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Energiearmut ist ein Missstand, der immer mehr Bewohner_innen der EU-Staaten betrifft. Ein Verbot der üblichen Praxis, Menschen von der Strom- und Gasversorgung abzukoppeln, wurde sowohl vom Europaparlament als auch vom Europäischen Rat verhindert. Die ineffiziente und marktkonforme Energieversorgung gefährdet nicht nur das Leben der Armen, sondern letztlich von uns allen.
Von CORNELIA ERNST UND MANUELA KROPP
Immer mehr Menschen in der EU können ihre Rechnungen für Strom und Wärme nicht bezahlen und geraten in Gefahr, dass die Versorger ihnen die Lieferung von Strom und Wärme abstellen. Das heißt, sie müssen mit kaltem Wasser duschen, die Kälte kriecht durch die Wände, Elektrogeräte laufen nicht – kein Internet, kein Telefon, kein Licht, kein Bügeleisen. Und während einer Hitzewelle im Sommer: keine Klimaanlage. Dann geht der Kreislauf der Kosten erst richtig los: Es fallen zusätzliche Gebühren für die Menschen an, wenn der Strom bzw. die Wärmeversorgung wieder angestellt werden soll. Die Versorgung mit Strom und Wärme ist ein soziales Grundrecht und darf nicht aufgrund von unbezahlten Rechnungen angetastet werden. Die linke Fraktion GUE/NGL, die Sozialist_innen und die Grünen im Europaparlament haben sich bei den jüngsten Verhandlungen zum europäischen Strombinnenmarkt dafür eingesetzt, das Abklemmen von Strom- und Wärmeversorgung schlicht zu verbieten. Das wäre in der Richtlinie zum Strombinnenmarkt möglich gewesen. Außerdem hat die GUE/NGL gefordert, ein kostenloses Kontingent an Strom und Wärme anzubieten – egal wie stark die Menschen mit ihren Rechnungen im Rückstand sind. Leider haben die konservativ-liberale Mehrheit des Europaparlaments und große Teile des Rats, also der Mitgliedsstaaten, diese beiden Forderungen abgelehnt. Die Sozialist_innen unterstützten die Forderungen der linken Fraktion GUE/NGL zuerst, haben dann aber im Laufe der Verhandlungen mit dem Rat nachgegeben.
Die jüngsten Daten zeigen, dass es zwischen den Mitgliedsstaaten große Unterschiede gibt und die Menschen unterschiedlich stark von sogenannter »Energiearmut« betroffen sind. Energiearmut liegt vor, wenn Menschen Probleme haben, die Rechnungen für Strom und Wärme zu bezahlen.1 Im Jahr 2016 konnten 8,7 Prozent der Menschen in der EU ihren Wohnraum nicht angemessen beheizen. Ein Fünftel der Menschen in Portugal und Zypern, und mehr als ein Viertel der Menschen in Griechenland und Litauen sind von diesem Problem betroffen; die absolute Höchstzahl wird mit fast vierzig Prozent in Bulgarien erreicht.2 Zwischen 2006 und 2012 konnte ein Viertel der Haushalte in Spanien (7 Millionen Menschen) ihre Wohnungen in der Sommerhitze nicht ausreichend kühlen. In Spanien überstieg 2010 die Zahl der vorzeitigen Todesfälle aufgrund von Energiearmut jene aufgrund von Autounfällen.3 In einigen Mitgliedsstaaten ist die Lage besonders schwierig: in Bulgarien, wo die Winter sehr kalt und die Sommer sehr heiß sind, können viele Menschen ihre Wohnungen weder ausreichend heizen noch angemessen kühlen. In Portugal ist die Witterung zwar milder, aber da dort der Gebäudebestand schlechter isoliert ist, sieht die Lage ähnlich problematisch wie in Bulgarien aus.4
Strom abgedreht
Die europäische Linkspartei European Left hat im Rahmen ihres Europawahlkampfs eine Kampagne zu »Recht auf Energie« gestartet5, denn das Problem ist europaweit virulent. Auch in reicheren Mitgliedsstaaten geraten Menschen in diese Situation: In Österreich wird jedes Jahr ca. 28.000 Menschen der Strom abgedreht.6 In Deutschland wird jedes Jahr ca. 300.000 Haushalten der Strom, und ca. 60.000 Haushalten das Gas abgestellt.7 Als die Richtlinie zum Strombinnenmarkt verhandelt wurde, hat die linke Fraktion GUE/NGL im Europaparlament auch
1 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
2 Siehe: Flyer »Right to Energy« der European Left https://www.european-left.org/campaigns/right-to-energy/
3 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
4 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
5 https://www.european-left.org/campaigns/right-to-energy/
6 J. Pallinger, Wenn das Licht zu Hause ausgeht, Der Standard, 25. Januar 2018 https://derstandard.at/2000072951741/Energiearmut-Wenn-zu-Hause-das-Licht-ausgeht (abgerufen am 21.03.2019)
7 Stefan Schultz, Deutschland lehnt Messungen zu Energiearmut ab, Der Spiegel, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/strom-deutschland-blockiert-messung-von-energiearmut-in-eu-energieunion-a-1209705.html (abgerufen am 21.03.2019)
»Bitte zieht das Trojanische Pferd nicht in unser Waldviertel«, appellieren RegionalvertreterInnen des Verkehrs- und Regionalforums Waldviertel an die Vernunft der Politik.
VON BÄRBEL DANNEBERG
SYSTEMWANDEL
Die Vernunft ist enden wollend. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner präsentierte Mitte Jänner anlässlich einer VPNÖ-Arbeitstagung in Liebnitz/Gemeinde Raabs an der Thaya ihre Pläne für 1919: »Das Verkehrsprojekt Europaspange steht für eine bessere Anbindung des Wald- und Weinviertels an Ballungszentren und internationale Wirtschaftsräume. Der erste Schritt wurde bereits gesetzt, indem sich die Vertreter der Region bereits für die Europaspange ausgesprochen haben«, so Mikl-Leitner. Alle – bis auf die Grünen, sie haben im Landtag dagegen gestimmt. Mit Unterstützung des Nachbarn Tschechien möchte die Landeshauptfrau nun die zweijährige Prüfungsdauer des Projekts dafür nützen, auf EU-Ebene intensiv Werbung zu machen, »um die Europaspange auch in europäische Infrastruktur-Netze und -Projekte einzubinden«.
Das macht klar, dass die Planung einer Waldviertelautobahn nicht der Verbesserung des Wirtschafts- und Lebensraums im Waldviertel dient. Vielmehr geht es um eine Transitschneise Richtung großer Ballungszentren in Europa quer durch naturbelassenes und abwanderungsbedingt dünnbesiedeltes Gebiet, das zu den schönsten, aber ärmsten in Österreich gehört. Mit dieser wirtschafts- und regionalbedingten Hypothek wird Hoffnung gestreut. Durch eine Betonpiste quer durch die Äcker des Waldviertels würde »das regionale Wirtschaftsprodukt der Region mit den Verkehrsprojekten laut einer neuen Studie um eine Milliarde Euro steigen«, schrieben die »Bezirksblätter Zwettl« im Jänner.
Verrückter Luxus
Ich lebe teilzeitig im Waldviertel. Mein kleiner Ort nahe Horn ist ohne Auto nicht erreichbar, der Bahnhof ist zehn Kilometer entfernt. Insbesondere an den Wochenenden gibt es keine regionale Verkehrsanbindung. Mein Dorf hat weder einen Einkaufsladen noch ein Wirtshaus. Manche erhoffen sich, dass eine Autobahn Leben in die Region bringen würde. Wahrscheinlicher aber sind Lärm, Dreck, Gestank und, wie der Verkehrsexperte Herbert Knoflacher meinte, am ehesten bringe eine Autobahn noch Kriminalität: »Wenn man das Waldviertel massiv schädigen will, dann muss man sie bauen.«
Ich Freizeit-Waldviertlerin entkomme am Land der großstädtischen dicken Luft. Ich würde gerne auf mein Auto verzichten, das eine Geldvernichtungsmaschine ist. Es verstellt tagelang wie auch viele andere Autos unbenutzt den öffentlichen Raum in Wien, zusammen mit allen Autogebührenpflichten und Sprit ein teures Vergnügen, ein Parkplatz ist trotz Parkpickerl schwer zu haben. In Wien fahre ich mit den Öffis. Was ist das für eine verrückte Welt? Plattgewalzte Autowracks würden zusammen mit allen versiegelten Betonflächen und Flughafenpisten weltweit mehr Bodenfläche als ackerbauliche Nutzflächen einnehmen. Das Wissen um diese verrückten Umweltsünden verhindert nicht, dass ich rausmöchte aus der städtischen Hektik. Ohne Auto ist das für mich nicht zu haben. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer und der Luxus der Möglichkeiten verschärft Ungleichheiten. Auf Kosten der Umwelt kann ich zwischen Wien und Waldviertel wählen. Die alten Leute in meinem Dorf aber sind angewiesen, dass ihnen jemand was aus der goldenen Supereinkaufsmeile bei Horn (einer anderen Umweltsünde) mitbringt.
Die Wirtschaft schafft – was?
Das Verkehrs- und Regionalforum widerlegt die scheinheiligen Argumente der BefürworterInnen: Eine Autobahn erspart den WaldviertlerInnen weder Geld noch Reisezeit, sondern bringt LKW-Transitverkehr, Lärm und Umweltbelastung und vernichtet dauerhaft 2.000 ha wertvoller Agrarfläche. Die Nordwesteinfahrt von Wien kann zusätzlichen Verkehr nicht mehr aufnehmen und die durch Schnellfahren gewonnene Zeit geht im Stau wieder verloren. Der Beschäftigungseffekt ist beim Autobahnbau niedriger als bei fast allen anderen Arten um dasselbe Steuergeld. Nach einem Autobahnbau gehen Arbeitsplätze verloren (untersucht in der Schweiz, im Südburgenland und dem Lungau). Viele kleine und mittlere heimische Handwerks- und Gewerbebetriebe werden dem steigenden Konkurrenzdruck von Konzernen zum Opfer fallen. Die Milliarden, die eine Autobahn kostet, können im Waldviertel für Bildung, Klimaschutz, Energieautarkie, schnelle Bahnanbindung, Datenautobahn und Förderung von Gewerbe und Landwirtschaft viel besser eingesetzt werden. (www.verkehrsforumw4.at)
Mir erscheinen diese Argumente logisch und die regionale Wirtschaftsbelebung fraglich. Schon allein die Umfahrungen von Seitzersdorf-Wolfpassing und Ziersdorf haben viele örtliche Geschäfte und Bauern in den Ruin getrieben, weil die von Wien ins Waldviertel Fahrenden die Umfahrungen nicht für den Einkauf verlassen. Studien bestätigen, dass Betonpisten den (Schwer-)Verkehr wie ein Magnet an- statt abziehen.
Asphaltcowboys
Trojanische Pferdestärken werden von FPÖ-Verkehrsminister Norbert Hofer unterstützt. Er hat die Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnteststrecken damit argumentierte, dass man schließlich nicht Milliarden in den Autobahnausbau investiere, um dann die Möglichkeiten einer Verkehrsbeschleunigung durch Tempobeschränkungen einzuschränken. Die ASFINAG hat angekündigt, heuer 1,2 Milliarden Euro in Autobahnen zu investieren. Das freut die Beton- und Baulobby. Die mit medialem Politgetöse begleitete Tempobeschleunigung macht nichts schneller, weil beim Ein- und Ausfädeln schnellerer Abschnitte es sich erst wieder staut. Für die Strecke zwischen Vitis und Wien lautet die Berechnung des Verkehrs- und Regionalforums Waldviertel folgendermaßen:
»LKWs kostet die Autobahn geringfügig Zeit durch den Umweg, daher wird man auf der B2 ein LKW-Verbot brauchen, um Mautflucht zu vermeiden. PKWs bringt die Autobahn 12 min. nur dann, wenn man nicht bedenkt, dass eine Menge zusätzlichen Verkehrs (Deutschland-Rumänien) zu Stau vor allem auf der Donauuferautobahn, der Nordbrücke, dem Gürtel und der Südosttangente führt. Die Nordautobahn hat über 10.000 Fahrzeuge/Tag zusätzlich auf diese Strecke gebracht, jetzt ist sie am Limit – die Trassen können im Raum Wien nicht mehr verbreitert werden. Weitere ›Nadelöhre‹ und damit Folgekosten entstehen (z. B. Suchdol/Tschechien). Nimmt man an, dass bei noch mehr Verkehr auf der Donauuferautobahn und auf den Autobahnabschnitten bei Horn und Hollabrunn mittelfristig ein Feinstaubhunderter kommen muss (EU-Rechtsumsetzung), verliert der PKW 2 min Reisezeit, was erhebliche ›Mautflucht‹ zurück auf die B2 zwischen Horn und Stockerau (Abkürzen Hollabrunner Eck der Autobahn) auslösen wird.«
Das Verkehrs- und Regionalforum Waldviertel meint, dass »mit dem Geld, das eine Waldviertel-Spangenautobahn kostet, man 60 Jahre lang – also für ein Vielfaches der technischen Lebensdauer der Autobahnbauwerke – ein Jahresticket wie in Wien für den öffentlichen Verkehr anbieten könnte«. Aus sozialen und Klimagründen sollte der öffentliche Verkehr überhaupt weitgehend gratis oder sehr billig sein.
DER KAMPF UM JUST TRANSITION IN DER EU
Die Mehrheit der Bürgerinnen der EU-Mitgliedstaaten hat verstanden, dass wir unsere Gesellschaften umbauen müssen, damit die Menschheit innerhalb stabiler natürlicher Grenzen überleben kann. Noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist das Ausmaß der kommenden Umweltkatastrophen, wenn wir nicht jetzt, das heißt in den nächsten ein bis drei Jahren komplett umsteuern.
ROLAND KULKE
Wissenschaftliche Reports der letzten Jahre geben uns noch eine Dekade, um unsere Gesellschaften abzubremsen. Das bedeutet, dass wir die Infrastrukturentscheidungen in den nächsten ein bis drei Jahren treffen müssen. Gelingt dies nicht, dann reicht vielleicht ein Beispiel, um zu zeigen was passieren wird. Ein Report, dessen Arbeit vom International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) in Kathmandu, Nepal, geleitet wurde, warnt davor, dass 250 Millionen Menschen alleine im Himalaya in den nächsten Jahrzehnten Zugang zu Wasser verlieren werden. Dies wird passieren, selbst wenn wir unterhalb (!) des 1,5 Grad-Ziels bleiben. Bis 2100 werden 36 Prozent der Gletscher im Himalaya schmelzen. Wenn wir nichts tun, werden zwei Drittel der Gletscher schmelzen, die für die Wasserversorgung von 1,65 Milliarden (!) Menschen nötig sind. Was glauben wir, wohin sich diese Menschen wenden werden, wenn sie vom Tod bedroht sein werden, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört sind?
Die sog. »Flüchtlingswelle« von 2015 wird dagegen ein leichter Hauch gewesen sein. Unsere ethnozentrischen europäischen Gesellschaften haben schon ein Problem mit der Integration von einer Million Menschen! Es ist also klar – wir müssen unsere Ökonomie radikal umbauen. Und da hilft es nicht, auf bessere Technologien zu setzen. Wir müssen unseren Mensch-Natur Metabolismus, also den stofflichen Austausch mit der Natur umbauen. Und das geht nur, wenn wir das Problem nicht als ein technisches betrachten, sondern anerkennen, dass wir unsere sozialen Strukturen ändern müssen. Denn, nur nebenbei erwähnt, die Klimakrise ist nur eine von vielen Krisen. Von den sogenannten neun »planetarischen Grenzen«, die wir nicht überschreiten dürfen, um in einem sicheren Umweltbereich zu leben, haben wir bereits jetzt vier überschritten.
It’s time to act now
Ein Leitbild ist »Just Transition«. Es ist klar, dass der Energiesektor mit fossilen Brennstoffen eines der zentralen Probleme der Menschheit darstellt. Jahrelang wurde der Kampf der progressiven Zivilgesellschaft gebremst, da grün gesinnte soziale Bewegungen für die sofortige Stilllegung etwa von Kohleminen und -kraftwerke waren, egal was mit den Arbeiterinnen passiert, wohingegen Gewerkschaften in diesem Sektor, vor allem eingedenk neoliberaler, also gegnerischer Regierungen, nur eines im Sinne hatten: jeden Job retten, den es in der relativ gut bezahlten fossilistischen Industrie noch gab und gibt.
In den letzten Jahren haben aber beide Seiten gelernt. Gewerkschaften haben verstanden: »There are no jobs on a dead planet« (es gibt keine Jobs auf einem toten Planeten) und NGOs haben erkannt, dass sie von ihrem hohen Ross der Verteidiger von Mutter Erde herabsteigen müssen und normalen Arbeiterinnen zuhören müssen und ihre Jobs nicht einfach als »dirty« (dreckige) Jobs bezeichnen dürfen. 2006 schließlich erkannten internationale Gewerkschaftsverbände bei einer Konferenz in Nairobi, dass auch sie auf die NGOs zugehen müssten und adaptierten den Slogan »Just Transition« (»Gerechter Übergang«) für ihre Bewegung1. »Just Transition« verbindet die Anliegen von Umwelt und von Arbeiterinnen insofern, als anerkannt wird, dass wir aus der fossilen Energieproduktion aussteigen müssen, aber gleichzeitig die Interessen der Arbeiterinnen nach »decent work« (»Guter Arbeit«)
anerkennen müssen. Es geht also um die Transition von einer fossilbasierten Wirtschaft zu einer, die CO2-neutral ist, aber die Arbeiterinnen nicht in Arbeitslosigkeit schickt.
Energie-Demokratie
Wie sieht es nun aus mit den Bestrebungen, eben diesen gerechten Übergang zu sichern? Zum einen kann man konstatieren, dass die Idee der Verbindung von gewerkschaftlichen und grünen NGO-Interessen gewirkt hat. Die Kombination beider Interessen hat im öffentlichen Bewusstsein Wurzeln geschlagen. Andererseits gibt es aber auch Rückschläge, und hier sind noch nicht mal die rechten bis rechtsradikalen Parteien und Regierungen in Europa gemeint. Gemeint ist die inhaltliche Entleerung des Begriffs »Just Transition«. Er ist in gewisser Weise der progressiven Zivilgesellschaft von der Kapitalseite entwendet worden. Böse Zungen benutzen hier sarkastisch die Tatsache, dass das englische Wort »just« beides bedeuten kann: »gerecht«, aber auch »nur«. Just Transition kann also als »Gerechter Übergang« aber eben auch als »nur/Hauptsache Übergang« – hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft übersetzt werden. Bei der letzten UN-Klimakonferenz (COP24) in Katowice wurde »Just Transition« zunehmend so interpretiert, dass man maximal für die jetzt Beschäftigten Frühverrentung vorsieht, und das wäre es dann, mehr nicht. Der Präsident von Südafrika ist neulich so weit gegangen, die Zerschlagung und Privatisierung des großen staatlichen Energiekonzerns mit »Just Transition« zu rechtfertigen. Aufgrund solcher Aneignungen wird in der Zivilgesellschaft zunehmend der Begriff der »Energie Demokratie« benutzt. Dieser geht über »Just Transition« hinaus und stellt die Eigentumsfrage und letztlich die Frage nach der Demokratisierung unserer Gesellschaften. Dieser Argumentation folgend müssen wir dafür sorgen, dass Energie de-kommodifiziert wird, also die Verteilung nicht mehr über den anonymen Markt geschieht, sondern dass Energie zu einem sozialen Recht für alle Menschen wird, über dessen Verteilung politisch in unseren Gesellschaften entschieden wird. Ein weltweit agierendes Netzwerk, das sich für »Energie Demokratie« einsetzt, ist das Netzwerk: »Trade Unions for Energie Democracy« (TUED, dessen Newsletter und Publikationen sehr zu empfehlen sind). Transform Europe, die politische Stiftung der Europäischen Linkspartei, arbeitet mit TUED und anderen NGOs zusammen, um auf europäischer Ebene die Demokratisierung des Energiesystems voranzutreiben.
Energie-Kooperativen
Wir stehen hierbei vor einem ganzen Bündel von Herausforderung. Einerseits müssen wir schnell agieren, sehr schnell. Das geht nicht dezentral. Wir können nicht darauf warten, dass Bürgerinnen in ausreichender Anzahl als Individuen oder in Kooperativen in Photovoltaik und Windenergie investieren. Wir können auch nicht darauf warten, dass dezentral Stadtwerke stark genug in Erneuerbare Energien investieren. Immer mehr Städte gehen diesen Weg, aber noch viel zu wenige. Dies liegt vor allem an der europaweiten Sparpolitik der letzten zehn Jahre seit dem Ausbruch der Finanzkrise. Städte sind finanziell ausgeblutet. Was also nur hilft, sind Maßnahmen auf zentraler Ebene, dort angesiedelt, wo die Entscheidungen über staatliche Budgets und Steuereinnahmen und -ausgaben entschieden werden, also auf Ebene der Nationalstaaten (und der EU). Wir brauchen also Mut dazu, wieder groß zu denken, zu träumen davon, wie wir uns als Gesellschaften unser Wirtschaftssystem gestalten wollen. Das bedeutet kein Plädoyer für monopolistisches Staatseigentum bzw. nicht nur, sondern für eine Vielzahl von Eigentumsformen, die von der Öffentlichkeit kontrolliert werden.
Die demokratische Mitbestimmung der Bürgerinnen ist besonders wichtig. Und damit sind wir dann eben doch bei den Kooperativen. Denn wir sind nicht nur in der Krise des Klimas, sondern auch in der Krise der Demokratie, und das bedeutet, dass wir die Demokratie stärken müssen. Eine wesentliche Möglichkeit, die Demokratie zu stärken, ist den Menschen Entscheidungshoheit über ihr Leben zu geben – und das geht eben auch durch und in Kooperativen. Energiekooperativen sind gerade durch die EU-Gesetzgebung gestärkt worden, und das müssen wir ausnutzen. Energiekooperativen und das durch sie gewonnene Einkommen stärkt die finanzielle Unabhängigkeit von Bürgerinnen. In Kooperativen lernen Menschen, zusammen zu arbeiten, anderen und vor allem sich selbst zu vertrauen. Sie kooperieren, wo sie früher auf den anonymen Markt angewiesen waren. Klar ist, dass Kooperativen Einkommen über diesen Markt generieren. Wir sehen also hier, dass es keine Schwarz-weiß-Antwort geben kann. Es kann also nur ein Kompromiss zwischen den Positionen der Gewerkschaften auf der einen Seite geben, die stärker für De-Kommodifizierung von Energie, öffentliches Eigentum und zentrale Planung plädieren, und den grünen Gewerkschaften, die auf dezentrale privat-wirtschaftliche Bürgerinnenenergie setzen.
Kontrolle über Produktionsmittel?
Kooperativen und Prosumer (der Ausdruck ist eine Mischung aus Produzentin und Konsumentin) entsprechen dem Zeitgeist einer von großen linken Narrativen enttäuschten Öffentlichkeit, die eher an »Small is beautiful« glaubt, anstatt an große Gesellschaftsplanung. Deswegen soll hier nun abschließend die Lanze für den Gewerkschaftsstandpunkt gebrochen werden2. Die EU ist neoliberal, und sie kann nicht reformiert werden. So heißt es seit kurzem sogar bei ATTAC Österreich. Das ist nett, aber tragisch, denn am Ende bleibt doch nur der Rückzug auf die als ungefährlich wahrgenommene Region oder Kommune übrig. Vor allem führt dieser Diskurs dazu, kritisches Verständnis von der EU zu verhindern, es macht blind für realen Handlungsspielraum. Man könne keine nationale Wirtschaftspolitik mehr betreiben, heißt es dann oft.
Drei Beispiele sollen zeigen, dass das Unsinn ist: Anfang 2019 wurde berichtet, dass der niederländische Staat 690 Millionen Euro aufgewendet hat, um sich Anteile an der Luftfahrtgesellschaft KLM/Air France zu sichern. Ziel war der Schutz von Arbeitsplätzen und des Verkehrskreuzes Schiphol. Das ist schlicht und einfach old school Industriepolitik. Das nächste Beispiel: »Its Owl!« ist das zentrale Projekt der BRD, um Industrie 4.0 zu fördern. Die öffentliche Hand allein investiert 100 Millionen Euro in den nächsten Jahren, um die fortschrittlichsten Industrien zu fördern. Das Budget für dieses Projekt ist höher als die vergleichbare Budgetlinie der EU Kommission für alle Staaten der EU zusammen. Das ist aktive, gestaltende Industriepolitik und zwar in der real existierenden EU. Das letzte Beispiel hat direkt mit unserer Diskussion von »Just Transition« und »Energie Demokratie« zu tun. Es geht um den Ausstieg aus der Kohle in der BRD. In der ostdeutschen Lausitz werden in den nächsten 20 Jahren 20 Milliarden (!) Euro investiert, um eine Industrie ab- und andere aufzubauen, die 16.000 Jobs schafft. Diese Politik kann man vielleicht unter den Begriff »Just Transition« subsumieren, denn eine CO2-produzierende Industrie wird ersetzt und es werden neue, umweltfreundlichere Jobs geschaffen. Aber dieser Übergang entspricht leider nicht den weitergehenden Forderungen der »Energie Demokratie«, denn der gesamte Prozess wird in atemberaubend arroganter Art und Weise aus dem Kanzleramt gesteuert. Lokale AkteurInnen werden kaum eingebunden, und die Wirtschaftsministerien können aus ihren Schubladen alte Pläne für sinnlose Projekte ziehen und vorlegen. Was gebraucht wird, ist die Übernahme des Planungsprozesses durch die Bürgerinnen der Lausitz. Die jetzt laufenden Entscheidungen werden die gesellschaftlichen Infrastrukturen der Lausitz für die nächsten hundert Jahre festlegen. Dies kann nur von den Bürgerinnen selbst geschehen. Das ist also der nächste Schritt, dem wir uns zuwenden müssen. Mit viel Druck von der Straße haben wir Fortschritte gemacht: Die grünen Bewegungen haben die Kohleproduktion gestoppt, die Gewerkschaften sorgen für Jobs auch in der Zukunft in der Lausitz. Aber bei der zentralen Frage des Kapitalismus: wer entscheidet über die Kontrolle der Produktionsmittel, müssen wir noch ran.
Roland Kulke ist Politikwissenschafter und Projektmanager der Arbeitsgruppe Produktive Transformation von transform! europe in Brüssel.
1 Beate Littig: Nachhaltige Arbeit ist mehr als green jobs. ArbeitnehmerInnenvertretungen und die sozial-ökologische Transformation der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft, WISO 41. Jg. (2018), Nr. 4
2 Für eine Diskussion der Vorteile von Kooperativen, gerade auch aus demokratietheoretischer Sicht siehe Kristian Krieger, Manuela Kropp, Roland Kulke: Fighting Populism with Energy Politics – Energy Cooperatives in Europe, Global Policy Journal, 5. Mai 2017
Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die rechte Diskurshegemonie in den Vereinigten Staaten in der nächsten Zeit gewaltig in die Defensive geraten könnte: Dies ist unter anderem den politischen Vorstößen der Demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus, Alexandria Ocasio-Cortez, zu verdanken. Ihr Zehn-Jahres-Plan für eine grün-keynesianischen Wirtschaftspolitik beinhaltet zwar keine radikalen kapitalismuskritischen Positionen, dennoch kann er als parlamentarischer Arm einer dynamischen Bewegung für Klimagerechtigkeit sehr hilfreich sein.
Von ALEXANDER BEHR
Alexandria Ocasio-Cortez machte vor einigen Monaten von sich Reden, als sie öffentlich forderte, den Spitzensteuersatz in den USA auf 80 Prozent zu erhöhen und somit große Vermögen massiv zu besteuern. Eine Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner ihren Vorschlag unterstützen. Die Erhebung ist umso beeindruckender, da sie nicht von progressiven Akteur_innen durchgeführt wurde, sondern vom rechten Fernsehsender Fox News.
Anfang Februar sorgte Ocasio-Cortez dann mit einer Resolution für Aufruhr, die sie gemeinsam mit dem Demokratischen Senator Ed Markey veröffentlichte. Bei der Resolution handelt es sich um nicht weniger als um den Vorschlag für einen »Green New Deal« für die Vereinigten Staaten. Der Begriff ist an den New Deal angelehnt, der in den 1930er Jahren in den USA den fordistischen Klassenkompromiss einläutete. Der Green New Deal soll nun Elemente einer keynesianischen Wirtschafts- und Sozialpolitik mit einem ökologischen Umbau der Gesellschaft verbinden.
Am 7. Februar wurden die Hauptelemente des Green New Deal vorgestellt: Sie beinhalten einen Zehn-Jahres-Plan für eine »ökonomische Mobilisierung«, die den Einsatz von fossiler Energie schrittweise beenden soll und eine Generalüberholung der industriellen Infrastruktur des Landes vorsieht. Ocasio-Cortez tritt für den Umstieg in der Stromproduktion auf 100 % erneuerbare Energien bis zum Jahr 2031 ein. Geplant wären auch massive Investitionen in den Ausbau von erneuerbaren Energien und des Schienennetzes sowie eine staatliche Offensive zur Schaffung von »green jobs«. Bildungsprogramme für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen sowie eine soziale Wohnbaupolitik und der Wiederaufbau staatlicher Gesundheitsversorgung gehören ebenfalls zu den Kernelementen des Green New Deal.
Nachdem bereits in der Ära Obama sehr viel über die Idee eines Green New Deal gesprochen wurde, meinen nun viele Kommentator_innen, dass mit der vorliegenden Resolution endlich eine Diskussionsgrundlage auf dem Tisch liege. Zwar ist das Konzept an vielen Stellen relativ vage, die Resolution stelle aber in erster Linie ein inhaltliches Bezugssystem dar, wie vielfach betont wird.
Gegen den Green New Deal
Präsident Trump hat sich bereits im Februar abfällig über die Vorschläge von Ocasio-Cortez geäußert und massive Angst geschürt. Der Plan würde »Millionen Amerikanern ihren Job kosten«, denen man noch dazu ihre Autos wegnehmen würde. Millionen von Häusern würden ihren Wert verlieren. Dazu kamen groteske, aber zu erwartende Agit-Prop-Einlagen von rechts: Der Republikaner Rob Bishop aus dem Bundesstaat Utah hielt eine Pressekonferenz ab, bei der er demonstrativ einen Hamburger verzehrte und kundtat, dass ihm dies bald untersagt werden könnte, wenn der Green New Deal umgesetzt wird.
Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner und seit Januar 2015 Mehrheitsführer (»Majority Leader«) im Senat, Mitch McConnell, hat außerdem angekündigt, noch im März im Senat eine Abstimmung über den Green New Deal zu veranlassen. Dort haben die Republikaner eine Mehrheit von 53 Sitzen. McConnell gehört zu jenen 22 Republikanischen Senatoren, die President Trump in einem offenen Brief aufgefordert hatten, das Pariser Klimaabkommen zu verlassen. McConnell will mit seiner Strategie die Spaltungslinien in der Demokratischen Partei vertiefen und Ocasio-Cortez und andere fortschrittliche Demokrat_innen isolieren.
Die heftigen Reaktionen der Republikaner zeigen auch, dass die starke Position von Ocasio-Cortez nicht mehr ignoriert werden kann. Durch ihren Vorstoß ist einiges in Bewegung gekommen. Sie beweist, dass die Ohnmacht, nichts gegen Trump und sein System ausrichten zu können, überwunden werden kann. Nun können die Bewegungen für Klimagerechtigkeit, die in den USA mittlerweile stark gewachsen sind, das entstehende Momentum nutzen, sich öffentlichkeitswirksam in die Debatte einbringen und Druck aufbauen. Denn selbst wenn es gelänge, einen Green New Deal durchzusetzen, wären viele soziale und ökologische Probleme erst im Ansatz gelöst: Mit einer grün-keynesianischen Wirtschaftspolitik, die darauf angewiesen ist, dass der Wachstumsmotor weiter brummt, werden die drastischen Senkungen der CO2 Emissionen, die notwendig sind, auf keinen Fall erreicht werden können. Vieles spricht dafür, dass der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten noch weit stärker als heute als ein Brandbeschleuniger für alle anderen gesellschaftlichen Krisen wirken wird. Vielfach wird zurecht betont, dass junge Menschen heute zur ersten Generation gehören, die den Klimawandel effektiv spürt, aber gleichzeitig die letzte ist, die ihn mit realistischen Erfolgschancen bekämpfen kann. Fest steht, dass die Klimakrise bereits jetzt eine neue, äußerst dynamische Generation an Aktivist_innen hervorgebracht hat. Auch in Europa zeichnen sich mit Bewegungen wie Extinction Rebellion, Ende Gelände, System Change not Climate Change oder dem transnationalen Klimastreik die Konturen einer starken Klimagerechtigkeitsbewegung ab.
Radikale kapitalismuskritische Positionen beinhaltet der Vorschlag von Ocasio-Cortez natürlich nicht. Die vorliegende Resolution ist dennoch ein Schritt in die richtige Richtung. Der Vorstoß ist auch deshalb spannend, weil er von Ocasio-Cortez kommt, die sich selbst als Demokratische Sozialistin bezeichnet. Ihr gelingt es, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit glaubhaft mit der Forderung nach effektivem Klimaschutz zu verbinden. Darin unterscheidet sie sich radikal vom Demokratischen Parteiestablishment.
Gesellschaftlicher Aufbruch
Endlich tut sich etwas – und gerade weil die Inhalte des Vorschlags umkämpft sind, muss er nun von den Vielen mitentwickelt, verteidigt, korrigiert und vorangetrieben werden. Die verschiedenen politischen Ebenen, von direkten Aktionen gegen das klimaschädliche Fracking oder gegen Kohletransporte, über Massenproteste auf der Straße bis hin zum Ringen um fortschrittliche Positionen innerhalb der Demokratischen Partei müssen nun in einer klugen innerlinken Arbeitsteilung miteinander verknüpft werden. Über 600 Umweltgruppen und soziale Bewegungen haben sich bereits in einem offenen Brief geäußert und ihre Unterstützung sowie ihre solidarische Kritik am Green New Deal zum Ausdruck gebracht. Entscheidend wird nun sein, dass falsche Alternativen, wie Emissionshandel und Offsets, CO2-Abscheidung und -Speicherung oder im schlimmsten Fall die Aufwertung von Atomenergie in einem zukünftigen Green New Deal keinen Platz haben. Von der Stärke der sozialen Bewegungen wird es abhängen, ob außerdem wachstumskritische Positionen sowie die Positionen von indigenen Communities und Communities of Color ausreichend Gehör finden.
Es ist zu hoffen, dass die Resolution über den Green New Deal die weltweiten Klimabewegungen beflügelt und dass nun endlich ein breiter gesellschaftlicher Aufbruch beginnt, der über Fordismus und Wachstumsimperativ hinausweist und der den fossilen Kapitalismus letztendlich zu Grabe trägt.
Alexander Behr ist Politikwissenschafter, Übersetzer und Journalist. Neben der Lehrtätigkeit an Universitäten, an Schulen und bei Gewerkschaften ist er Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact.
Kommendes Jahr sollen sich Klimakämpfe international zuspitzen. Unter dem Slogan »By 2020 We Rise Up« (Dt.: »2020 stehen wir auf«) mobilisieren Klimaaktivist Innen in Europa seit einigen Monaten für den großen Aufstand für Klimagerechtigkeit 2020. Für die Volksstimme skizzieren Aktivist*innen von »By2020«, wie der Stand der bisherigen Mobilisierung aussieht.
»By 2020 We Rise Up« ist ein Aufruf! Es handelt sich weniger um eine Organisation als vielmehr um eine Plattform. Gegründet wurde sie aus dem Impuls heraus, dass der Klimagerechtigkeitsbewegung etwas fehlt – eine Vision. Eine Vision, die die Dringlichkeit unseres Anliegens genauso einbezieht wie das immense Potential unserer Bewegung. Ursprünglich sollte »By2020« dabei ein europaweiter Aufruf zu einem Aufstand für Klimagerechtigkeit sein. Die Hoffnung dahinter war Energien und Dynamik zu bündeln und einen großen Aufstand zu realisieren.
Die letzten Monate haben jedoch gezeigt, dass die Menschen bereits begonnen haben, aufzustehen. Neue Gruppen haben neue Energien und Synergien in die Bewegung gebracht. Weit mehr Menschen als je zuvor nehmen an Aktionen des zivilen Ungehorsams teil, wie Klimastreiks und Klimamärschen zeigen. Was bisher jedoch noch fehlt, ist ein Austausch darüber, wie unser Aufstand erfolgreich sein kann. Wie können wir das Momentum aufrechterhalten? Wie können wir uns gegenseitig in unseren vielfältigen Aktionsformen unterstützen? Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Vision und Strategie, die wir teilen können, ohne unsere wertvolle Vielfalt zu gefährden.
»By2020« ist eine Plattform für Klimagerechtigkeit. Wir wollen sowohl den Klima- als auch den Gerechtigkeitsaspekt betonen. Wir sind uns bewusst, dass die Klimakrise von einem fundamental mangelhaften und ungerechten System verursacht wurde. Dieses basiert auf der Ausbeutung von Lebewesen und Natur. Ein ausschließlicher Fokus auf den Aspekt des Klimas – obwohl die Klimakrise in ihrer Dringlichkeit alle Menschen vereint – würde Gefahr laufen, ein ausbeuterisches und hierarchisches System zu reproduzieren. Dies würde weiterhin Menschen entmächtigen, anstatt kollektive Intelligenz und Solidarität zu fördern.
Diese unsere Vision verbindet Menschen mit diversen Horizonten und aus unterschiedlichen Lebensbereichen, die das Problem im gegenwärtigen System sehen und ihre Kämpfe nicht als separate verstehen. Wir haben verschiedene Hintergründe und nutzen verschiedene Aktionsformen. Wir kämpfen für Klimagerechtigkeit sowie Arbeiter*innenrechte, Anti-Rassismus und vieles mehr – aber wir brauchen keine Angst zu haben, dass uns unsere Unterschiede trennen. Im Gegenteil, unsere Pluralität macht uns stark. Uns ist bewusst, dass nicht nur eine Lösung existiert, die eine bessere Welt ermöglichen wird, sondern eine Vielzahl von Lösungen, von denen wir uns heute viele noch nicht einmal vorstellen können. Wie ein Ökosystem sind wir anpassungsfähiger und stärker aufgrund unserer Diversität.
So wie wir unsere Vielfalt brauchen, so benötigt es auch einen gemeinsamen Austausch über konkrete, entscheidende Schritte. Diese strategischen Schritte werden bei uns inspiriert und gestärkt durch den europäischen Kontext, der wiederum auf nationalen und lokalen Ebenen fußt. Hier finden wir das entscheidende Wissen bezüglich politischer Situationen, gegenwärtiger Dynamiken und Möglichkeiten für Aktionen. Unsere umfassende Strategie muss zudem ausreichend spezifisch und konkret sein, damit »By2020« in einer gemeinsamen Zeitachse sowie in Aktionsdetails und Logistik mündet. Unsere strategischen Diskussionen haben in der Plattform Anfang dieses Jahres begonnen und werden in den nächsten Monaten fortgeführt werden.
Neben der Ermöglichung eines Austauschs über Vision und Strategie soll »By2020« als Plattform dienen, um es Gruppen zu erleichtern, ihre Aktionen durchzuführen. »By2020« soll dabei unterstützen, die Sichtbarkeit der Klimagerechtigkeitsbewegung in ganz Europa zu erhöhen. Bisher haben sich über zwanzig Gruppen dem Aufruf angeschlossen. Auf einer europaweiten Aktionskarte wurde damit begonnen, angekündigte Aktionen zu sammeln. Mit »By2020« knüpfen wir Kontakte und bringen verschiedene Gruppen und Bewegungen miteinander in Berührung. Es gibt viel zu tun.
Eine weitere große Herausforderung wird sein, unsere geistige Kraft zurückzuerlangen: Wir müssen verstehen, dass das gegenwärtige System die Dystopie ist. Die absurden und grotesken Vorstellungen sind nicht unsere, sondern die ihren. Wir hingegen sind diejenigen, die rational handeln. Wir müssen uns daher bewusst machen, dass wir die Stärke, das Vermögen und die Legitimität haben, für einen gerechten und lebenswerten Planeten aufzustehen.
Wir werden bei all dem auf zwei Beinen gehen müssen: Die Koordination auf europäischer und nationaler Ebene; der Aufbau von konkreten Handlungsstrategien und Forderungen; ein gemeinsamer Zeitrahmen und Raum für die Vielfalt von Taktiken und Aktionen; eine Kombination von langfristigem Engagement und spezifischen Aktionsmomenten. »By2020« existiert, um einen Austausch über unseren gemeinsamen Aufstand für Klimagerechtigkeit zu ermöglichen. Wir wollen damit eine Vielzahl von Akteur*innen und Anliegen in einem gemeinsamen Aktionsrahmen verbinden. Viele Menschen können auf unterschiedlichsten Wegen dazu beitragen, diese gemeinsame Vision zu realisieren – wir laden herzlich dazu ein.
Weiter Informationen: www.by2020weriseup.net
SCHWERPUNKT KLIMAWANDEL / SYSTEMWANDEL
»Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, dichtete Tocotronic schon 1995. Ihr Auftauchen – oft ersehnt und ebenso oft totgesagt – ist immer wieder überraschend: Die Fridays for future zeigen nach dem beeindruckenden Beispiel von Greta Thunberg, dass ein Ausbruch aus dem Individuellen in eine kollektive Aktion immer wieder möglich ist. In ihren Forderungen nach wirksamen Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe eignen sich junge Leute den Streik als politische Aktion wieder an. Die Aufforderung zur Veränderung des je eigenen Konsumverhaltens wird universell politisch ergänzt. Unsere Schwerpunkttexte zeigen, dass es Aktionen im Großen wie im Kleinen braucht und gibt, denn es geht um Transition, um New Deals, aber auch um Fragen von sozialer Sicherheit, Arbeit und die Befreiung aus der für Mensch und Umwelt unzuträglichen Lohnarbeit.
In all dem gibt es Widersprüche und Paradoxien: Während zahlreicher Sonntagsreden, wie wir unseren exzessiven Energieverbrauch drosseln können, gibt es viele, die unter Energiearmut leiden. Die Armutsproduktion in der EU bedingt, dass immer mehr ihre Wohnung nicht ausreichend heizen oder kühlen können; nach wie vor ist es erlaubt, Menschen von der Energieversorgung zu trennen. Arme werden von diesem ökologischen »Wir« selbstverständlich exkludiert.
Über 600 Umweltgruppen und soziale Bewegungen haben bereits in einem offenen Brief ihre Unterstützung sowie ihre solidarische Kritik am US-amerikanischen Entwurf eines Green New Deal zum Ausdruck gebracht. Auch in Europa zeichnen sich mit Bewegungen wie Extinction Rebellion, Ende Gelände, System Change not Climate Change oder dem transnationalen Klimastreik die Konturen einer starken Klimagerechtigkeitsbewegung ab. Und unter dem Slogan »By 2020 We Rise Up« mobilisieren Aktivist Innen in ganz Europa für den großen Aufstand.
HEIDE HAMMER
Dass Verhältnis zwischen Linken und Ökologie ist hierzulande nach wie vor kompliziert. Obwohl die größten Erfolge sozialer Bewegungen, die Verhinderungen der Kraftwerke Zwentendorf und Hainburg, beide ökologisch motiviert waren, tun sich viele noch immer schwer mit «der Umwelt». Angesichts der Dringlichkeit und Notwendigkeit, mit der dem verheerenden Klimawandel begegnet werden müsste, ist dies eigentlich verwunderlich – steht und fällt mit ihnen doch nicht nur die Möglichkeit gesellschaftlicher Befreiung, sondern überhaupt jene des Überlebens der menschlichen Gattung.
Verheerendes Kapitalozän
Jason W. Moore und Raj Patel haben ein Buch verfasst, dass die Wichtigkeit der Verbindung sozialer und ökologischer Kämpfe plastisch vor Augen führt – und dies, obwohl es kein politisches Manifest, sondern eine sozialhistorische Studie ist. Der Untertitel ist dabei Programm: Moore und Patel, der an der Wallersteinschen Weltsystemanalyse geschulte Sozialhistoriker und der aktivistische Ökonom und Ex-Weltbanker, zeichnen die Geschichte des Kapitalismus anhand von sieben »billigen Dingen« nach. Sieben Dinge, die stets auch aufeinander verweisen und miteinander verbunden gerade durch ihre »Billigkeit« erst überhaupt ermöglichen, dass sich die Warenproduktion verallgemeinert und somit der Kapitalismus den gesamten Erdball sich so verheerend untertan machen kann.
Die Autoren sprechen hinsichtlich der neuen Etappe der Menschheitsgeschichte nicht vom allseits beliebten Anthropozän, sondern vom Kapitalozän, also einer Epoche, in dem sich das Kapitalverhältnis sowohl die Menschen (und ihre Arbeitskraft) als auch die Natur rücksichtslos zunutze macht zu einem einzigen Zweck: der Generierung von Profiten.
Die sieben Dinge
Was aber sind die sieben Dinge? Natur, Geld, Arbeit, Pflege, Nahrung, Energie und Leben. Ihnen ist gemein, dass sie durch das Kapitalverhältnis gratis oder zumindest eben »billig« angeeignet werden. Diese Aneignungsbewegung ist, so die Autoren in der Tradition Rosa Luxemburgs, Voraussetzung für die Existenz des Kapitalismus. Kann diese permanente – und nicht wie noch Marx glaubte »ursprüngliche« – Akkumulation von Gemeingütern nicht mehr fortgesetzt werden, kommt der Kapitalismus in eine existenzielle Krise. Dieser Situation nähern wir uns heute in Riesenschritten. Es ist eine der Stärken des Buches, dass es die Aneignung dieser sieben Dinge sowohl in ihrer Historizität als auch als stets umkämpfte darstellt und analysiert.
Eine kommunistische Politik, so mein Fazit, muss ökologisch sein oder sie ist nicht. Mit dem Warencharakter der menschlichen Arbeitskraft war und ist jener unserer stofflichen Umwelt untrennbar verbunden. Was dies in letzter Konsequenz bedeutet, zeigen die wissenschaftlichen Diagnosen den Klimawandel betreffend. Der notwenige radikale Bruch ist von gleich welchen Politiker_innen nicht zu haben. Und so ist es also an den sozialökologischen Grassroots-Bewegungen, den internationalen Organisationen der Kleinbäuerinnen und den indigenen Widerstandskomitees, die Voraussetzung zu schaffen für eine im Wortsinne lebenswerte Welt: Es kommt darauf an, einerseits den Kapitalismus am Funktionieren zu hindern – und andererseits Alternativen nicht nur zu benennen, sondern auch zu leben. Das »Warum« erklärt dieses Buch, und das ist sein nicht zu überschätzender Verdienst.
Jason W. Moore und Raj Patel: Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen. Rowohlt Berlin 2018, 350 Seiten, € 24,70
PETER FLEISSNER über den Mythos der »dritten Säule«.
Die verpflichtende Altersvorsorge in Österreich hat eine mehr als hundertjährige bewegte Geschichte. Sie begann in der Monarchie: Im Jahr 1906 wurde nach der Einrichtung einer Unfallversicherung (1887) und einer Krankenversicherung (1889) die Pensionsversicherung per Gesetz eingeführt, allerdings nur für Angestellte (die so genannten »Privatbeamten«). Seit ihrer Gründung wurden Pensionsversicherung und Krankenversicherung von den Versicherten selbst verwaltet. Erst im Faschismus wurde die Selbstverwaltung1 durch die deutsche Reichsversicherungsordnung (RVO) abgeschafft und angewandt. Allerdings wurden auch die österreichischen ArbeiterInnen erstmals in die Versicherung einbezogen. Mit der Wiedererrichtung der Republik Österreich wurde die Sozialversicherung durch das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz 1947 auf eine neue organisatorische Grundlage gestellt: Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger diente von nun an als Dachorganisation für die sich wieder selbst verwaltenden Kranken-, Unfalls- und Pensionsversicherungen, die allerdings noch nach ArbeiterInnen und Angestellten getrennt waren. 1958 wurden die selbstständigen Gewerbetreibenden in das Pflichtversicherungssystem einbezogen, 1979 folgte der bäuerliche Bereich. 2003 kam es zur Fusion der Pensionsversicherungsanstalten für ArbeiterInnen und Angestellte, 2005 zu einem einheitliches Pensionsgesetz2. Dieses Gesetz bestimmt bis heute den ersten und wichtigsten Pfeiler des »Drei-Säulen-Modells« der Altersvorsorge in Österreich.
Privater Einfluss wächst
Als zweite Säule bezeichnet man die von einigen großen Unternehmen eingerichteten betrieblichen Pensionskassen3. Als dritte Säule gewann unter dem Einfluss der privaten Versicherungen und Investmentbanken seit 2005 die private, aber öffentlich geförderte Altersvorsorge an Bedeutung.
Anders als bei der Sozialversicherung, die nach dem Umlageverfahren4 funktioniert, beruht die private Altersvorsorge auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Die zugrunde liegende Idee fußt auf dem falschen Glauben an die permanente Wertsteigerung von Wertpapieren. Die Privatversicherten zahlen auf ihr privates Pensionskonto ein. Die Pensionskasse veranlagt diese Beträge in Wertpapieren5. Von den Erträgen wird dann monatlich die Pension ausbezahlt.
Jahrelang machten die Versicherungen und die Massenmedien Werbung für die Einführung einer dritten Säule des Pensionssystems, oft mit der unbewiesenen Behauptung, dass die Pensionen nicht mehr gesichert wären und die Lohnabhängigen selbst für ihren Ruhestand vorsorgen müssten.
Die dritte Säule
Jedenfalls hat sich diese Propaganda für die Versicherungsbranche durchaus bezahlt gemacht: 2012 erreichten die neu abgeschlossenen Verträge einen Spitzenwert von über 1,638 Millionen (siehe Abb. 1). Das vom Finanzkapital dadurch zusätzlich verwaltete Vermögen stieg auf beinahe 9 Milliarden Euro und wurde damit zu einer wesentlichen Vorsorgeform der ÖsterreicherInnen.6 Der Zeitpunkt für den Einstieg war klug gewählt. Er erfolgte im Jahr 2005, als der große Einbruch der Börsenkurse im Jahr 2003 bereits langsam in Vergessenheit geriet und die Kurse sich erholten (siehe Abb. 2). Und für einige Jahre ging es tatsächlich steil aufwärts. Die neoliberale Illusion wurde genährt, dass Geld tatsächlich arbeiten und noch mehr Geld hervorbringen würde.
Die Blase platzt
Die Warnungen der KritikerInnnen waren nicht unbegründet. In der großen Finanzkrise von 2008/9 platzte die Blase und die Börsen brachen weltweit zusammen (siehe Abb. 2). Die staatliche Prämie, die zu Beginn 9 Prozent ausgemacht hatte, wurde auf 4,2 Prozent herabgesetzt, was die ohnehin angeschlagene Attraktivität der privaten Altersvorsorge ein weiteres Mal verminderte.
Nur noch sieben der befragten zwanzig Versicherungsunternehmen schlossen überhaupt Neuverträge ab. Die 14.500 Neuabschlüsse (2017, Tendenz stark fallend) sind weit davon entfernt, die abreifenden Verträge und voraussichtlichen Kündigungen finanziell auszugleichen.7 Die erwarteten Erträge stellten sich nicht ein, im Gegenteil. Es traten Verluste auf, im zweiten Quartal des Vorjahrs lagen sie zwischen 0,11 bis 3,19 Prozent.8 Die jüngste Kennzahl, die ich finden konnte, gibt die durchschnittlichen Verluste seit Jahresbeginn bis September 2018 mit 1,14 Prozent an.9
müssten.
Und täglich grüßt das Murmeltier…
Obwohl der Flop der privaten Altersvorsorge in Österreich unübersehbar ist, sprachen sich auf der jüngsten Pensions-Enquete der ARGE Zusatzpensionen die MinisterInnen und Abgeordneten zum Nationalrat für sie aus: »Man wird sich überlegen müssen, wie man die betriebliche und private Altersvorsorge als Ergänzung zur staatlichen Pension zügig ausbauen kann«. »Es braucht einen Schulterschluss der Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Vertretungen, um gemeinsam etwas Gutes zu erreichen.«10 Offensichtlich ist die Lernfähigkeit der VertreterInnen dieser Regierung ziemlich beschränkt. Hoffentlich haben zumindest Gewerkschaft und Arbeiterkammer ihre Lektion gelernt, kein weiteres Mal die private Altersvorsorge zu unterstützen.
Aufstieg…
Ich habe nachgeforscht, wie und wo die Privatisierungswelle für die Altersversorgung eigentlich begonnen hat. Es ist bezeichnend, dass das erste Privatisierungsexperiment schon 1981 in Chile in die Zeit der Diktatur von General Pinochet fällt. Auf Empfehlung der Chicago Boys, einer Gruppe von ÖkonomInnen, die an der Universität Chicago ausgebildet worden waren, wurde das staatliche Pensionssystem in ein privates System umgewandelt. Die Regierung wollte die Belastung des Steuertopfes durch die Pensionsversicherung senken, indem für jede/n Versicherte/n ein individuelles Pensionskonto eingerichtet wurde, das von privaten Pensionskassen verwaltet wurde.
Die Umstellung des Systems nach dem Kapitaldeckungsprinzip war für alle Lohnabhängigen verpflichtend11, für Selbstständige freiwillig. Die Beiträge von Seiten der Unternehmen wurden gestrichen, immerhin wurde als kleiner Ausgleich eine Lohnerhöhung von 11 Prozent vorgeschrieben. Die Beiträge konnten von der Steuer abgesetzt werden. Auf diese Weise wurden die Lohnabhängigen zwangsweise zu Kunden der Finanzindustrie, ohne jedoch über hinreichende Informationen zu verfügen, selbst vernünftige Entscheidungen über die Veranlagung ihres Kapitals treffen zu können. Ein wichtiges Ziel der Regierung war es, mit den privaten Ersparnissen der Lohnabhängigen die Kapitalmärkte zu stimulieren.
Das chilenische Pensionsexperiment erregte in der ganzen Welt Aufsehen und wurde von den internationalen Finanzinstitutionen und konservativen Think-Tanks als richtiger Weg in die Zukunft gefeiert, allen voran von der Weltbank, dem Weltwährungsfonds, der OECD, dem neoliberalen Cato Institut und von inter-amerikanischen und asiatischen Entwicklungsbanken.
…und Fall
Heute sieht die Einschätzung ganz anders aus: Die ILO hat in 30 Ländern (14 aus Lateinamerika, 14 aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, sowie Nigeria und Ghana)
die Pensionsprivatisierung untersucht12 und kommt zum Schluss, dass die Privatisierung in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrheitlich Misserfolge gebracht hat. Bis 2018 haben 18 dieser Länder die Privatisierung zurückgenommen, wobei die Weltfinanzkrise im Jahre 2008 für die PensionistInnen eine Katastrophe war. Die Beträge, die sie im Erwerbsleben eingezahlt hatten, wurden innerhalb weniger Tage drastisch entwertet. Aber auch schon in den Jahren 2001–2002 führte die lokale Finanzkrise in Argentinien zu einem Einbruch des angesparten Kapitals um 44 Prozent, was zum Stopp des privaten Pensionssystems im Jahr 2008 führte. In Chile wurden die Pensionsfonds sogar um 60 Prozent entwertet, in Peru auf die Hälfte reduziert.
Negative Bilanz
Obwohl internationaler Konsens darüber besteht, dass soziale Sicherheit auf alle Menschen ausgedehnt werden sollte, hat die Privatisierung den Anteil der aktiven EinzahlerInnen an der Zahl der Arbeitskräfte wesentlich reduziert.
So ging der Anteil der BeitragszahlerInnen z. B. in Argentinien von 46 Prozent auf 25 Prozent für Männer (bzw. von 42 Prozent auf 31 Prozent für Frauen) zurück. In vielen Ländern erreichten nach 30 Jahren Beitragsleistung die privaten Pensionen nicht einmal mehr die durch die ILO-Konvention Nr. 102 festgeschriebenen 45 Prozent des Referenzlohns. Die Solidarität in der Gesellschaft wurde untergraben, da Menschen, die wenig verdienen, sich die Beiträge für eine menschenwürdige Pension nicht leisten können. Die traditionellen Sozialversicherungssysteme kompensieren zumindest teilweise die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und deren Einkommen und ermöglichen den verwundbarsten Mitgliedern der Gesellschaft ein Leben in Würde. Dennoch werden das Finanzkapital und die damit verbundenen Medien nicht müde, auch in Österreich immer noch für die dritte Säule zu werben.
1 Unter Schwarz-Blau wird die Selbstverwaltung wieder unterminiert.
2 Die BeamtInnen waren und sind davon ausgenommen.
3 Die Neugründung von Betriebskassen ist nicht mehr zulässig.
4 Die Gelder der Beitragsleistenden werden direkt für die Finanzierung der Pensionen verwendet.
5 Eine erhöhte Nachfrage nach Wertpapieren treibt ihren Kurs nach oben, was eine weitere Finanzierungsquelle für die Pensionskassen darstellt.
6 https://www.bmf.gv.at/finanzmarkt/altersvorsorge/ueberblick-altersvorsorge.html#Entwicklung.
7 Österreichische Finanzmarktaufsicht (2018): Der Markt für die prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge 2017. Siehe https://www.fma.gv.at/download.php?d=3571.
8 https://www.mercer.at/newsroom/deutliche-unterschiede-der-veranlagungsstrategien-der-pensionskassen.html
9 https://www.oekb.at/kapitalmarkt-services/unser-datenangebot/veranlagungsentwicklung-der-pensionskassen.html
10 https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20181002_ OTS0105/zusatzpensionen-als-ergaenzung-zur-staatlichen-pension-muessen-rasch-ausgebaut-werden.
11 Interessanterweise war das Militär von der Umstellung nicht betroffen und blieb weiterhin im öffentlichen System.
12 International Labour Office (2018): Reversing Pension Privatizations. Rebuilding public pension systems in Eastern Europe and Latin America, Genf: ILO. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—-ed_protect/—-soc_sec/documents/publication/wcms_648574.pdf
Der Dokumentarfilm »Sie ist der andere Blick« kommt ins Kino.
Eva Brenner
Anfang November hatte der beeindruckende feministische Kunstfilm der jungen Cineastin Christiana Perschon über ein unterbelichtetes Kapitel der jüngeren Kunstgeschichte bei der Viennale 2018 Premiere. Unaufdringlich und in kontrastreichem Schwarz-weiß ereignete sich ein kleines Filmwunder
BRENNERmit hoch-ästhetischen, langsamen, minimalistischen Bildern abseits großer Inszenierungen. Fünf arrivierte Künstlerinnen hat Perschon zum Gespräch ins Atelier geladen: die Revolutionärinnen der österreichischen Avantgarde Renate Bertlmann, Linda Christanell, Lore Heuermann, Karin Mack und Margot Pilz. Neben den weitaus bekannteren männlichen Aktionisten der Zeit werden sie allzu oft vergessen – und haben dennoch die Kunstgeschichte nachhaltig beeinflusst. Mühelos schafft es der Film, der weitgehende Unsichtbarkeit und dem Mangel an Anerkennung vom Kunstbetrieb entgegen zu wirken.
»Die Siebziger Jahre waren für mich eine Zeit der Veränderung.« – Lore Heuermann
Vor stummen 16mm-Sequenzen, beginnend mit einer stillen Anfangseinstellung, in der bedächtig eine leere Leinwand weiß grundiert wird, erzählen die fünf Frauen aus dem Off von ihren künstlerischen Anfängen, ihrem Werdegang, ihren kulturpolitischen Kämpfen und der Normalität des Sexismus jener 60er und frühen 70er Jahre, in denen die eigene Befreiung und Grenzüberschreitung Voraussetzung jeglicher weiblicher Kreativität und Kunstausübung war, in der ohne Utopie, Experiment und Tabubruch nichts ging. Empört, dann wieder lakonisch schildern sie die Szenerien multipler Abhängigkeiten – von Ehe, Familie, Mann, Arbeitgeber, Kunstinstitutionen – und davon, wie sie mit Einsatz aller Kräfte zu ihrer eigenen Kunst/Form fanden, die im zweiten, digital in Farbe gefilmten Teil präsentiert wird. Sie werden plastisch durch das Aufzeigen ihrer Arbeitsweisen, in denen je neues künstlerisches Terrain erobert wurde. So experimentiert Renate Bertlmann, die als erste Frau den österreichischen Pavillon der Biennale in Venedig 2019 alleine bespielen wird, mit Latex-Skulpturen, um die Porno industrie zu desavouieren, filmt Linda Christanell in penibler Collegearbeit surreale Fantasiewelten am Reißbrett ab, und setzt Lore Heuermann lange asiatische Reispapierrollen mit behutsamen Tuschezeichnungen von Menschen in Bewegung.
»Eine Frau in einem Jahrzehnt reicht anscheinend.« – Lore Heuermann
Mit dieser Ansage steigt Perschon in die Thematik der jahrhundertelangen und bis heute andauernden Ungleichbehandlung von Frauen in der Kunst ein. Dass es neben VALIE EXPORT oder Maria Lassnig andere weibliche Künstlerinnen gab und gibt, davon spricht eingangs die 81-jährige Künstlerin, Malerin und Grafikerin Lore Heuermann, mit der ich in den letzten Jahrzehnten mehrfach bei Theaterprojekten kooperieren durfte und die ich auch zu dem Film befragte.
»Immer ist alles noch fest in der Hand der alten Männer.« – Lore Heuermann
Die Gespräche über Vorbilder und Bilder, Visionen und Selbstentwürfe, über Feminismus damals und heute bleiben lange in Erinnerung. In einer Zeit der Stagnation und Regression in Kunst und Kultur – mit immer bombastischeren Großevents, Retrospektiven und Happenings – erscheinen im empathischen Rückblick die bescheidenen, aber kunstgeschichtlich von gewaltigen Durchbrüchen geprägten Gesten dieser Vorreiterinnen geradezu revolutionär.
Für viele jüngere Künstlerinnen, die mit neuen Hindernissen wie wachsender Prekarisierung zu kämpfen haben, ist die radikale Aufbruchszeit der 70er Jahre bereits Geschichte; für die meisten ist der hohe Preis, den Frauen damals für ihr Kunst-Machen zahlen mussten, nicht mehr vorstellbar. Die künstlerischen Strategien, die sie anregten, gelten heute als selbstverständlich: Interdisziplinarität und Performativität, die schonungslose Ausstellung von Körper und Sexualität, die Kritik an Patriarchat und Kunstbetrieb, die Erforschung neuer Wahrnehmungsmuster, das Überschreiten von Genres.
Perschon gelingt, was vielen Dokumentationen fehlt: herausragende Vertreterinnen einer Gattung werden porträtiert und gleichzeitig schließt sich eine Lücke in der Entwicklung der (Kunst)Geschichte – ein überfälliger Nachholvorgang! Am Ende verlässt man den übervollen Kinosaal mit dem Gefühl, den Frauen ein stückweit näher gekommen zu sein – und erhält ganz nebenbei und leichtfüßig einen fundierten Einblick in das reiche feministische Kunstschaffen der ersten avantgardistischen Generation von Künstlerinnen nach 1945. y
Frauenfilmtage / Vienna International Womens Film Festival: 28. Februar bis 7. März; Kinostart: Mai 2019, Weltpremiere: VIENNALE ‘18