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Thomas Keck war der Lebenspartner des 1991 verstorbenen Schriftstellers Ronald M. Schernikau, dessen künstlerischen Nachlass er betreut und herausgibt. Die Volksstimme hat ihn anlässlich des Schernikau-Jahres 2020/21 zum Gespräch gebeten.
In wenigen Monaten geht das »Schernikau-Jahr« – 60. Geburtstag im Juli 2020 und 30. Todestag im Oktober 2021 – zu Ende. Wie ist es heute um die Bekanntheit des Autors bestellt?
THOMAS KECK: 30 Jahre … das ist schon verrückt, oder? Damals gab es zwei, drei Zeitungsmeldungen anlässlich seines Todes, weil doch vereinzelt noch in Erinnerung war, dass er im Herbst 89 die Staatsbürgerschaft der DDR angenommen hatte, ein paar Tage vor ihrem Ende. Dieser Umzug war bis Tokio groß im Feuilleton. Dabei war er nicht kalkuliert, kein Pressecoup, sondern natürlich aus innerster Überzeugung und gegen alle Widerstände aus West und Ost, grade auch der Partei, von langer Hand vorbereitet; der Zeitpunkt war Zufall.
Nicht ganz dieses Echo, aber doch jeweils starkes hatte die »Milva der deutschen Literatur«, eine schnell Kult gewordene Selbstbezeichnung, bis dahin mit KLEINSTADTNOVELLE und DIE TAGE IN L., der Erzählung eines schwulen Comingout, als der Begriff noch nicht im Schwange war, in der westdeutschen Provinz und dem Essay über die systembedingte Sprach- und Verständnislosigkeit zwischen DDR und BRD. Und auf dem Schreibtisch hatte er bei seinem Tod nach acht Jahren Arbeit fertig, aber ohne Verlag, den Riesenroman LEGENDE liegen.
Anfang der neunziger Jahre krähte kein Hahn nach solcher emanzipierter und heiter unbeirrbar um wirkliche Emanzipation werbender Literatur. Wer damals gestorben war, war wirklich, wenn du mir das unmögliche Wort erlaubst, töter als tot. Schon die Lebenden, die nicht ausführlich coram publico Abbitte geleistet hatten, waren ja nicht bloß an den Rand, sondern rausgedrängt worden aus dem Betrieb und damit in ihrer Existenz geschädigt, so, dass etwa Gisela Elsner, langjährige enge Freundin von Schernikau, keinen Weg mehr für sich sah als den Freitod. An eine Publikation von LEGENDE war nicht zu denken, alle, wirklich alle Verlage hatten abgelehnt.
LEGENDE konnte erst Jahre später erscheinen, dank einer Subskriptionskampagne, an der sich u. a. Peter Hacks und Elfriede Jelinek beteiligten.
THOMAS KECK: Ja, die Zeiten ändern sich, wir ändern sie, um einmal Schernikau zu zitieren: »Eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts«. Und je undurchlässiger betoniert der Sieg des Westens schien, desto beharrlicher begannen die Leute, Alternativen zu suchen. 1999 hatte es noch starker Worte von Peter Hacks und Elfriede Jelinek und einer Woge der Solidarität bedurft, um mithilfe von 500 Subskribierenden die Erstveröffentlichung zu erzwingen. Heute haben wir, schon seit zwei Jahren, LEGENDE ausführlich kommentiert als ersten Band der im Berliner Verbrecher-Verlag in Arbeit befindlichen Schernikau-Werkausgabe vorliegen.
Wir blicken zurück auf erfolgreiche Theaterabende wie die ausschließlich aus Originaltexten zusammengestellte Schernikau-Collage DIE SCHÖNHEIT VON OSTBERLIN am Deutschen Theater in Berlin und eine Bühnenadaption von LEGENDE an der Berliner Volksbühne, beide auch überregional hoch gelobt. Nicht zu vergessen die populäre Biographie von Matthias Frings. Es liegen auch Übersetzungen von KLEINSTADTNOVELLE ins Italienische und ins Spanische vor. Schernikau ist zunehmend präsent in der Literaturwissenschaft und den Genderwissenschaften.
Ihr habt in den 1980er Jahren oft gemeinsam Wien besucht. Wo habt ihr gewohnt, wenn ihr hier wart, und wie habt ihr in Wien eure Zeit verbracht?
THOMAS KECK: Grinzing war unser Frühjahrs-, Sommer- und Herbstwohnsitz. Das hat mit meiner Herkunft aus Wien zu tun – ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe das Max-Reinhardt-Seminar besucht – und mit der Tatsache, dass meine Eltern ein bisschen Platz in Gestalt eines Gartenhauses hatten, das ihnen in ihren mittleren Jahren nicht ganz so wichtig war, als sie in ihren Urlauben lieber auf Reisen gingen. Ein wunderbarer Ort, parzellierter Weingartengrund mit einem kleinen Holzhaus, das mein Großvater in der globalen Krise der dreißiger Jahre gebaut hatte.
Wir haben oft Monate dort verbracht, die Idee und große Teile von LEGENDE sind in Grinzing entstanden. Schernikau hat hier Wittgenstein gelesen und, stöhnend zwar, aber auch mit Lust und großem Gewinn, Hegel – »Wer sich den Luxus erlauben kann, sollte unbedingt Hegel lesen.« – neben der Volksstimme natürlich, die wir als Tageszeitung abonniert hatten, und der ganzen österreichischen Literatur rauf und runter: Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker, H. C. Artmann, Ernst Jandl und Andreas Okopenko, Michael Scharang und Peter Turrini und Elfriede Jelinek.
Elfriede Jelinek war von all diesen SchriftstellerInnen am wichtigsten für ihn.
THOMAS KECK: Schernikau hat Jelinek sehr genau verfolgt, er kannte und schätzte sie von ihren frühesten Texten beginnend. Ich habe eine Lesung der »Liebhaberinnen« erarbeitet in Westberlin, eine schöne, scharfe, lustige Sache, aber je näher die Premiere rückte, desto mehr hatte ich den Eindruck, irgendwas daran stimmt nicht. Also bat ich ihn auf eine Probe. Und er lachte sehr und fand das alles ganz wunderbar und sagte nur: »Du bist zu lang.« Setzte sich hin und strich das Buch, das ich auswendig kannte, auf die Hälfte zusammen, ich schreiend daneben, weil damit natürlich auch die Hälfte der krassen Pointen entfiel. Was soll ich sagen: er hatte Recht. Dieser beherzte dramaturgische Zugriff fehlt mir bis heute, ich bin wohl eher der Peter Stein von uns beiden.
Er hat immer nach Gründen gesucht, sie zu treffen, aber erst, als er ihr DIE TAGE IN L. schicken und damit seinen Umzug in die DDR melden konnte, hat er sich wirklich an sie gewendet. Spät also kam es zu dieser Begegnung, die Elfriede Jelinek sehr schön irgendwo schildert.
Seid ihr in Wien auch direkt mit der KPÖ in Berührung gekommen, etwa am Volksstimmefest? Gibt es Wien-Bezüge, etwa in LEGENDE, die es noch zu entdecken gilt?
THOMAS KECK: Ah, das Pressefest Ende des Sommers, wo auch immer die PoetInnen auftraten, Hand in Hand quasi mit der internationalen Box-Elite und den »kackengeilen«, wie er sagte, Judokas. Von ihnen sammelte er auch Fotos zwischen seiner Korrespondenz und den Manuskripten; die Mengen an Handzetteln, Pamphleten, Aufrufen zu Demos, die wir mitnahmen von dort, Zeugnisse des politischen Tageskampfes.
Ich muss es hier einstreuen, weil es so gut passt, obwohl natürlich kein Wien-Bezug im Speziellen: In LEGENDE gibt es einen kleinen Text, den er als Siebzehnjähriger für seine Parteigruppe in Hannover geschrieben hat, da sitzen die Tugenden beisammen und streiten, so nach dem Motto: »Ich bin die erste Sängerin«, wer unter ihnen die Größte sei, bis der Kampf diesen Rang beansprucht und sie ihn wählen, denn schließlich erschafft erst sein Zutun eine Welt, in der ihr Strahlen wirklich sinnvoll werden wird.
Ich will noch eine kleine Anekdote erzählen: Schernikau hatte großen Respekt, andere würden sagen, eine Phobie vor Kirchen. Er hat mir erzählt, er hätte noch nie eine betreten. Eines Tages bat er mich, ihn in den Stephansdom zu begleiten. Hand in Hand gingen wir also, nein, wir tasteten uns durchs Riesentor, und wie er sich diesen Raum eroberte, architektonisch und gleichermaßen die Andächtigen, deren Haltungen er respektvoll nachahmte, um ihren Sinn zu erfassen, vom Stecken der Votivkerzen bis zum Knien vor Altären, das gehört zu meinen unauslöschlichen Erinnerungen an ihn. Aufgehoben in LEGENDE.
Schernikau wird heute von der Jungle World und der jungen Welt gleichermaßen geehrt und gefeiert. Er ist sowohl für antideutsche Linke als auch für traditionelle MarxistInnen eine »Identifikationsfigur«. Hast du eine Vorstellung, wie er sich selbst in heutigen politischen Debatten verorten würde?
THOMAS KECK: Du sagst es, aber wer soll das beantworten? Oder so: Schon in Kleinstadtnovelle ist eben nicht das Comingout dieses Provinzkindes die unerhörte Begebenheit, die der Titel suggeriert, sondern das, was über das bloß Zeit- und Entwicklungsgebundene hinausweist, die Emanzipation zum politisch denkenden und agierenden Menschen. Das ist es, was die Geschichte für immer mit Gewinn lesbar macht.
Noch für die kleinsten Artikel, die wir in KÖNIGIN IM DRECK zusammengestellt haben, gilt das, die Interviews mit Betroffenen in dem Beitrag über die Arbeit mit AIDS etwa, die Gespräche mit Cox Habbema und Ingrid Caven, das alles war tagesaktuell und wäre längst veraltet, aber die Leute sprechen, und Schernikaus Zugriff ist immer für morgen und übermorgen. LEGENDE ist ganz Westberlin auf tausend Seiten, aber niemand wird auf die Idee kommen, sie als Westberlin-Roman zu lesen. Ursula Püschel, eine deutsche Literaturwissenschafterin, hat 2014 geschrieben: »Schernikau ist Weltliteratur.« Und wenn wir jetzt kurz an Homer denken, dann haben wir auch die Antwort: als Dichter.
Der Berliner Verbrecher-Verlag bringt seit 2009 Werke aus Schernikaus Nachlass heraus. Wie geht es mit der Werkausgabe weiter, die ihr 2019 mit LEGENDE begonnen habt?
THOMAS KECK: Es wird noch ein, zwei Jahre dauern. Wir bereiten gerade eine Ausgabe seiner Briefe vor. Der Tod Schernikaus fällt mit dem Ende des Briefzeitalters zusammen, und wir haben im Archiv der Akademie der Künste Berlin, wo der Nachlass dauerhaft untergebracht ist, an die tausend von ihm erhalten. Das wird ein Buch!
Interview: Manfred Mugrauer
Thomas Keck wurde 1956 in Wien geboren. Nach dem Studium am Max-Reinhardt-Seminar folgten Engagements in Oldenburg, Marburg, Salzburg, Wien und Berlin. Seit 1982 lebt er in (West)Berlin, wo er freiberuflich als Schauspieler und Regisseur arbeitet. Er ist Herausgeber der fünfbändigen »Berlinischen Dramaturgie« der von Peter Hacks geleiteten Arbeitsgruppen an der Akademie der Künste der DDR, Verwalter des Nachlasses von Ronald M. Schernikau und betreut die Website schernikau.net.
Von Marian Demitsch.
Die Wahl der Österreichischen Hochschüler_innenschaft (ÖH) im Jahr 2021 ist geschlagen und die Feierlichkeiten gut überstanden. Und zu feiern gab es aus linker Perspektive wahrlich einiges. Spekulierten manche bereits im Vorfeld angesichts der zu erwartenden geringen Wahlbeteiligung mit einem guten Ergebnis des Kommunistischen Student:innenverbands – Linke Liste (KSV-LiLi), so übertraf dieses am Abend des 20. Mai jedoch alle Hoffnungen.
So konnten in der ÖH-Bundesvertretung (BV) trotz des Abfalls der Wahlbeteiligung von 25 auf 15 Proeznt die absoluten Stimmen gesteigert werden. Die Mandatszahl verdoppelte sich damit auf zwei Mandate. Auch in der Universitätsvertretung der Uni Wien konnte erstmals ein drittes Mandat errungen werden. Als neue drittstärkste Fraktion konnte der KSV-LiLi sowohl die Neos-Studierenden als auch die ÖVP-Aktionsgemeinschaft hinter sich lassen. Die neue Innsbrucker KSV-LiLi-Gruppe konnte bei ihrem ersten Antritt noch nicht in die Universitätsvertretung einziehen, war dort aber bereits auf Anhieb stärker als RFS und KSV-KJÖ. Nicht zuletzt kann auch auf das Ergebnis an der Universität für Angewandte Kunst Wien hingewiesen werden, an der KSV-LiLi stärkste Fraktion auf BV-Ebene wurde.
Trotz des starken linken Ergebnisses lässt eine kommunistische Beteiligung an der Exekutive der ÖH-BV zunächst noch auf sich warten. Nach langen Gesprächen wurde den Verhandler:innen des KSV-LiLi schließlich mitgeteilt, dass auf ihre Forderungen nicht eingegangen wird. Statt einer Kampagne zur Sichtbarmachung von Prekarität unter Studierenden oder der Etablierung eines Referats für antifaschistische Gesellschaftskritik beschränken sich VSStÖ und GRAS lieber auf ein »Rebranding« der ÖH.
Erfolgreicher verliefen die Koalitionsverhandlungen für den KSV-LiLi an der ÖH Uni Wien. Trotz des klaren Wunsches der Neuauflage der großen Viererkoalition, in der auch die GRAS vertreten war, einigte man sich hier schließlich auf ein Bündnis mit dem VSStÖ mit Beteiligung der linken Basisgruppen. Neben der »Fight Precarity!«-Kampagne konnte hier etwa ein Antirassismus-Kongress, das Bekenntnis zum Kampf für kritische Rechtsextremismusforschung und erneut die starke Förderung von emanzipatorischen, linken Projekten durchgesetzt werden. Damit sorgt der KSV-LiLi weiterhin innerhalb der linken Koalition an der ÖH Uni Wien für radikale linke Politik, die den Anspruch hat, gesellschaftliche Verhältnisse aktiv zu kritisieren und zu überwinden.
Marian Demitsch (25) studiert Soziologie an der Uni Wien und ist Aktivist von KSV-LiLi.
Unter der Losung »Was tun!« trat der 38. Parteitag der KPÖ zusammen. Fortan wird eine neue Generation Gesicht und Politik der Partei prägen.
Von Michael Graber und Mirko Messner
Drei Mal musste er verschoben werden, am 19. und 20. Juni konnte er endlich stattfinden. An diesem heißen Wochenende versammelten sich rund 150 Kommunist* innen in der VHS Liesing, um den 38. Parteitag der KPÖ durchzuführen. Es war damit auch das erste größere Zusammentreffen der Partei seit Beginn der Corona-Zeit, das endlich auch wieder die Atmosphäre des kollektiven Beratens, Diskutierens und Entscheidens spürbar werden ließ. Delegierte aus allen Bundesländern und Vertreter*innen befreundeter Organisationen waren gekommen. Das Bedürfnis, einander wieder zuzuhören, war an der großen Aufmerksamkeit im Saal abzulesen. Während bei den Parteitagen anderer Parteien, aber oft auch bei Parteitagen der KPÖ in der Vergangenheit, die Musik, also die eigentlich relevanten Diskussionen, in den »Couloirs«, d. h. in den Nebenräumen oder beim Buffet spielte, war das diesmal ganz anders.
Generationswechsel
Es war auch deshalb ein besonderer Parteitag, weil er einen Einschnitt und einen neuen Ausgangspunkt in der Entwicklung der KPÖ bedeutet. Der Einschnitt ergab sich daraus, dass er mit einem gründlichen Generationswechsel in den leitenden Gremien verbunden war. Mirko Messner, der seit 2006 Bundessprecher der KPÖ war, kandidierte nicht mehr für diese Funktion. In gewisser Weise trat die »Nach-68er-Generation« ab, zu der auch der ehemalige Parteivorsitzende Walter Baier und der langjährige Finanzreferent Michael Graber gehören. Sie wurden vom Parteitag mit viel Applaus aus ihren Funktionen verabschiedet.
Motivierende Wahlerfolge
Eröffnet wurde der Parteitag von Michael Graber. Er verwies unter anderem auf den Plan, das Arbeitslosengeld auf 40 Prozent Nettoersatzrate zu reduzieren, sowie auf den Hinauswurf von einem Drittel der Belegschaft im LKW-Werk in Steyr und die Lohnkürzungen von 15 Prozent für den verbleibenden Rest. Darin zeige sich beispielhaft die antisoziale Brutalität, mit der in den nächsten Jahren zu rechnen sein werde. Umso motivierender sei es, dass der Parteitag an einige bemerkenswerte wahlpolitische Erfolge in den letzten drei Jahren anknüpfen kann: Wiedereinzug in den Salzburger Gemeinderat mit KPÖ Plus, Erringung der Vertretung der Alternativen Liste Innsbruck im Gemeinderat mit Unterstützung und Beteiligung der KPÖ, Ausbau der Vertretung im steirischen Landtag mit den zwei Mandaten, wobei das Dritte nur knapp verfehlt wurde, sowie das gute Abschneiden bei den steirischen Gemeinderatswahlen. Wahlerfolg bei den Wiener Bezirksratswahlen gemeinsam mit Links mit 23 Mandaten in 15 Bezirken, von denen neun statt bisher fünf von Mitgliedern der KPÖ gehalten werden. Der fulminante Wahlerfolg der Liste Schuh-KPÖ in Fischamend bei den Gemeinderatswahlen in Niederösterreich, wo mit 12 Prozent sogar die SPÖ überholt wurde, Stimmen- und Mandatszuwachs des Gewerkschaftlichen Linksblocks bei den Arbeiterkammerwahlen usw. Insgesamt, so berichtete Florian Birngruber dem Parteitag, hält die KPÖ derzeit 115 kommunale Mandate, davon 80 in der Steiermark. Und dann gab es vor wenigen Wochen bei den Wahlen zur Österreichischen Hochschüler*innenschaft (ÖH) den Wahlerfolg von KSV-LiLi mit drei Mandaten und absoluten Stimmengewinnen trotz niedriger Wahlbeteiligung an der Universität Wien, der größten Uni im deutschsprachigen Raum. KSV-Lili wurde damit drittstärkste Fraktion, noch vor den ÖVP- Student*innen, und ist erstmals auch im Universitätssenat, dem wichtigsten Gremium der Uni Wien, vertreten. In der Bundesvertretung der ÖH konnten die beiden kommunistischen Listen (KSV-Lili und KSV-KJÖ) ihre Mandate von zwei auf vier verdoppeln.
KPÖ nicht allein zu Haus
Mirko Messner und seine bis 2012 Ko-, danach stellvertretende Bundessprecherin Melina Klaus, die ebenso wie die Stellvertretenden Christiane Maringer und Michael Schmida nicht mehr kandidierte, referierten den Rechenschaftsbericht gemeinsam.
Heute, so Messner, unterscheidet sich die politische Landschaft stark von jener in den vergangenen Perioden: Einerseits ist die KPÖ wie alle Linksparteien mit einer globalen Umbruchsituation konfrontiert, in der sich vielfältige Krisen ineinander verflechten und insgesamt durch die ökologische Krise vertiefen, und in der die Linke weltweit ihren Platz finden muss. Andererseits ist die KPÖ in der österreichischen politischen Landschaft nicht mehr allein, was den organisierten politischen Raum links von SPÖ und Grünen betrifft. Beides vergrößere immens die Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit der Partei, erfordere neue Ansätze der Organisierung gegen eine Rückkehr zur alten Normalität, für soziale Alternativen, für bedingungslose soziale Existenzsicherung.
Melina Klaus thematisierte auch den Begriff der Aktivist*innenpartei. Nach dem Verlust des angestellten Apparats seien Sprecher und Sprecherin 2006 als Ehrenamtliche angetreten. Auch wenn es nicht ideal sei, so eine Funktion als Ehrenamt auszuüben, hätten sie hoffentlich aus der Not eine Tugend gemacht – wobei eine stringente bundespolitische Arbeit ohne politischen Apparat zu leisten sich allerdings als fast nicht zu leistende Aufgabe herausgestellt hätte. Bewährt habe sich die Aktivist*innenpartei, was die vielfältige, in hohem Maß eigenverantwortliche Tätigkeit der Kommunist*innen auf regionalen Ebenen betrifft. Jedenfalls, so Klaus abschließend, hätten sie die Partei vor allem als eines geschätzt: als pluralistische Partei. Dies nicht nur zu erhalten, sondern konstruktiv zu nutzen – diesen Wunsch gab sie weiter.
Neue Generation, neuer Sprecher*innenrat
Adressat dieses Wunsches ist neben dem neuen Bundesvorstand nun auch ein neuer sechsköpfiger Sprecher*innenrat aus jungen, aber politisch erfahrenen Genoss*i nnen. Sie erhielten bei der Wahl in den neuen Bundesvorstand einen großen Vertrauensvorschuss. Das Gesicht der Partei wird sich dadurch wesentlich verändern, liegt doch das Durchschnittsalter des Sprecher*innenrats bei 38 Jahren. Zwei der neuen Sprecher*innen kommen aus der Jungen Linken, der Nachfolgeorganisation der Jungen Grünen nach 2017, deren Bundessprecher*innen sie waren: Sarah Pansy und Tobias Schweiger. Katerina Anastasiou war Spitzenkandidatin der KPÖ bei den Europawahlen des Jahres 2019, Natascha Wanek und Günther Hopfgartner gehörten schon bisher dem Bundesvorstand der KPÖ an, Rainer Hackauf ist seit Beginn dieses Jahres für die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesvorstands zuständig. Heidi Ambrosch wurde als Frauenvorsitzende bestätigt und Florian Birngruber als neuer Finanzreferent und Bundeskoordinator gewählt. Allesamt einstimmig in der konstituierenden Sitzung des Bundesvorstands, die wie im mer am Parteitag selbst abgehalten wurde.
Das Konzept »Organizing«
Ein neuer Ausgangspunkt für die KPÖ besteht in der politischen Orientierung, wie sie am Parteitag rund um das Konzept des »Organizing« beschlossen wurde. Es geht dabei um die Mobilisierung und Aktivierung der Partei, ihrer Mitglieder und Aktivist* innen auf allen Ebenen – mittels der Formulierung konkreter politischer und sozialer Vorhaben, die zusammen mit anderen gesellschaftlichen Kräften erreichbar und durchsetzbar sind und zum Wachsen der Organisation und der Gewinnung neuer Mitglieder beitragen sollen. Dazu sollen neben den Grundorganisationen auch offene Arbeitsgemeinschaften gebildet werden, die sich um konkrete Vorhaben kümmern. Namens des Sprecher*innenrats formulierte Tobias Schweiger das Ziel, bis zum nächsten Parteitag – also in drei Jahren – die Zahl der Mitglieder wieder annähernd auf 2.000 zu bringen. Die KPÖ für Frauen attraktiver zu machen, steht auf der Prioritätenliste ganz oben.
»Wer will, dass die KPÖ so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt«
Der neue statutarische Vorsitzende der KPÖ und Mitglied des Sprecher*innenrats Günther Hopfgartner fasste seine Positionen in Abwandlung eines Zitats von Erich Fried so zusammen: »Wer will, dass die KPÖ so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.« Die Herausforderung bestehe in der Formulierung einer »transformatorischen Sozialpolitik«, die die Möglichkeit einer solidarischen Gesellschaft sicht- und erfahrbar mache. Dazu beschloss der Parteitag auch eine Neufassung des Dokuments mit dem Titel »Solidarische Gesellschaft«, das die programmatische Richtung skizziert.
Parteitage, auch die der Kommunist*innen, haben ihre Rituale und meist auch ein fest gefügtes überkommenes zeitliches Korsett. Große Aufregung herrscht natürlich dann, wenn plötzlich etwas umgestoßen wird. Als sich nach einigen Wortmeldungen zur Generaldebatte herausstellte, dass keine Frauen dabei waren – es gilt in der KPÖ seit vielen Jahren das Reißverschlusssystem –, forderte die Frauensprecherin eine Auszeit, um den anwesenden Frauen unter den Delegierten Zeit und Raum zu verschaffen, sich besser in die Diskussion einzubringen. Daraufhin mussten die Männer eine Zeit lang den Saal verlassen, bis es weitergehen konnte. Die Intervention war erfolg- und lehrreich.
Das Alltägliche patriarchaler Hierarchien und die Konsequenzen für die Gefühle der Männer und die Leben von Frauen.
Von Daniel Sanin
Wie kommt es, dass »wir« in Österreich in diesem Jahr schon 14 (bei Erscheinen dieses Textes vielleicht gar schon mehr?) Frauenmorde hatten? Ich möchte mich dem Versuch der Beantwortung dieser Frage über verschiedene Ebenen annähern. Es gibt zum einen einen realpolitischen Hintergrund, der darin besteht, den Opferschutz und die Täter arbeit seit Jahren fast auf Feigenblatt-Niveau zu finanzieren; dann gibt es eine gesellschaftspolitische Dimension, nämlich die Dominanz eines Männlichkeitstyps auf politischer Ebene, der ungeniert die eigene phallische Macht zur Schau stellt, ohne die üblichen Schleier von Stil, Klassenbewusstsein (Standesdünkel), Höflichkeitsformen usw. darüberzulegen. Diese Männer, für die Donald Trump den Prototyp darstellt, leben absolut ungefiltert ihre phallische Macht aus und können sich so sogar sexueller Belästigung rühmen. Sebastian Kurz hingegen hat etwas Bübisches, daher bemerkt man diesen Zug bei ihm nicht so, er täuscht mit jugendlicher Unschuld. Dahinter jedoch lungert genauso die unverstellte Machtgier, die nichts und niemandem verpflichtet ist, außer jenen Elementen und Personen, die für den eigenen Machterhalt gerade notwendig sind. Die Dominanz solcher Männer in den sichtbarsten Positionen, die, koste, was es wolle, ohne Kompromisse, ihr »Ding« durchziehen, leben vor, was möglich ist.
Hierarchie der Köper
Das schlägt durch auf die dritte Ebene, der ich mich nun widmen möchte, die psychische. Was diese Männlichkeit unter anderem nämlich auszeichnet, ist ein Gefühl der Berechtigung und das Ausleben davon. Dieses Gefühl ist »normaler« Bestandteil (westlicher) männlicher Sozialisation und Männlichkeit. Die patriarchale Weltsicht stellt alle als männlich identifizierten Menschen auf einen Sockel. Daraus ergibt sich eine narzisstische Erhöhung, welche viele gesellschaftliche, soziale und individuelle Probleme generiert und/oder mitbestimmt. Durch diese Erhöhung wird der Mann zum Eroberer der Welt und zu ihrem Herrscher. Die Frau ist Teil dieser Welt, aber nicht als gleichberechtigtes Subjekt, sondern als Teil der Landschaft, als Teil des zu Erobernden. Das wirkt sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus, von der geringeren Entlohnung, der niedrigeren Stellung von »Frauenberufen«, bis hin zur symbolischen Unterordnung, wodurch der weibliche Körper als weich (schlapp, schwach), offen (penetrierbar), voller eigenartiger (komischer, ekliger) Flüssigkeiten usw. gesehen wird und Jungs schon sehr früh erleben, dass »Du Mädchen!« eine Beleidigung sein soll.
Demgegenüber wird der männliche Körper als stark, hart, geschlossen, sowie aus- und zustoßend imaginiert. Aus dieser »erhabenen« Position nimmt er die Welt in Besitz – samt Frauen in ihr. Es ist sein Recht. Es steht ihm zu. Ganz »natürlich«. Von Kindesbeinen an. Selbst antisexistische Erziehung, das Vorleben von Gleichberechtigung, ein geschlechtssensibler Kindergarten und noch mehr kommen nicht gegen die ganze sexistisch strukturierte Welt an, das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen. Jungs spüren und erkennen, dass sie »besser« sind, dass sie auf keinen Fall ein Mädchen sein und nicht mal als ein solches bezeichnet werden möchten.
Zugang zu dieser privilegierten (aber prekären, immer auf Absicherung bedachten, aus Angst vor dem Fall beseelten) Position hat ein Individuum über den männlichen Körper, bzw. den Penis. An ihm macht sich der (Macht-)Unterschied fest, er ist der Fetisch der patriarchalen Macht. Kein Wunder, dass er so einen Stellenwert in der männlichen Psyche einnimmt, seine Glorifizierung wie auch die Verschleierung seiner Instabilität und Verletzlichkeit.
Hierarchie der Räume
Aus dem Gefühl heraus, das durch den patriarchalen, narzisstischen Sockel entsteht, ergeben sich spezifische Formen der Raumnahme, vom bequemen, breitbeinigen Sitzen im öffentlichen Raum bis hin zur Eroberung ganzer Landstriche. Dazu gehört auch der offene, unbeschwerte Blick, der das zu Erobernde auskundschaftet und vermisst. Männer schauen Frauen an. Für sie ist das ungefährlich. Dieses Frauen Anschauen ist Ausdruck einer (unbewussten) sorglosen Eroberungs- und Beherrschungshaltung, gespeist von Gefühlen der Verfügbarkeit und Berechtigung, von »männlicher Penetrationsenergie« (K. Hirr). Umgekehrt kann es für Frauen sehr wohl gefährlich sein, einem Mann offen ins Gesicht zu schauen. Das könnte als Aufforderung zur »Eroberung« aufgefasst werden und unangenehme bis lebensbedrohliche Folgen haben.
Die narzisstische Erhöhung der Männer im Patriarchat bildet den Boden männlicher Gewalt gegen Frauen und das Weibliche. Diese dient der (Wieder-)Herstellung von Herrschaft und Hierarchie durch Unterwerfung und Kontrolle. Und das drückt sich auch schon im »normalen« männlichen Blick auf der Straße aus.
Hierarchie der Gefühle
Die männliche Position gibt sich als stark, mächtig, kontrollierend, handlungsfähig usw. Alle Gegensätze davon müssen gegebenenfalls abgespalten werden, also Weichheit, Schwäche, Abhängigkeit, Unsicherheit, Angst, Ratlosigkeit etc. Die männliche Position ist also prekär, ständig bedroht, da sie sich durch Abgrenzung von ihren Gegensätzen konstituiert. Die Prekarität ergibt sich auch aus der sozialen Genese von Männlichkeit, im dem Sinne, dass sie sich als Kultur von der bloßen Natur abgrenzen muss. Die Natur wird demgegenüber als zirkulär und immerwährend gesehen. Die männliche Erhöhung muss durch imaginierte körperliche, geistige, soziale und emotionale Überlegenheit gerechtfertigt werden, welche – da nicht real gegeben – ebenfalls sehr brüchig ist. Der Schriftstellerin Margaret Atwood wird das Zitat zugeschrieben, dass Männer Angst davor haben, dass Frauen sie auslachen, während Frauen Angst davor haben, dass Männer sie umbringen. Dieses Lachen ist nämlich ein aufklärerisches, eines, das die Wahrheit ans Licht bringt und wo der Witz aus dem Kontrast zwischen Eingebildetem und Realem entsteht und ersteres in seiner Lächerlichkeit zutage tritt. Das männliche Korsett ist sehr eng, dieses Lachen attackiert den Kern der männlichen Identität, nämlich, dass er gar nichts besonderes ist, bloß ein Mensch, ganz anders, als Patriarchat, Mama, Papa und wer auch immer es ihn glauben ließ, nämlich ein Gebieter, Eroberer, Held oder was auch immer.
Alles, was den Selbstwert eines Individuums als es selbst steigert, ist gut, da es die Notwendigkeit, sich an Identitätskonstruktionen zu klammern, weniger dringlich macht. »Du bist gut, wie Du bist« ist eine heilsame und nährende Botschaft. Abstrakte Identitätsbotschaften wie: »Das machen Männer nicht«, »Bist ein Mann oder eine Maus?«, »Bist schwul oder was?« und ähnliches mehr signalisieren ein Nicht-Genügen des Individuums im Hinblick auf ein Ideal und werten den aktuellen Menschen ab. Wenn ein Mann wenig Selbstwertgefühl hat, können externe Kategorien, wie eben eine männliche Identität, umso wichtiger werden. Daher ist in diesem Fall der Schutz bzw. die Stabilisierung dieser exoskelettalen Elemente auch existentiell wichtig.
Hierarchie der Symbolik
Wie schon gesagt, dient Gewalt an Frauen bis hin zum Mord der Stabilisierung oder (Wieder-)Herstellung von Männlichkeit: Demütigungen können vermeintlich gesühnt, Kränkungen geheilt, Verletzungen versorgt, Ehre wieder hergestellt werden. Das ist zumindest die Phantasie dahinter. Die Realität sieht dann oft ganz anders aus, Existenzen sind zerstört, Beziehungen zerrüttet, Leben ausgelöscht. Das sind aber die Extrembeispiele, die, die in den Medien landen, vor Gericht usw. Auf sie können wir zeigen, mit Abstand. Sie sind dort, dort, wo wir nicht sind, es sind besondere Umstände, die sie dort hingebracht haben. Umstände, die nichts mit uns zu tun haben. Wir sind auf der guten Seite, auf der Seite des Normalen. Es sind auch Taten, die aus »Liebe«, »Verzweiflung«, »Rache« usw. begangen werden, aus Gründen also, die nachvollziehbar sind, die »wir« verstehen können. Diese beiden Elemente, die Abspaltung ins Abnorme und das Pseudo-Verständlichmachen durch Psychologisierung, dienen der Verschleierung der grundsätzlichen Problematik patriarchal-herrschaftlicher Männlichkeit, welche den Normalzustand stellt. Die Männlichkeit, die schlägt und mordet, ist keine andere, monströse Männlichkeit, es ist dieselbe wie die »normale«, »durchschnittliche«. Im alltäglichen »Abchecken« von Frauen, in der selbstverständlichen Raumnahme in den Öffis, im Mitlachen bei »Witzen«, im Bagatellisieren sexistischer Diskriminierung, im »Mithelfen« im Haushalt und bei der Kindererziehung (oder beim Ablehnen davon), im Konsum von Mainstream-Pornografie usw. steckt dieselbe Männlichkeit. Sie steckt aber auch in der Werbung, in Filmen (Kinderfilme!), Büchern (Schulbücher!), in der Aufteilung von Berufen, im Fernsehen, der Musik usw., also in allem.
Fazit
So gesehen kann es nicht nur darum gehen, sich um die Opfer von Männergewalt zu kümmern (großzügige Finanzierung und Ausbau der Frauenhäuser, Notrufe, Vernetzung mit der Exekutive etc.), sondern auch sich klarzumachen, dass die Männer, die in den Schlagzeilen landen, das tun, was im Kopf der anderen in manchen Situationen auch aufgeblitzt, aber aufgrund ausreichender Sublimierungs- und Verdrängungsmechanismen und sonstiger Ressourcen nicht umgesetzt wird. Jene setzen das durch, was das Patriarchat, in dem wir ja alle stecken, als Möglichkeit eben auch schlüssig denken und als Handlungsoption erscheinen lässt. Es muss folglich die materielle und symbolische Dimension des Patriarchats angegriffen werden, zum Wohle aller. Dazu bräuchten wir z. B. ein sofortiges Schließen des Gender Pay Gaps, Frauenquoten, die Aufwertung/Normalisierung/Entfetischisierung des weiblichen Körpers und die Hinwendung zu Beziehungen (jenseits klerikalfaschistoider Familienbilder) als zentralem Wert u.ä.m. Der letzte Punkt, die Beziehungen und ihre Pflege, was aktuell unter »Care« diskutiert wird, steht in Opposition zum kapitalistischen Verwertungsgedanken. Damit deutet sich ein Zusammenhang an, den ich hier nicht mehr ausführen kann, der aber eminent wichtig ist: Patriarchat und Kapitalismus sind zwei Seiten derselben Medaille (sie ist übrigens blechern). Feminismus sollte daher antikapitalistisch sein und Antikapitalismus feministisch.
Daniel Sanin lebt in Wien, ist klinischer Psychologe und arbeitet angestellt und selbständig im Sozialbereich.
Der frühere Volksstimme-Redakteur Ernst Fettner feiert seinen 100. Geburtstag.
Von Michael Graber
Nur wenige hundert Meter vom Sitz der Redaktion der Volksstimme entfernt wohnt Ernst Fettner. Der Hundertjährige empfängt den Besucher in seiner Wohnung rüstig und aufgeräumt wie immer. Warum sich mit dem Jubilar befassen? Er ist der einzige noch lebende Journalist, der die Anfänge der kommunistischen Presse nach 1945 erlebt und ihre Entwicklung mitgeformt hat. Ernst Fettner ist aber auch kompetenter Zeitzeuge zu den erlebten Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Dieses Leben begann in einer armen jüdischen Familie in Wien – die meisten Juden und Jüdinnen in Wien waren arm – und setzte sich früh in einem jüdischen Waisenhaus fort, da die Mutter gestorben war. Als Ernst wieder zur Familie seines Vaters zurückkehrte, wohnten neun Personen in der Zweizimmerwohnung. Von diesen überlebten nur zwei den Holocaust.
Wie Ernst Fettner mit KommunistInnen in Berührung kam? Er erzählt diese Geschichte nicht das erste Mal. Als jüdischer Jugend licher wurde er nach dem Einmarsch der Nazis in eine der »Reibpartien« gezwungen. Nachdem sich die jüdischen Beschäftigten der Schneiderwerkstatt, in der Fettner beschäftigt war, während des Pogroms am 10. November 1938 in einem Keller verbarrikadiert hatten, glaubten die Nazis, dies sei eine kommunistische Zelle. Fettner war zu dieser Zeit, so sagt er, völlig unpolitisch. Die Leute wurden verhaftet, und einer nach dem anderen wurde während des Verhörs geschlagen und gefoltert, weil sie leugneten, »Kommunisten« zu sein. Fettner versuchte es umgekehrt und gab zu, Kommunist zu sein. Er unterschrieb ein Geständnis, verpflichtete sich, das Land binnen eines Monats zu verlassen, und ersparte sich die Schläge. Seither ist er »dabei«.
In der Emigration und einer der Befreier
Eine jüdische Jugendorganisation ermöglichte Fettner im März 1939 die Flucht nach England. Er landete in Schottland, wo er einem landwirtschaftlichen Betrieb zugeteilt wurde. Später ging er nach Glasgow und stieß dort auf »Young Austria« und das »Austrian Center«, das sich – geführt von KommunistInnen – um die österreichischen Flüchtlinge kümmerte und für ein Wiedererstehen eines unabhängigen, demokratischen Österreich einsetzte. In diesem Umfeld entstanden auch Fettners erste journalistische Versuche. Er erstellte Wandzeitungen und verfasste Beiträge für den Zeitspiegel, die wichtigste Publikation der österreichischen Emigration in England und darüber hinaus.
Seine kommunistische Schulung erhielt er während der Internierung als »feindlicher Ausländer« auf der Isle of Man durch die dort inhaftierten Kommunisten. 1943 durften die Antifaschisten in die britische Armee eintreten, wozu »Young Austria« aufgerufen hatte, und Ernst Fettner kam als »Austrian Volunteer« zu den »Gordon Highlanders«. Mit dieser Einheit war er an der Befreiung Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Westdeutschlands beteiligt. Mit viel Glück überlebte er die Kämpfe.
Journalistische Anfänge in Kärnten
Nach dem Ende des Krieges, er war in Kärnten, rüstete Fettner ab, schloss sich der Freien Österreichischen Jugend (FÖJ) und der KPÖ an und meldete sich bei der Redaktion des Volkswillen, der damaligen KPÖ-Tageszeitung für Kärnten. »In dieser kleinen Redaktion musst du alles schreiben, von Chronik bis zur Politik«, fasst er diese Erfahrung zusammen; und Recherche außerhalb Klagenfurts sei nur mit dem Rad möglich gewesen. Damit begann seine journalistische Laufbahn, die nur drei Jahre unterbrochen wurde, als auch in der KPÖ am Höhepunkt des Kalten Krieges das Misstrauen gegenüber der englischen Emigration grassierte.
Ernst Fettner kehrte mit seiner Frau nach Wien zurück und verdingte sich als Metallarbeiter bei Steyr, wo er unverzüglich eine Betriebszeitung gründete. Knapp vor der Wahl in den Betriebsrat holte ihn 1955 der damalige Chefredakteur der Volksstimme, Erwin Zucker-Schilling, in die Redaktion des damaligen Zentralorgans der KPÖ.
Innenpolitiker im Zentralorgan
Zunächst wurde ihm die Lokalberichterstattung über Niederösterreich anvertraut. Später entwickelte sich Ernst Fettner zu einem der kompetentesten innenpolitischen Redakteure mit den Schwerpunkten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sein gewerkschaftliches Engagement brachte ihn bis ins Präsidium der Journalistengewerkschaft. »Wir haben mit dem Günther Nenning gegen den Willen der SPÖ gepackelt«, resümiert Ernst Fettner diese Episode.
1968 fiel ihm ausnahmsweise die Auslandsberichterstattung aus der Tschechoslowakei nach dem Einmarsch des Warschauer Pakts zu. Er konnte mit der Adresse eines Kinderheims, in dem sich seine beiden Söhne zwei Jahre zuvor im Sommer aufgehalten hatten, und mit einem Pass, in dem die Berufsbezeichnung »Journalist« durch »Angestellter« ersetzt war, einreisen, was damals auch für einen kommunistischen Journalisten aus der damals zunächst kritischen KPÖ nicht so leicht war. Allerdings wurden seine Pro-Dubček-Berichte in der Redaktion immer weniger berücksichtigt, da sich die Linie der KPÖ inzwischen wieder geändert hatte.
»Es gab zu viele Lügen«
Auch nach seiner Pensionierung blieb Ernst Fettner der Redaktion der Volksstimme bis zur Einstellung der Tageszeitung im März 1991 treu. In den Jahrzehnten danach war er ein gefragter Zeitzeuge und gab Interviews in verschiedenen Medien und sprach bei Veranstaltungen. Im Grazer Verlag Clio ist ein Buch über ihn in Vorbereitung. Zu den Fehlern der Vergangenheit in der Parteipresse meint Ernst Fettner: »Es gab zu viele Lügen«, allerdings vermisse er die Parteizeitungen, denn da wisse man, woran man ist. Der so genannte unabhängige Journalismus sei eine Chimäre, denn jeder, der schreibt, wolle überzeugen.
Sein politisches Credo gab Ernst Fettner 1998 in einem Erinnerungsbuch ehemaliger FÖJler:innen zu Protokoll: »Für die Linken ist die Lage derzeit nicht besonders rosig. Der Kapitalismus scheint zwar zu blühen, aber Blüten sind dazu bestimmt, abzusterben. Es wird an den nächsten Generationen liegen, die Welt entsprechend zu verändern und die Fehler der vergangenen Generationen nicht zu wiederholen.« Und später fügte er hinzu: »Dabei bleib ich.« Vor zwei Jahren starb seine zweite Frau, die ebenfalls viele Jahrzehnte in der Redaktion arbeitete.
Die Redaktion der Volksstimme gratuliert dem Jubilar, der seinen Hunderter am 29. Mai im Kreis seiner großen Familie feierte.
Eva Schörkhuber im Gespräch mit Heide Hammer über ihren neuen Roman Die Gerissene, das Papiertheaterkollektiv Zunder und Politisch Schreiben (PS)
Dein jüngster Roman, Die Gerissene, ist im Februar in der Edition Atelier erschienen. Die Ich-Erzählerin Mira ist sehr gegenwärtig, sehr tätig und zugleich distanziert, mitten drinnen und doch nicht voll dabei. Ist diese Distanz Miras zur Welt auch deine Distanz zur Figur?
EVA SCHÖRKHUBER: Der Schreibprozess an diesem Text dauerte vier Jahre. Dabei war Mira am Anfang eine sehr traurige, melancholische Figur. Meine Erstleser*in nen wünschten sich mehr zärtliches Zutrauen in sie. In der Komposition des Schreibens, den Wiederholungen und Schleifen, verdichtete sich für mich die Frage nach Freiheit: In welchem Namen wird Freiheit für wen durchgesetzt? Wenn wir von formalen Analogien sprechen, geht es weniger um einen Entwicklungs- als um einen Schelmenroman. Dafür gibt es wenige herausragende Vorbilder – Irmgard Keun und Irena Brežná –, die den Weg einer Schelmin beschreiben. Die üblichen Versatzstücke, eine Herkunft aus der Arbeiter*innenklasse oder die Ich-Erzählerin habe ich beibehalten. Auf ihrer abenteuerlichen Reise erfüllt Mira eine Spiegelfunktion, sie erfährt gesellschaftliche Dynamiken, lebt darin und zieht auch wieder weiter.
Wann geht Mira? Du kennst die Orte sehr gut, in denen die Geschichte spielt – Marseille, Oran, die Westsahara, Havanna – du hast sehr viel recherchiert. Inwiefern entzieht sich Mira, entziehen wir als jeweils privilegierte Menschen mit den richtigen Papieren uns einer globalen Veränderung?
EVA SCHÖRKHUBER: Ich habe für längere Zeit in diesen Städten gelebt, und neben den aktuellen Recherchen bin ich auch meine eigenen Notizen durchgegangen. Dabei ging es mir um ein Wissen und Erinnern lokaler Gegebenheiten, Erfahrungen und Begegnungen in einer konkreten Architektur und Geografie. Es geht zugleich auch nicht um meine Reisen, es ist keine wie immer fingierte Autobiografie, konkrete gesellschaftliche Möglichkeiten und Missstände sind ein durchgängiges Thema, wobei genau diese, wie du sagst, privilegierte Position, sozusagen »von Haus aus« mit den »richtigen«, den »guten« Papieren ausgestattet zu sein, stets mitverhandelt wird.
Die Mira des Romans geht, wenn ihr etwas durch die Finger rutscht, entgleitet oder wenn ihr Menschen zu nahe kommen, sie sich zu sehr an einem Ort verankert. In der geopolitischen Dimension der Flucht macht Mira Gegenbewegungen, sie geht in jene Ecken der Welt, aus denen die Leute tendenziell weg wollen: Algerien etwa, seine revolutionäre Geschichte und postkoloniale Gegenwart mit einem Machtsystem, worin die alten FLN-Kader [Front de Libération Nationale] und heutigen Militärs und Geheimdienste ebenso eine gewichtige, korrupte Rolle spielen wie der Erdölreichtum des Landes, der zwar langsam versiegt, aber insgesamt wohl eher ein Fluch für das Land war.
Oran, die größte Stadt im Westen, war früher, vor dem Bürger*innenkrieg, eine der liberalsten Städte Algeriens. Was ich auch beschreibe, sind die jungen Männer, die in den 1990er und frühen 2000er Jahren vom Land kamen und durch Gelegenheitsdiebstahl und Raubüberfälle ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, da es kaum andere Möglichkeiten für sie gibt. Viele, auch sehr gut ausgebildete Frauen und Männer kommen vom Land in die Stadt, weil es dort mehr Freiheiten gibt, wobei etwa in Oran nach dem Bürger*innenkrieg kein einziges Kino mehr existierte: Es handelt sich also immer um relative Freiheiten und Zwischenräume, die genutzt werden.
Und wieder einen ganz eigenen Kosmos bildet jenes UNHCR Camp, das seit vier Jahrzehnten im äußersten Südwesten Algeriens Schutzsuchende aus dem so genannten Westsahara-Konflikt beherbergt. Die Bewohner*innen leben in der Wüste, in einer Zelt- und Lehmhüttenstadt, ihre Zeit ist perspektivenlos. Zwar ist auch ihr Zugang zu Wissen sehr viel demokratischer geworden und manche verlassen das Niemandsland zum Studium in Frankreich oder einem anderen Land des globalen Nordens, dennoch ist die Anwendung dieses Wissens ein Nadelöhr. Nach ihrer Rückkehr hat sich an der alltäglichen Enge und den fehlenden Möglichkeiten nichts geändert.
Jedes Kapitel, jede neue Station beginnt mit sehr poetischen, philosophischen, auch melancholischen Sätzen: »[…] Etwas in Gang zu setzen, den Anstoß dafür zu geben, die gewohnten Bahnen zu verlassen, bedeutet nicht, alles im Griff zu haben. Der Griff nach den Sternen ist ein vager, ein tastender. Das leuchtende Ziel vor Augen kann, wenn man endlich so weit gekommen ist, schon erloschen sein. […] Die Bedrohungen sind zahlreich, den äußeren Feinden folgen die inneren, und wenn gar nichts mehr hilft, wird der einstige Leitstern selbst zum Gegner erklärt, den es zu bekämpfen gilt. Am häufigsten hat dieses Schicksal einen Stern namens Freiheit ereilt.« (S. 55)
EVA SCHÖRKHUBER: Viele dieser einleitenden Passagen sind von bestimmten Lektüre erfahrungen inspiriert. In diesem Fall handelt es sich um Bini Adamczaks Buch Beziehungsweise Revolution. Darin arbeitet sie entlang konkreter historischer Kontexte die großen revolutionären Konzepte – Gleichheit, Freiheit und, nein, nicht Brüderlichkeit, sondern Solidarität – auf und verortet sie neu. Dabei zeigt sie, wie mitunter verheerend sich ein hoher Abstraktionsgrad auf revolutionäre Taktiken und Praktiken ausgewirkt hat und wie wichtig es ist, diese revolutionären Konzepte auf einer sehr breiten Basis zu praktizieren, anstatt sie zu Dogmen, die von einer kleinen Elite verwaltet und durchgesetzt werden, gerinnen zu lassen.
Zugleich beschreibst du in sehr eingängigen Bilder das körperliche Empfinden Miras, als eine »alte, eine verrostete Saite« (S. 50), die sie schlicht vergessen hatte, da sie sich in Marseille »endlich angekommen« wähnte, um wenig später zu bemerken: »Mein Leben, mein ganzes Leben hier in Marseille erschien mir plötzlich öd und leer.« Mira bricht aus der Enge und Rigidität einer dörflichen Gesellschaft auf und findet Resonanz und Intensität. Sie bleibt aber auch stumm oder verstummt immer wieder, sie ist eine Reisende und vieles bleibt ambivalent.
EVA SCHÖRKHUBER: Diese theoretische wie musikalische Resonanz ist für Mira wichtig. Sie lernt zuerst diese fremde Seite in sich kennen, sucht sie und läuft zugleich vor ihr davon. Zunächst ist sie primär mit dieser Art der Entfremdung beschäftigt: Sie fällt aus einem sozialen Rahmen, den sie eine Zeit lang aufrechtzuerhalten versucht, da er auch eine gewisse, für sie allerdings immer beklemmendere Stabilität gewährleistet. Schließlich macht sie sich auf, um das Weite zu suchen. Revolutionen und ihre Verwirklichung ziehen Mira an: Sie imaginiert sich selbst an der Spitze einer Bewegung, sie stürmt mit der Fahne voran. Der paternalistische Gestus, der naive Glaube, etwas richtig machen zu können, held*innenhaft zu wirken und zu helfen, wird fortwährend dekonstruiert. Amarou ist eine Figur, die ihr diese Begrenzungen aufzeigt, die sie begreifen lässt, wie existenziell unterschiedlich die Bedrohungen und Handlungsmöglichkeiten in einer Stadt je nach race, Klasse und Geschlecht verteilt sind. Dass sie danach auch in Kuba eine neue Revolution mit einer Fahne, einem Stück Stoff, voranzubringen sucht, zeugt zugleich von ihrer Unbeirrbarkeit oder eben unseren begrenzten Lernerfahrungen.
VS: Ein Ausweg aus solchen Verirrungen und Selbstüberhöhungen könnte in Kollektiven zu finden sein, eine kritische Gruppe oder Masse, die als Korrektiv wirkt. Du selbst widmest sowohl als Autorin als auch Redakteurin einen Teil deiner Zeit der kollektiven Produktion, seit einigen Jahren auch dem Papiertheater. Mit dem Kollektiv Zunder wird diese Form mit radikalen, revolutionären Inhalten bespielt. Welche Geschichten erzählt ihr und was fasziniert euch an der Form?
EVA SCHÖRKHUBER: Am Papiertheater fasziniert uns das ursprünglich biedermeierliche Modell ebenso wie die sehr mobile und autonome Form: Eine der allerersten Überlegungen war es, diese Form des Theaters aus den privaten, bürgerlichen Wohnzimmern in den öffentlichen Raum, auf Plätze, in Cafés und Gaststätten zu verlagern und insofern gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen. Unsere selbstgebaute Bühne hat in etwa die Größe eines mittleren Flachbildfernsehers und ist mit allem, was eine Bühne so braucht, in Miniaturform ausgestattet: Wir haben unterschiedliche bewegliche Scheinwerfer, verschiedene Kulissen und ein Papierfigurenensemble. Um irgendwo auftreten zu können, benötigen wir ein wenig Platz und lediglich eine Steckdose. Inhaltlich haben wir uns mit unserem ersten längeren Stück, mit der Rätebewegung in Österreich unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges, befasst. Das Stück haben wir kollektiv entwickelt und im Rahmen der WienWoche 2018 umgesetzt. Wir sind damit herumgewandert, waren in Innsbruck, Ebensee, Linz, auch in Meran und München. Beim momentan aktuellen Stück handelt es sich um eine musikalische Revue in Kooperation mit der Band Laut Fragen: Wir inszenieren einen Festakt für den expressionistischen Vagabundendichter Hugo Sonnenschein (1889–1953).
Du bist auch Teil der Redaktion der Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben. Ihr erscheint – ebenso wie die Volksstimme – im antiquierten Papierformat. Was lässt euch daran festhalten und warum ist ein politisches Schreiben für euch wesentlich?
EVA SCHÖRKHUBER: Die PS erscheint einmal im Jahr sowohl auf Papier als auch digital: Beim Printformat legen wir Wert auf eine kooperative Gestaltung, die stets von Grafiker*innen und Illustrator*innen, die nicht zur Redaktion gehören, übernommen wird. Und ein Heft, an dem wir beinahe ein Jahr lang gearbeitet haben, in Händen zu halten, ist immer auch und Jahr für Jahr etwas Besonderes. Unsere Auffassung von politischem Schreiben ist weit gefasst und fokussiert nicht ausschließlich auf die inhaltliche Ebene, sondern auch darauf, dass wir Zugangsmöglichkeiten beziehungsweise -beschränkungen mitdenken, bei der Auswahl der Heftthemen ebenso wie bei der Auswahl der eingereichten Texte: Die PS-Ausgaben bestehen grundsätzlich aus einem inhaltlichen Teil, in dem wir uns anhand von Essays und Gesprächen mit einem bestimmten Aspekt des Literaturbetriebs beschäftigen – die letzte Ausgabe haben wir zum Prosadebüt gemacht und uns angesehen, welche Auswirkungen die marktökonomischen Strukturen auf die Möglichkeiten haben, sich als Autor*in zu positionieren. Neben dem inhaltlichen Teil gibt es auch einen literarischen: Mit der Ausschreibung sprechen wir vor allem Personen an, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Erstsprache, ihres Geschlechtes, ihres Alters, ihrer physischen und/ oder psychischen Konstitution mit Zugangsbarrieren zum Literaturbetrieb zu kämpfen haben.
Bis zum 22. Juni können noch Texte eingereicht werden, die Ausschreibung findet sich auf https://www.politischschreiben.net/offene-ausschreibung-fur-ps7/
Eva Schörkhuber lebt als Schriftstellerin und Literaturwissenschafterin in Wien, ist Mitglied im Redaktionskollektiv von PS sowie im Papiertheaterkollektiv Zunder.
Marco Kammholz wirft einen Blick auf die Frage, was die Menschen in der Krise sexuell treiben und was in Wissenschaft, Politik und Medien über Sex in Zeiten von Corona behauptet wird
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch hat 1984 in seiner Schrift Die Mystifikation des Sexuellen vielsagend zusammengefasst, dass im Zentrum jeder Sexualforschung die Frage stehe, »wie Gesellschaft in das Sexuelle eindringt und aus ihm spricht«. Nachdem sich im Frühjahr 2020 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in einem Lockdown befand, weil ein Virus die multiplen, von der Menschheit selbst produzierten Krisen miteinander verschränkt und dabei grundlegend in das soziale und körperliche Miteinander eingreift, ist die Frage nach den Auswirkungen auf die Sexualität mehr als naheliegend. Wie und was Gesellschaft aus dem Sexuellen heraus spricht, ist dabei allerdings mehr als offen, auch nach über einem Jahr pandemischer Verhältnisse.
Weniger Gelegenheitssex
Auf die Frage, was die Menschen in der Pandemie sexuell treiben, haben sich seit Beginn der Krise nicht wenige Medien gestürzt. Nicola Döring und Ricardo Walter haben in der Zeitschrift für Sexualforschung frühzeitig eine erste Analyse medialer Narrative zur Sexualität in der Covid-19-Pandemie vorgelegt und wenig Überraschendes festgestellt. Aufgerufen wird vor allem ein Mehr an sexualitätsbezogenen Handlungen und Dynamiken: mehr Solosexualität, mehr Sex in Partnerschaften, mehr Schwangerschaften, mehr Scheidungen, mehr Sextoy-Kauf und -Nutzung, mehr Telefon- und Internetsex, aber auch mehr Gewalt und mehr Diskriminierung gegenüber Frauen und sexuellen Minderheiten.
Nur einer sexuellen Verhaltensweise wird dabei vor allem ein Rückgang prognostiziert: dem so genannten unverbindlichen Partnersex, also Gelegenheitssex außerhalb fester Beziehungen. Die Befragungen der Nutzerinnen und Nutzer von Dating-Plattformen (wie etwa Planet romeo und JOYclub) und die Selbstauskünfte von Singles legen auch in der Tat nahe, dass sich diese Prognose bewahrheitet hat: Die Anzahl und Frequenz direkter sexueller Begegnungen außerhalb fester Partnerschaften hat sich verringert, im Falle der promisken schwulen und bisexuellen Männer sogar drastisch. Kein Wunder, sind doch die sozialen Kontakte der allermeisten Menschen generell stark verändert. Man trifft nicht nur kalkulierter und terminierter als üblich deutlich weniger Menschen, sondern zudem fast ausschließlich diejenigen aus dem sozialen oder (wahl-)familiären Nahfeld. Somit entfallen die spontanen und anonymen Begegnungen, die Kontakte im Nachtleben oder auf Reisen und die Begegnungsräume an kommerziellen Orten für sexuelle Dienstleistungen.
Auch die soziologischen Untersuchungen von Barbara Rothmüller zu »Liebe, Intimität und Sexualität in Zeiten von Corona« zu Beginn der Pandemie bestätigen das medial vermutete Schicksal der Singles: Während Paare mit dem Ausmaß an Nähe und Berührung vergleichsweise relativ zufrieden sind und in Teilen von einer Intensivierung der bestehenden romantischen und sexuellen Beziehung berichten, sind Singles deutlicher unzufriedener mit ihrem Sexleben. Ein Teil von ihnen gibt gar an, in keinerlei nahem körperlichem Kontakt zu anderen Menschen mehr zu stehen. Zieht man allerdings die Paardynamik in Liebesbeziehungen im Speziellen und die in der Coronapandemie für viele Menschen deutlich belastenderen Lebensumstände im Allgemeinen hinzu, so muss die Vorstellung von der Paarbeziehung als letzte Bastion der Lust und Zufriedenheit in der Pandemie korrigiert werden: Selbstverständlich streiten die bereits vor der Pandemie (hoch-) konfliktiven Paare nun häufig noch mehr als zuvor und selbstverständlich wirkt sich ein (coronabedingt) erhöhtes Stresslevel oft negativ auf die sexuellen Funktionen, das sexuelle Begehren und die sexuelle Genussfähigkeit aus. Ohnehin besitzt ein sexualwissenschaftlicher Allgemeinplatz für die pandemischen Verhältnisse und die sexuelle Reaktion der Menschen besondere Gültigkeit: In sexueller Hinsicht sind Libidoverlust und Unlust (die häufig mit weniger sexuellen Begegnungen und Handlungen einhergehen) genauso »sinnvolle« und nachvollziehbare Reaktionen auf die Pandemie wie gesteigerte Erregung und intensivere Sexualisierung.
Sexuelle Neuerungen
Was das sexuelle Verhaltensrepertoire der Menschen in der Pandemie anbelangt, kommen die wenigen bisher vorliegenden sexualwissenschaftlichen Studien – wie etwa die Untersuchung »Less Sex, but More Sexual Diversity: Changes in Sexual Behavior during the COVID-19 Coronavirus Pandemic« von Justin J. Lehmiller u. a. – ebenfalls zu wenig überraschenden Ergebnissen: Ein kleiner, aber statistisch nicht unerheblicher Teil der Befragten gibt an, seit der Pandemie neue Sexualpraktiken ausprobiert zu haben, sowohl solosexueller als partnerbezogener Art. Wie gewöhnlich und wenig abenteuerlich die (quantitativ erfassbaren) sexuellen Realitäten allerdings sind, verrät ein Blick in die angegebenen sexuellen Neuerungen: Man probiert eine neue Sexstellung aus, spricht mit der Partnerin oder dem Partner über eine sexuelle Fantasie, man versendet ein Nacktfoto oder praktiziert Sexting. Eher unbeantwortet bleibt in diesen Untersuchungen die Frage, inwieweit welche sexuelle Dynamiken und Handlungen nicht schon vor der Pandemie bestanden haben und welche Bedeutung und Qualität die eigene Sexualität insgesamt und die neuen Sexualpraktiken im Besonderen besitzen.
Let’s talk about Sex
Aufschlussreicheres über den Zustand des Sexuellen in der Pandemie liefert dahingegen die Art und Weise, wie über Sexualität in der Coronakrise gesprochen und was über sie behauptet wird. Neben den wissenschaftlichen Befragungen und den medialen Berichterstattungen sind es vor allem die staatlichen und nicht-staatlichen Gesundheitseinrichtungen, die sich zur Sexualität in der Pandemie äußern. Ihr Tenor ähnelt sich häufig und hält sich an die (rein medizinisch betrachteten) Fakten: Fast jede Art direkter körperlicher Nähe birgt die Möglichkeit einer Ansteckung mit dem Coronavirus in sich. Wenn aber also Küssen, Anhauchen und Anhusten, hautenger Körperkontakt und Austausch von Körperflüssigkeiten zu den – aus Perspektive des Corona-Schutzes – riskanten Verhaltensweisen zählen, bleibt dem oder der Einzelnen, will er oder sie sich konsequent an die Präventionsgebote halten, wenig sexueller Handlungsspielraum. Von einer befriedigenden, direkten, sexuellen Begegnung bleibt – ohne Küssen, ohne heftigere Atmung, ohne Körperkontakt, ohne schmieriges Eindringen – für die meisten Menschen nicht sonderlich viel bis gar nichts übrig.
Betrachtet man in dieser Hinsicht die Botschaften und Narrative, mit denen zum Thema Sex in der Pandemie operiert wird, genauer, so entsteht der Eindruck, in die Sexualität, die sich stets individuell realisiert, halte ein Seuchenschutz Einzug, der aber einen kollektivierenden Anspruch formuliert. Während das Individuelle mit Dynamiken der Aushandlung, Abwägung, Ambivalenz, Wechselseitigkeit, Mehrdeutigkeit und Kommunikation begriffen werden muss, handelt die kollektive Präventionsanforderung unter einem Anspruch der Lösung, des Einklangs, der Vereinseitigung. Woran die gut gemeinten Ratschläge der Gesundheitsbehörden in Bezug auf das Sexuelle also scheitern, ist ihre implizite, und zutiefst lebensfremde Behauptung, dass eine (befriedigende) Vereinbarkeit von Corona-Schutz bzw. -Prävention einerseits und sexuellen Handlungen oder Wünschen andererseits möglich sei.
Grenzüberschreitende Sexualität
Mit Blick auf die psychosexuelle Dimension des pandemischen Alltags lässt sich zudem auch das Gegenteil bekräftigen und fragen: Bricht sexuelle Erregung nicht stets auch – für einen Moment – in die Hygiene-, Schutz- und Abstandsgebote ein und triumphiert über sie? Das Sexuelle gibt vermutlich nur bei den Wenigsten ungefiltert die Anforderungen nach Hygiene und Abstand wieder. Zwar können Abstandhalten, Händewaschen und Atemschutzmasken – alles Maßnahmen der Mäßigung, der Einsicht, des Rückzugs, der Reinigung, des Verzichts, der Trennung, der Vernunft und der Grenzwahrung – sexuell in Aktion treten und natürlich auch sexualisiert werden, das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sexualität mitunter eine grenzüberschreitende, drängende, besudelnde, verbindende, radikal assoziative und irrationale Angelegenheit darstellt.
Wer allerdings in den irritierenden Ratschlägen und Einschätzungen offizieller Stellen zur Sexualität in der Pandemie, bloß eine unveränderte und weiterhin wirkmächtige Sex- und Lustfeindlichkeit entdeckt, der irrt. Die postmoderne Besprechbarkeit von Sexualität ist in der Pandemie nicht unmittelbar von einem epidemiologisch begründeten Sexualkonservatismus gebrochen, sondern nur von diesem begleitet. Es gibt zwar Umstände, die in Bezug auf die sexuellen Verhältnisse als vor-liberal bezeichnet werden können – etwa die Dramatisierung außerpartnerschaftlicher Sexualität, die Schließung von Bordellen, das Verbot der Sexarbeit, die Privatisierung intimer Kontakte, die Reduktion des Körpers auf seine Eigenschaft als Virusträger und dadurch als Gefahr für Andere –, dem steht aber gleichzeitig die (nicht minder ideologische) Bejahung von Sexualität als gesund und der fortschrittliche Standpunkt von Sexualität als einem menschlichem Grundbedürfnis gegenüber.
Was allerdings den Versuchen, Intimität und Sexualität in der Pandemie sowohl coronagerecht als auch »sexpositiv« zu thematisieren, häufig nicht gelingt, ist eine so simpel wie radikale Betrachtungsweise: In Bezug auf Sexualität in Zeiten der Coronakrise sollte doch letztlich weniger entscheidend sein, was die Einzelnen tun sollen und ob sie das Richtige tun, sondern vielmehr, ob ihr sexuelles Tun befriedigend ist.
Den ausführlichen Text von Marco Kammholz findet ihr im Jahrbuch Sexualitäten 2021.
Der Mensch erkennt sich in der Scham als das »verminderte, abhängige und erstarrte Objekt, das ich für den Anderen bin« (J. P. Sartre).
Von Helga Wolfgruber
Scham ist ein in seiner körperlichen und psychischen Reaktivität ein folgenschwerer Affekt. Seine Bedeutung findet in Theoriebildung und psychotherapeutischer Praxis noch immer nicht genügend Beachtung. Das führt zu einer häufigen, konsequenten Ausblendung oder Verkennung von Schamreaktionen und sorgt oft für nie enden wollende Konflikte durch trans generationale Weitergabe.
Die schmerzliche Wirkmächtigkeit dieses Affektes findet in den Worten Sartres stimmigen Ausdruck: Selbstwertproblematik, Abhängigkeit von Anderen, Erstarrung als möglicher Schutz vor Wieder-Erleben oder Reagieren-Müssen.
Das Wesen der Scham
Scham, ein intersubjektiver, sozialer Affekt, ist nur im »Zwischen« (Altmeyer) oder an der inneren Grenze des Begegnungsraumes angesiedelt. Das heißt, ohne reale oder phantasierte Anwesenheit eines Anderen ist Scham nicht vorstellbar. Sie ist an ein »Gesehen werden« gebunden und registriert als »Grenzwächter« das Eindringen von Fremden und Fremdem. Sie fungiert daher auch als Regulationshilfe des eigenen moralischen, ethischen Verhaltens und des Gestaltens von Beziehungen. Sie hilft mir, Andere »in die Schranken zu weisen« oder sie »mir vom Leibe zu halten«. Ich kann auch aktiv zur Beschämer*in werden und Scham lebenslang als Sozialisationshilfe nutzen.
Ein Charakteristikum des (heftigen) Schamerlebens ist die Unfähigkeit des Verstandes, diesen Zustand kontrollierend zu beenden. Das klare Denken wird vorübergehend außer Kraft gesetzt und bringt Beschämte in eine unsichere Lage über ihre Identität. Der Bruch im Selbsterleben wird von Seidler u.a. mit einem Zustand der Selbst-Entfremdung verglichen. »In den Boden zu versinken« oder zumindest »sich in ein Mausloch verkriechen zu wollen« würde Erlösung bringen. Kein anderes Gefühl veranlasst Menschen dazu, sich eine Auslöschung ihrer selbst zu wünschen. Ebenso verweisen die Metaphern »wenn Blicke töten könnten...« oder »dein böser Blick hat meinen Körper durchbohrt ...« auf die Bedrohlichkeit dieses Affektes.
Seine Wirksamkeit lässt sich auch nicht verbergen, weil der Körper ein schneller Gehilfe und Überbringer der erlittenen Beschämung ist. Schamröte, Zittern, Schwitzen, verwirrtes Stammeln, Herzrasen oder unkoordinierte Bewegungen machen einen der intimsten Aspekte der Persönlichkeit sichtbar: seelische Verletzlichkeit. Mit Grausamkeit wird diese sichtbare Reaktion besonders oft von Jugendlichen durch Verspottung, also einer Verdopplung der Beschämung, beantwortet. Auf dem Prüfstand stehen immer Verlust von Würde, Integrität und die Angst vor dem Ausgeschlossen-werden.
Schämen wovor?
»Schäm dich!« als verbaler, pädagogischer Imperativ hat zwar an Bedeutung verloren, als Mittel der Beschämung zur Durchsetzung gesellschaftlicher oder gruppenspezifischer Normen ist er aber ein Akt der Bestrafung geblieben. Es wäre falsch, Scham als Relikt des vorigen Jahrhunderts zu »begreifen«. Sie ist ein universales (Macht-) Phänomen, begleitet uns ein Leben lang sowohl als positive, emotionale Erfahrungs-, als auch schädliche zerstörerische Leidensmöglichkeit.
Die verbreitete menschliche Lust zu Kategorisierung und Begriffsbestimmung hat Schamexpert*innen zur Untersuchung und Beschreibung unterschiedlicher Schamquellen veranlasst. Das Ergebnis lässt keinen sicheren Ort erkennen, an dem Beschämung keine Rolle spielen könnte. Sei es die Verweigerung des Wahlrechts für ALLE hier Lebenden, Frauen bei der Arbeitsplatzsuche wegen möglicher Schwangerschaft zu benachteiligen, an Ausländer*innen keine Wohnung zu vergeben oder die Aufforderung beim Arzt, den Oberkörper freizumachen.
Zeitgeist, Kulturspezifika und persönliche Schamerfahrungen bestimmen lediglich die Qualität des Erlebens. Sicher ist, dass unter hierarchischen Bewertungskriterien eines auf Exklusion beruhenden Gesellschafts systems die Folgen »zum Schämen« sind. Das stressreiche Heraustreten aus dem Schatten der Scham gelingt oft nur durch Gehorsam und Anpassung an Gruppen- oder Mehrheitsnormen, durch Perfektionismus bis hin zu Rechthaberei, emotionale Er starrung/Aktivitätslähmung oder durch eine Schamumkehr: Arroganz und vorgetäuschte Selbstsicherheit. Toxische Inhaltsstoffe für das Miteinander-Leben. Und auch oftmals für das Miteinander-Kämpfen in politischen Parteien.
Du bist nicht liebenswert …
Säuglings- und Bindungsforscher*innen haben die Bedeutung frühkindlicher Schamentwicklung für die Persönlichkeitsentwicklung ausführlich untersucht. Als Existentielle Scham oder Daseinsscham bezeichnen sie Schamgefühle, die sich auf die eigene Körperlichkeit beziehen. Das Gefühl des Nicht-gewollt-Seins, sich im »Glanz der mütterlichen Augen« (H. Kohut) nicht positiv gespiegelt zu sehen oder sich immer als Sündenbock erleben zu müssen, führt zu großem Selbstmisstrauen, verhindert Entwicklung von Selbstwert und begünstigt ein zweifelndes Grundgefühl, auch der Welt gegenüber. Eine negative Scham-Biographie ist beinahe vorgezeichnet, wenn sich Eltern oder nahe Bezugspersonen kindlichen Bedürfnissen gegenüber dauerhaft so verhalten, als wäre das Kind nicht existent. Die kindliche Frage heißt: Bin ich es nicht wert? Und die Antwort: Ich bin bedeutungslos.
Herkunftsscham/Sozialscham
Dazu eine Mini-Beschämungsgeschichte vom Beginn meiner Gymnasialzeit. Meine Tante hat mich zur Aufnahmeprüfung angemeldet und war im Gespräch mit dem Direktor von seiner entlarvenden Frage/ Feststellung irritiert. »Ach, das ist die Tochter von dem kleinen Wirten da drüben …?!« Noch beim Durchwandern meiner späteren Bildungsinstitutionen, den Laboratorien von Beschämung, bin ich oft über diesen Satz, für mich eine schmerzliche Erinnerung, gestolpert. Norbert Elias hätte jene von mir empfundene Scham vielleicht »als Angst vor der sozialen Degradierung oder (…) vor den Überlegensheitgesten Anderer« interpretiert. Das soziale, hierarchische Gefälle mit »Schamhoheit« und Racheantworten habe ich früh als Klassenspezifika kennen- und kritisieren gelernt.
An der Bedeutung von Herkunft als »Schamproduzenten« und sozialen Platzanweiser haben sich schon viele Disziplinen abgearbeitet. Und Menschen erst recht. Darüber gibt eindrücklich auch autobiographische Literatur (Innerhofer, Eribon ...) Auskunft. Die Diskrepanz zwischen dem, »wie ich bin«, und meiner »Idealvorstellung von mir« hat schon viele Menschen bewogen, ihrer Herkunftsklasse entfliehen zu wollen. Die Scham darüber beschreibt Neckel als Gefühl der Selbstentfremdung und »wer sich schämt, verachtet sich, der ist sich selbst fremd geworden (...)«. Diesem Zustand entkommen zu wollen, ist verständlich. Auch wenn der Preis manchmal hoch ist, weil er zu einem lebenslangen Nomadenleben in der eigenen Biographie verurteilen kann. Solange eine Gesellschaft aber das Erklimmen der obersten sozialen Stufenleiter mit Kapital- und Machtbesitz belohnt, hat auch Armut schlechte Karten, um sich aus den Fesseln der Scham befreien zu können. Es reicht nicht, die Sprossen der Leiter enger zu setzen – eine Neuorganisation der noch immer patriarchalen Gegenwart ist notwendig. Ohne Leiter. Ohne Beinbruch.
Fremdschämen
Eine merkwürdige Variante des Schämens ist das Fremdschämen. Es wurde 2010 zum Wort des Jahres gekürt und meint »stellvertretende Peinlichkeit«. Es setzt die Fähigkeit voraus, sich in andere Menschen, Berufsgruppen oder Situationen hineinversetzen zu können. Je näher, desto heftiger die Reaktion. Meine persönliche Bereitschaft zum Fremdschämen nimmt zu und wird häufig von Politiker* innen ausgelöst. Es sind deren stereotype Worthülsen, ihre Scham-Losigkeit, mit der sie Kritik abweisen und dem politischen Gegner alleinige Schuld am eigenen Versagen zuschreiben. Die Angst vor dem »Gesichtsverlust« rechtfertigt neben Lügen auch das Klammern an Machterhalt. Auf diese fehlende Bereitschaft zu Selbstkritik, auch von Genoss*in nen, hat Rosa Luxemburg in vielen Texten hingewiesen.
Eine Antwort heißt Rache
Die menschliche Seele kennt eine Vielzahl von Möglichkeiten, schambesetzte Grenzverletzungen zu beantworten. Im Racheakt wird passiv Erlittenes in aktives Handeln verwandelt. Durch die Opfer-Täter-Umkehr wird zumindest ein Gefühl der Genugtuung garantiert. Wer erinnert sich nicht an das Haxl-Stellen, jemanden aufblatteln, anrennen oder auf die Seife steigen lassen? Vielleicht spiegelt sich in diesen Ritualen jene Schadenfreude wider, die einem kurzfristig das Gefühl von Überlegenheit bereitet.
Übertragen auf die politische Bühne der Gegenwart heißt der Beschämungs-Ping-Pong: aufdecken, der Korruption überführen, verdächtigen, entwerten, zerstören. Angesichts der Schamlosigkeit der Regierungspolitik im Besonderen einiger ihrer Repräsentant*innen scheint die Strategie die einzige zu sein, um demokratische Rechte zu verteidigen. Was dadurch wirklich zerstört wird, ist politische Kultur und der Glaube an die Lösung von Problemen durch Politik.
Scham ein Kriegstreiber?
Missachtung und Zurückweisung als Beschämung wirken lebenslang nach. Nicht immer bleiben die Konsequenzen als Wut, Neid oder geheimer Groll im Ressentiment als Schamteile der Seele verborgen. Oft erst nach Jahren zeigen sich Scham-Folgen im Außen und bestimmen Handlungen der Beschämten, bis hin zu Gewalt und Krieg.
Beispiel dafür aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre Milosevic’s Schwur am Amselfeld, dass »die Serben nie wieder ge demütigt werden« sollten. Oder Hitler, der die »Schande von Versailles« auslöschen wollte. Ist Scham einer der Treibstoffe, der die Kampfbereitschaft aufrecht hält?
Kein Entweder/Oder!
Wollen wir in einer solidarischen Gesellschaft leben, in der Angst und Scham der Nährboden entzogen ist, dann bedarf es größerer Anstrengungen, als nur Symptome zu bekämpfen. Die Lösung liegt nicht in einer Therapeutisierung der Gesellschaft. Aber auch nicht im Unterschätzen der emotionalen Bedürfnisse der Menschen. Denn dadurch erhöht sich das Risiko, dass diese Menschen gegen ihre ökonomischen Interessen wählen, weil sie sich für ihre emotionalen Bedürfnisse entscheiden. Die Soziologin A. R. Hochschild lieferte dafür ein berührendes Beispiel: Ausgerechnet die ärmsten Wähler*innen in den verelendeten Bezirken im Süden der USA wählten republikanisch – gegen ihre ökonomischen Interessen. Warum? Weil sie sich von den Demokraten beschämt fühlten, die sie als dumme und rassistische Hinterwäldler verhöhnt hatten. Dafür rächten sie sich an der Wahlurne.
Eine emanzipatorische Politik darf die emotionalen Bedürfnisse nicht zum Nebenwiderspruch degradieren und deren Befriedigung auch nicht der Rechten überlassen. Das wusste schon Wilhelm Reich vor fast 100 Jahren: »Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen«.
Die Lohnquote ist in Österreich seit 1975 um mehr als 16 Prozentpunkte gefallen. … Eine solidarische Lohn politik wurde ebenfalls nicht erreicht.
Eine Rezension von PETER FLEISSNER
Aktiv in vielfältigen Einrichtungen der Lohnabhängigen1 ist Fritz Schiller mit ihren Problemen bestens vertraut. Es ist ihm gelungen, erstmalig in einer Monografie die theoretischen Konzepte und praktische Ergebnisse der Lohnpolitik in Österreich seit den 1960er Jahren detailliert zu durchleuchten und ihre jeweiligen Rahmenbedingungen zu untersuchen.
Neben einigen anderen theoretischen Ansätzen testet er, welche Ergebnisse die Gewerkschaften mit dem Konzept der produktivitätsorientierten und solidarischen Lohnpolitik erzielt haben. Ohne Zweifel ist sie in den späten 1960er Jahren bis in die 1970er Jahre tatsächlich realisiert worden.
Benya-Formel
Damals konnte der ÖGB einen Erfolg verbuchen, der bis heute nie mehr erreicht wurde. Unter dem Gewerkschaftspräsidenten Anton Benya gelang es, nach der Formel »Reallohnerhöhung = Abgeltung der Preissteigerungen plus Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität« höhere Reallöhne durchzusetzen und zehn Jahre lang einen Gleichstand bei der Verteilung der Zuwächse der Arbeitsproduktivität zu erreichen. Interessanter Effekt am Rande: Als 1975 die Wirtschaft in Österreich einbrach, die Wirtschaftsforscher aber fälschlich eine weitere Expansion vorhersagten, wurden in den sozialpartnerschaftlichen Gremien die Löhne einvernehmlich erhöht, mit dem Effekt, dass in Österreich durch die gestiegene Kaufkraft die Arbeitslosenquoten wesentlich geringer blieben als in Deutschland.
In den letzten Jahrzehnten konnte die Benya-Formel nicht mehr durchgesetzt werden. Seitdem in der Gewerkschaft die richtungsweisenden Kollektivverhandlungen nicht mehr zentral, sondern von Einzelgewerkschaften (allen voran von den Metallern) bestritten wurden, zerfiel die solidarische Lohnpolitik, die auch für schwächere Branchen gleiche Lohnzuwächse forderte. Trotz weiterhin wachsender Produktivität stagnierten die Reallöhne über Jahrzehnte. Eine weitere Schwäche: Die Lohnpolitik konnte die große Ungleichheit der Löhne und Gehälter weder zwischen Männern und Frauen noch zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen abbauen. Männer verdienten 2015 um 62 Prozent mehr als Frauen (S. 287), BeamtInnen verdienten 2,8-mal so viel wie ArbeiterInnen, Vertragsbedienstete und Angestellte um 67 bzw. 58 Prozent mehr.
Machtfrage
Als theoretische Alternative zieht Schiller Karl Marx mit seinem Konzept der industriellen Reservearmee heran. Marx zufolge führt die Tendenz, Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, dazu, dass eine »überflüssige oder Zuschuss-Arbeiterbevölkerung« entsteht. Das Vorhandensein einer Reservearmee würde die Ansprüche der arbeitenden Menschen drücken, da die UnternehmerInnen jederzeit auf Arbeitslose zurückgreifen könnten. Tatsächlich wirkt dieses Konzept selbstverstärkend: Höhere Arbeitslosigkeit führt zu einer Schwächung des Einflusses der Lohnabhängigen, und diese wieder zu höherer Arbeitslosigkeit. Weiters konstatiert Schiller einen negativen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Lohnwachstum. Seine Bilanz: »Die Ergebnisse sind ernüchternd… Seit 1975 haben die Arbeitnehmerinnen in Österreich kumuliert um mehr als 15 Prozentpunkte weniger erhalten, die Lohnquote ist seit 1975 um mehr als 16 Prozentpunkte gefallen. …Eine solidarische Lohnpolitik wurde ebenfalls nicht erreicht.« (S. 287)
Möglicherweise ist die politische Orientierung des ÖGB an diesen Misserfolgen schuld, wonach es »nicht Aufgabe der Gewerkschaften (ist), im Kapitalismus die Machtfrage zu stellen. Das ist jenen ArbeiterInnenparteien vorbehalten, die ihr strategisches Ziel in der Ablöse des Kapitalismus sehen.« (S. 96). Wer damit wohl gemeint ist?
1 Betriebsratsobmann einer international tätigen Bank, Mitglied im Bundesvorstand der GPA und des erweiterten Bundesvorstands der Alternativen und Grünen GewerkschafterInnen / Unabhängigen GewerkschafterInnen (AUGE/UG), der Bundesarbeitskammer, des Vorstandes der Wiener Gebietskrankenkasse und Wiener Arbeiterkammerrat.
ZITIERT*
Der beachtliche wirtschaftliche Aufschwung bei relativ moderater Inflation in den zwei Jahrzehnten bis 1971 war auch eine Folge der engen Zusammenarbeit zwischen Regierung und Sozialpartnern (Beer et al., 2016, S. 21). Diese Zusammenarbeit zielte auf ein ausgewogenes Verhältnis von internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Reallohnerhöhungen sowie der Sicherstellung von sozialem Wohlstand und Frieden ab. Die Beschleunigung der Geldentwertung im Jahr 1957 führte zur Gründung der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen. Die Sozialpartner verpflichteten sich dazu, alle Wünsche nach Preis- bzw. Lohnerhöhungen von dieser Kommission begutachten zu lassen (Butschek, 2011, S. 313; Seidel, 2005). Anfang der 1960er-Jahre (Raab-Olah-Abkommen) wurde zusätzlich ein Lohnunterausschuss eingesetzt, der fortan Lohnverhandlungen freizugeben und die Ergebnisse dieser Verhandlungen (»Kollektivverträge«) zu genehmigen hatte. Zusätzliche Impulse für den Ausbau des Kapitalbestands und die Ankurbelung des Potenzialwachstums kamen von Steuererleichterungen für Investitionen und Maßnahmen zur Investitionsförderung. Exportförderungsprogramme, etwa attraktive staatliche Garantiemodelle und Finanzierungen durch die öffentliche Hand, beflügelten die internationale Verflechtung der österreichischen Wirtschaft.
Fritz Schiller: Lohnpolitik in Österreich. ÖGB Verlag Wien 2018