, weil der Suff damit billiger kommt. Auch die Asiaten haben das Biertrinken und vor allem Brauen entdeckt. Der japanische Konzern Asahi (nach ihrem beliebtesten Bier wurde eine auch bei uns bekannte Modemarke benannt: Super Dry) ist heute einer der größten weltweit. In keinem anderen Land werden so viele Hektoliter Bier gebraut wie in China, wo auch drei der zehn größten Braukonzerne sitzen, die ihr Bier lustiger Weise hauptsächlich in die USA exportieren.
Globaler Biermarkt
Bier war auch deshalb gemeinschaftsstiftend, weil man es gemeinsam brauen muss, wenn man größere Mengen herstellen möchte. Gutes Bier zu erzeugen und zu lagern, ist durchaus aufwändig. Da kann sehr viel schief gehen. Es braucht die Beschaffung und Lagerung der Grundstoffe, Investitionen in Herstellungsprozesse, Maschinen, Behälter und Lagermöglichkeiten für das Endprodukt. Und auch Geduld: Man muss das Bier eine Zeitlang in Ruhe lassen (können). Unter den schwierigen Bedingungen der vorindustriellen Arbeitswelt konnte das Bierbrauen, das überwiegend im eigenen Haus stattfand, oft in der Stadt, nur gemeinschaftlich bewerkstelligt werden. Übrigens lange Zeit überwiegend von Frauen. Später brauchte man viel Geld für Investitionen im großen Maßstab und einen weltweiten Vertrieb und fand sie in Aktienkäufern, später in Fondsgesellschaften. Daher die erdrückende Konzentration des globalen Biermarkts auf wenige Big Player.
Bier war auch eine hervorragende Einnahmequelle der jeweiligen Machthaber, denn es konnte einfach besteuert werden oder von ihnen wie das bayerische Weißbier in der Frühen Neuzeit als Monopolist gebraut und vertrieben werden. Oder man gründete selbst eigene Brauereien wie die Beijing Yanjing Brewery, die achtgrößte der Welt, oder Budějovický Budvar (Budweiser) oder säkularisiert ein Kloster und bekommt so eine Staatsbrauerei (Weihenstephan). Auch deshalb wurde und wird das Biertrinken und Bierbrauen staatlich gefördert oder zumindest toleriert. Auch deshalb sind die Bayern und Tschechen noch heute die eifrigsten Bierkonsument*innen. Nicht nur, weil das böhmische (und bayerische) Bier so vorzüglich und vergleichsweise (in Tschechien) schweinebillig ist.
Das Brauen war auch ein Treiber des Fortschritts. Es zwang die prähistorische Landwirtschaft zu mehr Professionalität. Es machte als Handelsgut die mittelalterliche Hanse reich. Der Chef der Münchner Spaten-Brauerei Sedlmayr förderte den Erfinder der Kältemaschine Linde und stellte dessen erste funktionierende in seine Brauerei, um damit den Biermarkt mit dem jetzt massenhaft bei konstant niedrigen Temperaturen produzierbaren untergärigen Lagerbier (Märzen, Helles, Pils) zu revolutionieren. Pasteur entdeckte die Arbeitsweise von Mikroben und Hefepilzen bei einer Studie über das Bier. Die dänische Carlsbergbrauerei baute auf der erstmals in ihren Laboratorien isolierten Reinhefe eine Weltkarriere auf.
Hopfen und Malz, Gott erhalt’s
Es gibt viele Mythen rund ums Bier. Hopfen und viele Inhaltsstoffe wie Vitamine, die Hefe oder Antioxidantien im Bier sind tatsächlich gesund. Leider vermiest der Alkohol die Gesundheitsbilanz. Und der kann in einem elaborierten Craftbier leicht über zehn Prozent liegen. Dann heißt das Bier nicht umsonst Barley Wine (Gerstenwein). Schmeckt aber trotzdem nicht nach Wein, sondern sehr mächtig, würzig, malzig. Es wird oft auch gelagert wie Wein, nämlich in Fässern, die nach Rum oder Whiskey duften. Das tut das Bier dann (vielleicht) auch. Manche schmecken auch nach Schokolade oder Nüssen oder Bananen oder Kirschen oder Blumen oder Kräutern. Ist das dann überhaupt noch Bier? Der Kenner sagt ja. Der Märzentrinker winkt genervt ab.
Der verlogenste Mythos rund ums Bier ist das so genannte deutsche (ursprünglich bayerische) Reinheitsgebot vom 23. April 1516. Kurzgefasst: Bier habe aus nichts anderem zu bestehen als Gerste, Hopfen und Wasser. Von seinen Verfechtern wird es als erstes Verbraucherschutzgesetz gepriesen. Noch heute begeht die deutsche Brauwirtschaft den 23. April als den »Tag des Deutschen Bieres« (leider ohne Freibier). In Wirklichkeit war das Ganze eine Machtdemonstration der geschäftstüchtigen bayerischen Herzöge, die sich damit unter anderem das Privileg, Bier aus Weizen (Weißbier) zu brauen, zugesichert haben. Außerdem darf trotz Reinheitsgebots bis auf den heutigen Tag so manche Unappetitlichkeit von der Brauindustrie ins »reine« Bier: Hopfenextrakt, Malzextrakt, Kieslgut zum Filtern und Stabilisieren, feines Plastikgranulat (Polyvinylpolypyrrolidon) gegen Eintrübung, Algenmehl, Aktivkohle, Enzyme oder radioaktive Strahlung. Das Gebot sollte vor allem auch den bayerischen und später deutschen Biermarkt vor Importen schützen.
Das Brau- und Importverbot für »unreines« Bier galt knapp 500 Jahre bis 1987, als der EUGH das Gesetz erstmals kippte. Das war dann auch der etwas verspätete Startschuss für die Kreativbierszene in Deutschland. Andere Länder wie die USA oder Belgien waren längst weiter. Jetzt können die Deutschen (und mit ihnen Österreich, weil das Bier oft über deutsche Importeure nach Österreich kommt) auch zu Hause schöne Sachen wie mexikanische Biere aus Reis, belgische Biere mit Kirschen, irische Stouts mit Schokolade, Bier aus Möhren, Kumquats oder Doughnuts genießen. Gibt’s alles oder hat es zumindest als Experiment gegeben. Der Gesundheit und der Umwelt schadet es vermutlich weniger als Polyvinyl polypyrrolidon. Prost und bis zum nächsten Mal.
Thomas Askan Vierich lebt in Wien, Zürich und Berlin. Redakteur, Magazinmacher und Literaturkritiker für deutsche und österreichische Medien.
VON BÄRBEL DANNEBERG
Die »Neue Welt« ist eine historische europäische Bezeichnung für das von den Spaniern unter Christoph Kolumbus im Jahr 1492 wiederentdeckte Amerika. Diese koloniale gewaltsame Eroberung schönend in den Herzen zu verankern, galt neben Antonín Dvořáks 9. Sinfonie »Aus der Neuen Welt« auch Walt Disneys Zeichentrickfilm Pocahontas. Ich frage meine Enkeltochter heute, was sie von damals Ende der 1990er Jahre in Erinnerung hat. Die schöne Pocahontas, sagt sie, Großmutter Weide mit ihren Herzensratschlägen und John, der gute Weiße, der weiterzieht und das Indianermädchen trotz herzerfüllender Liebe auf dem Felsen zurücklässt.
Alle hatten gute Absichten, erinnert sie, und das Böse wurde besiegt. Wir waren damals in einer Nachmittagsvorstellung im heute nicht mehr existierenden Eos Kino auf der Landstraßer Hauptstraße, der Die Premiere fand am 15. Juni 1995 im Central Park in New York City vor einer Saal war fast leer und das Enkelkind mit dem Abgehen der leeren Sesselreihen beschäftigt. Trotzdem muss Pocahontas, der ab 1995 bei uns gezeigte Zeichentrickfilm, einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. So sehr, dass die Handlung noch heute präsent ist und T-Shirts oder Schulsachen mit dem Pocahontas-Merchandisingzeugs, damals ein Muss, auch jetzt noch auf ausrangierten Kindersachen im Secondhand zu finden sind.
Die Premiere fand am 15. Juni 1995 im Central Park in New York City vor einer geschätzten Menge von 100.000 Menschen statt. Damit hält Pocahontas bis heute den Rekord für die größte Filmpremiere überhaupt. Laut Wikipedia war der Film zwar finanziell erfolgreich und spielte etwa das Fünffache seiner Produktionskosten ein, blieb jedoch entgegen den Erwartungen der Macher weit hinter den Einspielergebnissen seines Vorgängers Der König der Löwen zurück, die etwa doppelt so hoch waren. 1998 produzierte Disney die Fortsetzung Pocahontas 2 – Die Reise in eine neue Welt für den Videoverkauf.
Im ersten Teil, den mein Enkelkind und ich damals sahen, geht es sowohl um die Eroberung der Indianergebiete im frühen Amerika als auch um die der Herzen der ZuseherInnen. Regisseur Mike Gabriel war nach eigenen Worten »auf der Suche nach einer Liebesgeschichte mit Herz und Humor«. Der »gute weiße Mann« kann vom Indianermädchen Pocahontas viel Wissenswertes vom Umgang mit der Natur und den Weisheiten seines Volkes lernen, zum Beispiel auf das Herz zu hören. Das schöne Mädchen folgt den Ratschlägen seiner Mentorin Großmutter Weide und schenkt sein Herz dem Eroberer Smith. Der Häuptlingsvater Powhatan verspricht dem größten Krieger seines Volkes die Pocahontas-Tochter, den aber will das Mädchen nicht, denn ihre Liebe gilt dem Engländer Smith. Im zweiten Teil zieht Pocahontas als Botschafterin ihres Stammes nach London, um den Frieden zwischen ihrem Stamm und den Eroberern zu sichern. Sie heiratet den Engländer John Rolfe und gibt dem Herzensbrecher John Smith den Weisel.
Mythen, Musik und Märchen, die an folgende Generationen weitergegeben werden, festigen Ideologien und Überzeugungen. Bei Walt Disneys Pocahontas, einer Figur aus dem amerikanischen 16. Jahrhundert, ist es die Überzeugung, dass dem rückständigen Indianervolk westliche Kultur gebracht wird. Dem sympathisierenden »Indianerkult« bis in unsere Breiten dieser Tage, der erwachenden Umwelt- und der wachsenden weiblichen Emanzipationsbewegungen geschuldet, wird Pocahontas als eine der wenigen Indianerinnen gezeichnet, die ein friedliches Nebeneinanderleben der UreinwohnerInnen und den englischen Siedlern befürwortet und sich für die Vermittlung zwischen den Gruppen einsetzt. Aber: America first.
Die Welt blickt besorgt auf diese entlegene Ecke der Welt. Im Konflikt um die international nicht anerkannte, umkämpfte Republik Arzach (Bergkarabach) geht es nicht mehr nur um territoriale Begehrlichkeiten, sondern um die Vormachtstellung der Türkei.
VON ELKE DANGELEIT
Lange Zeit lebten im Kleinen Kaukasus verschiedene Völker in den abgeschiedenen Tälern relativ friedlich nebeneinander: Armenier*innen, schiitische Aseris (Tatar*innen), ezidische und muslimische Kurd*innen. Die willkürlichen Grenzziehungen am Reißbrett und geopolitische Interessen führten und führen auch in dieser Region immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
Ein kurzer Blick in die Geschichte der Region
Armenien war der erste christliche Staat auf der Welt. Das armenische Christentum ist von einer starken nationalen und religiösen Identität mit eigener Nationalkirche geprägt. Das Siedlungsgebiet der Armenier*innen umfasste ein Territorium bis weit in die heutige Türkei hinein. Zu diesem Siedlungsgebiet gehört auch Berg-Karabach, wo ebenfalls schon immer mehrheitlich Armenier*innen lebten. Bis 1919 hatte Bergkarabach keinen eindeutigen Status. Auch die Pariser Friedenskonferenz vom 18.–21. Januar 1919 konnte dafür keine eindeutige Regelung finden, eine dauerhafte aserbaidschanische Herrschaft über dieses Gebiet wurde jedoch nicht anerkannt. 1920 kam es in Baku, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, zu Massakern an dort lebenden Armenier*innen mit 30.000 Opfern. Zur gleichen Zeit fanden Massaker der aserischen »Islamischen Armee« in der historischen Hauptstadt Schuscha statt, dem die Hälfte der Stadtbevölkerung (20.000 Armenier*innen) zum Opfer fiel.
Die schiitischen Aseris, ein Turkvolk, sympathisierten angesichts der russischen Expansion im Südkaukasus im 19. Jahrhundert mit dem sunnitischen Osmanischen Reich und später mit dem aufkommenden Pantürkismus der Jungtürken. Der Völkermord im Osmanischen Reich an den Armenier*innen und anderen Christ*innen 1915 traf auch bei den Aseris auf Unterstützung.
Am 4. Juli 1921 beschloss Stalin, Berg karabach der autonomen »Sowjetrepublik Aserbaidschan« zu übergeben, als Georgier wohl wissend, dass in der Region mehrheitlich Armenier*innen lebten. Stalin nutzte also die Differenzen zwischen den Armenier*innen und Aseris, um beide besser unter Kontrolle halten zu können. In der Sowjetunion wurde der Status von Berg-Karabach nie richtig geklärt. Ihm wurde keine Bedeutung beigemessen, da die ganze Region ja zum Territorium der Sowjetunion gehörte.
In der Auflösungsphase der Sowjetunion in den 1980er Jahren kam es in Armenien zu zahlreichen Streiks und Protesten, bei denen die Armenier*innen aus Bergkarabach ihre Zugehörigkeit zu Armenien forderten. Ende 1989 eskalierte der Konflikt in einem grausamen Krieg um Bergkarabach, bei dem Tausende Menschen starben. Von März bis Juni 1991 vertrieben aserbaidschanische Truppen mit Unterstützung der 23. Sowjetarmee in und um Bergkarabach die armenische Zivilbevölkerung aus 23 armenischen Dörfern. 1991 erklärte Bergkarabach als Republik Arzach seine Unabhängigkeit von Aserbaidschan, allerdings wurde sie international nie anerkannt. Von Dezember 1991 bis 1994 versuchte die aserbaidschanische Armee, das Gebiet zurückzuerobern. Bilanz: 40.000 Kriegstote, davon 23.000 Armenier*innen, 80.000 armenische und 40.000 aserische Kriegsflüchtlinge und bis zu 700.000 Kriegsflüchtlinge aus den umliegenden aserbaidschanischen Gebieten. Der Krieg endete im Mai 1994 mit einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Es folgten Jahre der angespannten Koexistenz, allerdings ohne den Status von Bergkarabach zu klären. Dies war eigentlich der Auftrag des Minsker-Vermittlungsausschusses der OSZE, der aus Frankreich, Russland und den USA bestand.
Nach Ansicht des Staatswissenschaftlers Otto Luchterhand ist Bergkarabach nicht nur de facto, sondern de jure kein Teil Aserbaidschans. Dies deckt sich mit den vier UN-Resolutionen, die zwar die armenische Besatzung von Provinzen außerhalb Bergkarabachs verurteilen, aber nicht von Bergkarabach selbst und auch nicht von Lachin, dem Korridor zwischen Bergkarabach und dem armenischen Staatsgebiet.
Der aktuelle Konflikt um Berg-Karabach
Bisher war Russland immer die Schutzmacht von Armenien. Nachdem es 2018 in Armenien zu einer friedlichen Revolution kam, bei der die herrschenden Oligarchen abgesetzt wurden, agiert Putin zögerlich im aktuellen Konflikt. Bei dem neu ausgebrochenen Krieg ging der jüngste Angriff von Aserbaidschan aus – befeuert durch die Türkei. Armenien hatte sich mit dem bisherigen Status quo von Bergkarabach abgefunden. Aserbaidschan konnte durch die Einnahmen seiner Öl- und Gasquellen massiv aufrüsten. Israel, Russland, Weißrussland und die Türkei statteten das Land mit Waffen, die Türkei und Israel auch mit Drohnen aus. Das wirtschaftlich schwache Armenien ist mit seiner veralteten russischen Waffentechnik dem Nachbarland militärisch unterlegen. Daher ist Armenien nicht an einem Krieg mit Aserbaidschan interessiert. Vielmehr möchte die Regierung in Jerewan den Erhalt des Status quo von Bergkarabach und die internationale Anerkennung der Republik Arzachs (Berg-karabach).
Welche Rolle spielt die Türkei im Konflikt?
Zusammen mit der neo-osmanischen Expansionspolitik Erdogans wuchs in der Türkei eine nationalistische Strömung in Verbindung mit dem politischen Islam. Erdogan sieht die Türkei als Führungsmacht der islamischen Staaten, auch wenn er dies bisher real kaum durchsetzen konnte. Der jetzige Ausbruch des Konflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien kam für Erdogan zum rechten Moment, da er die Türkei als Schutzmacht Aserbaidschans ins Spiel bringen konnte, auch im Sinne der aserbaidschanischen Staatsdoktrin »eine Nation – zwei Staaten«. Innenpolitisch will Erdogan sowieso über außenpolitische Provokationen von den gravierenden ökonomischen Problemen im eigenen Land ablenken. Dazu gehören neben der völkerrechtswidrigen Annexion kurdischer Gebiete in Nordsyrien auch die Provokationen im östlichen Mittelmeerraum um Gasbohrungen in Griechenlands Gewässern. Das Abkommen über Seegrenzen mit Libyen, das international nicht anerkannt wird, weil es die souveränen Rechte Griechenlands in dem betreffenden Gebiet ignoriert, ist ebenfalls in diesem Kontext zu betrachten. Weiterhin ist Aserbaidschan für die Türkei auch energiepolitisch wichtig. Der direkte Zugang zu aserbaidschanischem Öl und Gas würde die Türkei unabhängig von russischem Gas und anderen Öllieferant*innen machen. In diesem Zusammenhang ist die aserbaidschanische Offensive im Süden von Bergkarabach zu betrachten: Es könnte eine Landverbindung von Aserbaidschan über Bergkarabach und bisher unbestritten armenisches Staatsgebiet in die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan hergestellt werden, die direkt an die Türkei angrenzt.
Türkei greift auf Seiten Aserbaidschans in den Konflikt ein
Als bisher einzige internationale Akteurin trat die Türkei auch militärisch auf den Plan. Der russische Militärexperte Konstantin Sivkov schrieb dazu: »Tatsächlich war es Erdogan, der den Krieg in Arzach initiiert hat. Zu lange war es in dieser Region ruhig, in den letzten Jahren hat sich dort nichts geändert, und hier beginnen aus heiterem Himmel die Feindseligkeiten. Zum ersten Mal in der Geschichte des Konflikts stellt sich die Türkei gleichzeitig gegen die Vereinigten Staaten, Frankreich und Russland, während sie gleichzeitig an mehreren Konflikten in verschiedenen Teilen der Welt teilnimmt; es ist reiner Wahnsinn und politischer Selbstmord.« In der Tat fanden im Sommer, kurz vor Ausbruch des Konflikts, gemeinsame Militärübungen von der Türkei und Aserbaidschans statt, die als Vorbereitung für den aktuellen Konflikt interpretiert werden können. Die Türkei scheint mit 150 türkischen Offizieren als Militärberatern direkt in das Kriegsgeschehen auf Seiten Aserbaidschans involviert. Auf dem Rollfeld des aserbaidschanischen Militärflughafens Ganja parken nach einer Meldung der New York Times türkische F-16 Kampfflugzeuge. Das armenische Verteidigungsministerium berichtete, ein türkischer F-16 Bomber habe vom Flughafen Ganja aus eine armenische Su-25 über armenischem Gebiet abgeschossen. Türkische Kampfbomber greifen anscheinend immer wieder armenische Stellungen an, und vor allem sind türkische Kampfdrohnen im Einsatz. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew lobte am 6. Oktober die Effizienz der türkischen Drohnen. Er äußerte auch, dass die Türkei »Teil des Siedlungsprozesses« in Bergkarabach sein solle. Dies deutet darauf hin, dass die Region von Armenier*innen »gesäubert«, Aseris und evtl. Erdogans islamistische Söldner aus Nordsyrien angesiedelt werden sollen. Islamistische syrische Söldner wurden von der Türkei zu Tausenden per Flugzeug nach Aserbaidschan transportiert. Nach einem BBC-Bericht wurden 4.000 Söldner der in Nordsyrien berüchtigten Hamza-Brigade von Ankara nach Baku geflogen.
Armenier*innen in der Türkei beunruhigt
Der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien wirkt sich auch auf die wenigen noch in der Türkei lebenden Armenier* innen aus. Vor kurzem wurde der armenische HDP-Abgeordnete Garo Paylan in ganzseitigen Anzeigen in der türkischen Presse als »Vaterlandsverräter« deklariert, weil er sich für eine friedliche Lösung des Konflikts einsetzte. Raffi Kantian, der Vorsitzende der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, sorgt sich um Paylans Leben. Denn paramilitärische Gruppen wie die ultranationalistische »Türkische Rachebrigade« sind bekannt für Attentate und Morddrohungen. Die armenische Hrant-Dink-Stiftung hat in den türkischen Medien allein im vergangenen Jahr 803 Fälle von »Hassrede« gegen Armenier*innen gezählt, weit mehr als gegen jede andere Minderheit des Landes. Von den einst mehr als 1,5 Millionen Armenier*innen leben nach dem Genozid weniger als 60.000 Armenier*innen in der Türkei. Erdogan schürt die Ängste der Armenier*innen und ruft in dieser angespannten Lage den Völkermord 1915 in Erinnerung: »Wir werden die Mission fortführen, die unsere Großväter seit Jahrhunderten im Kaukasus ausgeführt haben.« Erdogans Armenien-feindliche Rhetorik korrespondiert auch mit dem pantürkischen Ansatz der Nationalist*innen. Nach dieser Ideologie stellen Aserbaidschan, die Türkei und die Turkvölker auf der anderen Seite des kaspischen Meeres ein Volk dar, das vereint werden muss. Armenien stört dabei auf der Landkarte.
Elke Dangeleit ist Ethnologin und Journalistin und schreibt als Nahostexpertin für die Internetzeitung Telepolis.
In Belgien hat das Bundesparlament am 17. Juli eine Kommission eingesetzt, die Belgiens Kolonialvergangenheit untersuchen und Lehren für die Gegenwart und Zukunft ziehen soll. NABIL BOUKILI, Abgeordneter der Partei der Arbeit Belgiens (PTB-PVDA), der sich schon seit Jahren vor Ort dem Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus widmet, ist Mitglied dieses Komitees und sein Berichterstatter. TONY BUSSELEN hat mit ihm gesprochen.
In Belgien war die Geschichte des belgischen Kolonialismus im Kongo, in Ruanda und Burundi lange Zeit ein Tabuthema. Noch bis vor einiger Zeit wurde die »zivilisatorische Mission« dieses Kolonialismus in Schulen gelehrt. In den letzten Jahren hat das flämische Fernsehen dem Thema eine Serie gewidmet, und jetzt gibt es diese Kommission. Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen?
NABIL BOUKILI: Diese Entwicklung ist das Ergebnis von Kämpfen, die in die 1980er-Jahre zurückreichen, als in der akademischen Welt noch keine Einigkeit zur Frage der Kolonialvergangenheit herrschte und außerhalb der akademischen Welt die ersten kritischen Stimmen gegen den Kolonialismus laut wurden.
Heute zahlt sich der Druck der antikolonialen Bewegung aus. Die weltweiten Reaktionen auf den Mord an George Floyd, die auch an unserem Land nicht vorbeigegangen sind, zeigen, dass ein Teil der Bevölkerung bereit ist, sich für dieses Thema zu engagieren … Weitere Initiativen wurden gestartet, beispielsweise die Petition des Schülers Noah, bei der 80.000 Unterschriften zusammenkamen. Er beklagt die Existenz von Statuen wie die von König Leopold II, einem äußerst brutalen Kolonialherrscher. Angesichts all dieser Aspekte sah sich das Parlament gezwungen, sich dieser Geschichte zu stellen.
Die Existenz dieser Kommission ist somit ein Erfolg für all jene Organisationen und Personen, die seit Jahren darum kämpfen, Licht in die Kolonialvergangenheit Belgiens zu bringen. Dies ist ein außerordentliches Ereignis, weil Belgien eine der wenigen ehemaligen Kolonialmächte ist, die eine Kommission dieser Art ins Leben gerufen haben.
Angriffe auf die Statuen von König Leopold II werden manchmal als Angriffe auf »unsere Traditionen und unsere Geschichte« gedeutet. Besteht nicht die Gefahr, dass die Kommission solche Ideen verstärkt?
NABIL BOUKILI: Der Kolonialismus war zu keinem Zeitpunkt eine Initiative der belgischen Bevölkerung: Es ging dabei ausschließlich um das Streben nach großen Profiten. In erster Linie für König Leopold II selbst, und dann für das belgische Großkapital. Der Kolonialismus ging von jener kleinen Minderheit in Belgien aus, die zur gleichen Zeit den Großteil der Belgier* innen zu Hause unterdrückten und ausbeuteten. König Leopold II war es schließlich auch, der für die Erschießung belgischer Arbeiter*innen verantwortlich war und im Kongo ein Terrorregime aufbaute, in dem Kongoles*innen, die nicht genug Gummi lieferten, die Hände abgeschnitten wurden. In den 1950er-Jahren wurde die kongolesische Wirtschaft von einigen wenigen großen belgischen Finanzgruppen kontrolliert. Nehmen wir als Beispiel Union Minière: Mit den Kupferminen von Katanga schuf dieses Unternehmen während der Kolonialzeit die Grundlage für seinen Reichtum. Selbst nach der Unabhängigkeit gelang es der Firma, diese Minen weiter zu kontrollieren und eignete sich auf diese Weise viele Milliarden belgische Franken an. Ihren Namen hat sie auf Umicore geändert. Wir sprechen von ebenjenem Unternehmen, das in Belgien mit seiner Produktionsstätte in Hoboken (Antwerpen) Kinder im Arbeiter*innenviertel Moretusburg krankmacht. Und dessen Direktor erst kürzlich erklärte, dass Familien mit Kindern doch einfach umziehen sollten, wenn sie von seinem Werk nicht vergiftet werden wollten. Der Kampf um Dekolonisation ist insofern nicht ein Kampf gegen die belgische Bevölkerung, sondern gegen belgische Großunternehmen.
Was sind deiner Ansicht nach die Inhalte und Ziele dieser Kommission?
NABIL BOUKILI: Unser erstes Ziel in dieser Kommission besteht darin, Kolonialverbrechen zu beleuchten. Denn der Kolonialismus ist vor allem ein Projekt, das in der Geschichte mit beispielloser Gewalt vorging, ein zerstörerisches Projekt für die kolonialisierten Länder und Menschen auf wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene. Für die betroffenen Menschen war das tägliche Leben unter dem Kolonialismus schrecklich, umfasste es doch Dinge wie das Abhacken von Händen, Zwangsarbeit usw.
Dieser belgische Kolonialismus im Kongo, in Ruanda und Burundi hatte Konsequenzen, deren Folgen noch heute sichtbar sind. Zerstörte Länder, verfälschte Kultur. Jegliche Strukturen, die diese Länder hätten aufbauen können, um sich ihren Schwierigkeiten zu stellen, wurden von den Siedler* innen zerstört.
Der Kolonialismus hat diesen Ländern absolut nichts Positives gebracht. Im Gegenteil: Er hat ihnen die Zukunft geraubt.
Was primär zu dieser grausamen Ausbeutung des Kongo, von Ruanda und Burundi geführt hat, war die Gier nach Profiten für das belgische Großkapital. Wir müssen uns gegen die Idee verwehren, dass es in der Kolonialzeit einen »Austausch« gegeben habe oder es sich um eine »Win-Win«-Beziehung gehandelt hätte. Dieser Mythos, dass der Kolonialismus für die kolonialisierten Länder mehr Gutes gebracht als Schaden angerichtet habe, ist gefährlich und komplett falsch. Im Kolonialismus gab es Gewinner*innen: die königliche Familie und die großen belgischen Vermögen, die großen belgischen Unternehmen. Es sei nur daran erinnert, dass 11 der 23 reichsten Familien in Belgien ihr Vermögen zumindest teilweise dem Kolonialismus verdanken. Und dann gab es die Verlierer*innen: die Kongoles*innen.
Sollte die Kommission auch die Geschichte des Kolonialismus mit der heutigen Situation in Zusammenhang bringen?
NABIL BOUKILI: Unbedingt. Rassismus beispielsweise hat seinen Ursprung im Kolonialismus. Denn um diese Länder kolonialisieren und ohne Skrupel ausbeuten zu können, musste die belgische öffentliche Meinung davon überzeugt werden, dass es sich dabei um ein absolut legitimes Unterfangen handelte. Und um die Ausbeutung dieser Menschen und die Massaker zu rechtfertigen, musste gezeigt werden, dass uns diese »unzivilisierten« Menschen unterlegen waren, dass sie ohne uns nicht zurechtkamen.
Die Folgen sehen wir in unserer heutigen Gesellschaft. In der Community mit afrikanischen Vorfahren haben zwar 60 Prozent der Menschen einen abgeschlossene Ausbildung, und trotzdem sind sie mit am stärksten von Erwerbslosigkeit betroffen. Das ist strukturell bedingt und hat seinen Ursprung in Vorurteilen, die aus der Kolonialzeit stammen.
Wir müssen aber auch Konsequenzen und Lehren für die belgische Außenpolitik ziehen. Unsere Beziehungen zu diesen Ländern sind noch immer nicht ganz frei vom Kolonialgeist. Unsere Regierungen nehmen sich die Freiheit heraus, definieren zu können, wer »demokratisch« ist und wer nicht. Das ist Paternalismus, als seien die Menschen jener Länder nicht in der Lage, ihre Rechte zu verteidigen und selbst die Entscheidungen zu treffen, die sie für ihr eigenes Land für gut halten. In ihren Schlussfolgerungen sollte die Kommission auch diese neokoloniale Politik infrage stellen.
Gab es auch Widerstand gegen diese Kommission?
NABIL BOUKILI: Im Parlament gab es Widerstand, insbesondere von Parteien wie der rechtsextremen Vlaams Belang, der rechtsnationalistischen Neu-Flämischen Allianz (N-VA) und der neoliberalen Reformbewegung (MR).
Die MR war dagegen, dass die Kommission den wirtschaftlichen Aspekt behandelte, und wollte den belgischen Kolonialismus mit der Praxis anderer Kolonialmächte gleichsetzen. Als ob das die Unmenschlichkeit des Kolonialismus für die Kolonialisierten verringern würde ...
Um den Kolonialismus zu relativieren, nutzen ironischerweise die N-VA und Vlaams Belang, beides flämische separatistische Parteien, die sich das Ende Belgiens wünschen, die gleiche Art von Argumenten wie die MR, eine nostalgische, paternalistische Partei. Auf der Website von Vlaams Belang heißt es, die Partei würde »eine systematische und radikale Diskreditierung der Kolonialvergangenheit« ablehnen. Der Vorsitzende der N-VA, Bart De Wever, erklärt zudem, der Kolonialismus müsse vor dem Hintergrund der Sitten der damaligen Zeit betrachtet werden. Was es ins rechte Licht rückt…
Andererseits sagen N-VA und Vlaams Belang, Flandern habe nichts mit dem Kolonialismus zu tun. Doch sowohl das flämische Kapital als auch die wallonische Industrie profitierten vom Kolonialismus. Im Vorstand des Unternehmens Abir, das für König Leopold II Gummi extrahierte, waren nicht wenige Antwerpener Geschäftsleute vertreten. Auch Finanzholdings wie die Société Anversoise und die Crédit Anversoise waren im Kongo aktiv. Selbst die Familie Van Thillo, die der N-VA sehr nahe steht und die mächtige Pressegruppe Persgroep ihr Eigen nennt, war in den 1930er-Jahren im Diamantsektor aktiv.
Noch wichtiger ist, dass diese Kommission eine vorhandene Debatte in der Gesellschaft freilegt: Sind wir für Solidarität zwischen Menschen, oder sind wir für eine Gesellschaft, in der Menschen gegeneinander ausgespielt werden? Da sich diese Kommission auch mit Themen wie Rassismus auseinandersetzt, ist sie diesen rechten Parteien mit Sicherheit ein Dorn im Auge.
Erstveröffentlicht auf Französisch und Englisch auf der Website der Partei der Arbeit Belgiens (PTB-PVDA), ins Deutsche übersetzt von Hilde Grammel.
Die Frage nach Kontinuitäten in einem postfaschistischen kleinen Nationalstaat drängt sich auch in Portugal wieder immer auf. Was wird erinnert und ins friedliche Selbstbild integriert? Was sollte verdrängt werden und kommt doch immer wieder durch die Kritik postkolonialer AktivistInnen zur Sprache?
VON MIGUEL CARDINA
Lissabon, November 2017: Der portugiesische Premier minister António Costa spricht beim 9. Web Summit, der größten Tech-Konferenz der Welt, die jedes Jahr zehntausende von Besucher*innen nach Lissabon lockt. Bei seiner Eröffnungsrede erinnert er an den Portugiesen Magellan, bei der ersten Weltumsegelung spielte. Ära der neuen Technologien mit dem Anfang der großen Entdeckungsreisen. Im Vorjahr hatte Fernando Medina, der Bürder im 16. Jahrhundert eine tragende Rolle Costa verglich den Web Summit und die germeister von Lissabon, dem CEO der Organisation hinter dem Web Summit ein Astrolabium, ein astronomisches Messinstrument, geschenkt. Damit stellte er den Pioniergeist der Entdeckungsreisenden und denjenigen der Unternehmer*innen auf dem Web Summit auf eine Stufe. »Vor 500 Jahren war Lissabon die Hauptstadt der Welt: Von hier stach man in See, um neue Menschen, neue Ideen, neue Welten zu entdecken. Hier begann ein großes Abenteuer, das die Menschheit verbinden sollte (...). Vor 500 Jahren überquerten Seefahrer* innen die Weltmeere. Heute ist es an Ihnen, den Ingenieur*innen, den Kreativen, den Innovativen, den Start-ups und allen Unternehmen.«
In Portugal wird zur Projektion nationaler Mythen gerne auf die Entdeckungsreisen und die eigene Kolonialgeschichte zurückgegriffen: In der Werbung, im Tourismus, in der Regierungsarbeit und im Zuge gesellschaftlicher Debatten. Wie dies auch für andere ehemalige Kolonialmächte in Europa gilt, zeigt sich die Erinnerung – wie auch das Vergessen – auf vielfältige, nicht immer offensichtliche Weise. Im Falle Portugals ist es die andauernde Präsenz des Lusotropikalismus. So bezeichnete die Diktatur des »Estado Novo« unter António de Oliveira Salazar die Ideologie, die den portugiesischen Kolonialismus als wohlwollender und weniger aggressiv als andere Formen des Kolonialismus umdeutete. Portugal leitet seine eigene Bedeutung aus dieser Vergangenheit ab, während es gleichzeitig geographisch am Rande Europas liegt und die daraus folgenden Einschränkungen verschiedentlich zu spüren bekommt. Wir werden später noch sehen, dass diese Sicht von immer mehr Stimmen infrage gestellt wird. Diese Bilder sind eng mit dem verknüpft, was Michael Billig als »banal nationalism« (deutsch: Banaler Nationalismus) bezeichnet: Ein System aus Praktiken, Ritualen und Diskursen, das die Wege vorzeichnet, auf denen sich eine Nation selbst denkt und reproduziert.
Krieg und Gedächtnis
Während sich im März die Nachricht von der Corona-Pandemie verbreitete, wendete sich der Fernsehjournalist Rodrigo Guedes de Carvalho am Ende einer TV-Sendung an die junge Generation. Er sagte ihnen, dass ihre Großeltern in den Krieg ziehen hätten müssen, während sie selbst einfach zuhause auf dem Sofa bleiben müssten. Der Krieg, auf den er sich bezog, ist der Portugiesische Kolonialkrieg. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie häufig Kriegsmetaphern zur Darstellung der Corona-Krise herangezogen werden und man erkennt daran eine in Portugal verbreitete Sicht auf den Kolonialkrieg: Obwohl die Niederlage in diesem Krieg und die Demokratisierung des Landes stark miteinander verbunden sind, schaut man nur auf die »patriotische Pflicht«, die eine ganze Generation nach Afrika geführt hat.
Der Krieg dauerte 13 lange Jahre, von 1961 bis 1974. Er brachte fast 800.000 junge Portugies*innen nach Afrika und etwa 500.000 afrikanische Soldat*innen traten den portugiesischen Streitkräften bei, um die Unabhängigkeitsbewegungen in drei verschiedenen Territorien zu bekämpfen: Angola, Mosambik und Guinea. Mit einer Bevölkerung von damals etwa 9 Millionen entsandte Portugal damit im Verhältnis zu seiner Größe etwa fünfmal so viele Soldat* innen nach Afrika wie gleichzeitig die USA nach Vietnam. Zum Ende des Krieges gab es auf dem afrikanischen Kontinent fünf neue Staaten (Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Cabo Verde und São Tomé und Príncipe) und Portugal erlebte einen politischen Machtwechsel. Am 25. April 1974 stürzte die Movimento das Forças Armadas (eine von den mittleren Militärdiensträngen gegründete Bewegung) die Diktatur des »Estado Novo«. Damit war die längste Diktatur Europas, die das Ende des Nazifaschismus und die Nachwehen des 2. Weltkriegs überstanden hatte, ohne effektive Gegenwehr Geschichte.
Zwei Besonderheiten sind an dieser Stelle hervorzuheben. Erstens: Das Militär spielte beim politischen Wandel Portugals eine zentrale Rolle. Diese enge Beziehung zwischen der Demokratisierung im Inland und dem Kolonialkrieg in Afrika, durch die grundlegende Bedeutung des Militärs für beide, befördert später die Auslöschung des Krieges aus dem öffentlichen Gedächtnis, vor allem die seiner blutigsten Aspekte. Zweitens: Indem sie Portugal eine politische Niederlage aufzwingen, sind es letztlich die afrikanischen Befreiungsbewegungen, die dafür sorgen, dass Portugal nicht länger Kolonialmacht bleibt. Diese offensichtliche Tatsache ist aus dem öffentlichen Gedächtnis des Landes verschwunden.
Die Erinnerung an den Krieg (und der Verlust derselben) ist in Portugal Teil des nationalen Gedächtnisses, das sowohl den systemischen Rassismus als auch die Selbstwahrnehmung als ein ehemals großes Land nährt. Im Alltagsdenken lebt das Narrativ der »Begegnung der Kulturen« zwischen den Portugies*innen und den Menschen, denen sie in Afrika, Amerika und Asien »begegneten«, fort. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass Portugal sich für ein Land der »Sanftmütigen« und eine grundsätzlich nicht-rassistische Gesellschaft hält, was wiederum Sklaverei, Ausbeutung und Kolonialherrschaft verschleiert.
Neuer Schwung in der Debatte
Seit 2017 hat eine Reihe von Kontroversen neuen Schwung in die Debatte um die Kolonialvergangenheit gebracht. Im April 2017 besuchte Präsident Marcelo Rebelo de Sousa die senegalesische Insel Gorée, von der aus versklavte Afrikaner*innen über den Atlantik verschleppt wurden. Dort verwies er auf das Jahr 1761 und auf die angebliche Vorreiterrolle Portugals bei der Abschaffung der Sklaverei. Tatsächlich endete damals allerdings nicht der Sklav*innenhandel im gesamten Großreich Portugals, sondern nur jener ins Mutterland (der Sklav*innenhandel konzentrierte sich damit auf Brasilien als Zielgebiet). Diese Aussage führte zu einem offenen Brief, dessen Unterzeichner*innen diese »romantisierte und ungewöhnliche Sicht auf das koloniale Erbe der portugiesischen Geschichte« kritisierten.
Im selben Jahr wurde in Lissabon eine Statue von Padre António Vieira errichtet, die den Jesuiten mit Kreuz in der Hand und südamerikanischen Kindern zu Füßen darstellt. Diese Statue sollte wiederholt zu Protesthandlungen führen, zuletzt als 2020 Unbekannte das Wort »entkolonisieren« auf die Statue schrieben und kleine rote Herzen auf die drei Kinder malten. Ebenfalls 2017 schlug Djass, eine Vereinigung von Afro-Portugiesischen Bürger*innen, ein Denkmal für die Versklavten vor. Der Vorschlag wurde angenommen. Das Siegerprojekt wurde von Kiluanji Kia Henda vorgelegt, einem angolanischen Künstler. Es befindet sich derzeit in der Umsetzungsphase.
Kurz danach wurde angeregt, in der Stadt ein »Museum der Entdeckungen« zu gründen, was eine lebhafte Debatte entfachte. Dieser Vorschlag zur Förderung des Hauptstadttourismus wurde von den Sozialist*innen vor den Lokalwahlen eingebracht, die sie später gewannen. In Teilen der Zivilgesellschaft und akademischen Kreisen regte sich Widerstand gegen den Namen »Museum der Entdeckungen«. Ein offener Brief legte dar: »Haben sich die Bevölkerungen Afrikas, Asiens, Amerikas mit ihren jahrtausendealten Kulturgeschichten von den Portugies*innen »entdeckt« gefühlt? Und wie fühlen sich diese Menschen heute, wenn sie ein Museum besuchen, das ihren Vorfahren jede historische Initiative abspricht und sie in ihrer Bedeutung auf die oft gewaltsame ›Entdeckung‹ durch Portugal reduziert?« Gleichzeitig war ein erheblicher Teil der Pressestimmen bei diesen Themen darauf erpicht, die Rolle der Überseeexpansion für die nationale Identität zu bestärken und zensierte die engagierten Vertreter*innen der öffentlichen Meinung, die dem Thema mit Reue begegnen.
Die Parlamentswahl von 2019 hat einige Neuerungen hervorgebracht. Erstmals wurden drei schwarze Frauen in die Volksvertretung gewählt: Beatriz Gomes Dias (Bloco de Esquerda/Linksblock), Joacine Katar Moreira (LIVRE, links-grün) und Romualda Fernandes (Partido Socialista/Sozialistische Partei). Gleichzeitig hat die extreme Rechte mit der Wahl von André Ventura ein nie da gewesenes Maß an politischer Repräsentation erreicht. Er vertritt die neugegründete Partei Chega. Genau wie die überall auf der Welt auftauchenden Populist*innen aus dem rechten Spektrum nutzt Chega strategisch Gefühle sozialer Ungerechtigkeit und stützt sich dabei auf einen Diskurs über »korrupte Eliten«. Dieser Diskurs erhält nicht nur die Strukturen der kapitalistischen Ausbeutung, sondern nimmt immer homophobere und rassistischere Züge an, insbesondere gegen Communities von Schwarzen und Roma. Nach Demonstrationen nach dem Mord an George Floyd und der Entrüstung über rassistische Gewalttaten im eigenen Land, die wiederum zu großen antirassistischen Demonstrationen in Portugal führten, organisierte Chega Gegenveranstaltungen unter dem Motto »Portugal ist nicht rassistisch« und versucht, mithilfe der Kolonialgeschichte den Nationalstolz zu mobilisieren.
Wie geht es weiter?
Das heutige Portugal ist nicht mehr die kolonisierende Großmacht, die es – trotz seiner Lage an der Peripherie – weite Teile des 20. Jahrhunderts über war. Doch in Portugal ist heute noch eine verklärte Selbstwahrnehmung als einflussreiches Land verbreitet, die viele Positionen zur eigenen Identität und Geschichte signifikant beeinflusst. Die verleugnete Kolonialgeschichte äußert sich in verbreitetem Rassismus, in der Polizeiarbeit, Wohnpolitik und Segregation, der Gesetzgebung, im politischen Diskurs und der Selbstdarstellung des Landes, die seine Einwohner*innen und ihre Geschichtssicht prägt. Die endlose Reproduktion eines ewig gleichen Narrativs wurde in den letzten Jahren infrage gestellt, allerdings ist die zukünftige Entwicklung der Debatte nur schwer abzusehen. Wir wissen nur, dass sie in der portugiesischen Politik auch in Zukunft eine Rolle spielen wird.
Miguel Cardina ist Historiker am Zentrum für Sozialstudien der Universität Coimbra und Koordinator des Projekts CROME (Crossed Memories, Politics of Silence. Die Kolonialbefreiungskriege in postkolonialen Zeiten), finanziert vom Europäischen Forschungsrat. Er ist Mitglied von Cultra, der portugiesischen Mitgliedsorganisation des transform! europe Netzwerks, mit dessen Unterstützung dieser Text übersetzt und bearbeitet wurde.