artikel -einzeln in html (316)
Die sozialen Folgen der Corona-Krise und die Langzeitfolgen des Shut down seit Mitte März sind in Österreich zwar bekannt und abseh-, aber noch kaum berechenbar.
VON MICHAEL GRABER
Seit März ist jedenfalls die Zahl der Arbeitslosen auf annähernd 6000.000 gestiegen und die Zahl der für Kurzarbeit Gemeldeten übersteigt die Millionengrenze. Gleichzeitig ist die Zahl der sozialversicherten Beschäftigten um fast 200.000 gesunken. Damit ist etwa die Hälfte aller unselbstständig Beschäftigten unmittelbar von der Krise betroffen, was zunächst einmal sofortigen Einkommensverlust bedeutet. Die Unsicherheit, an die Arbeitsplätze zurückkehren zu können oder nach Auslaufen der Kurzarbeitszeit weiter beschäftigt zu werden, hat sich immens erhöht. Die Einkommensverluste sind in der Regel nicht aufholbar, und die Konkurrenz um die Arbeitsplätze wird sich dramatisch erhöhen.
Der Vergleich mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre drängt sich zwar auf, ist aber dank der erkämpften sozialen Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, wozu in Österreich die Arbeitslosenversicherung, die Notstandshilfe, die Mindestsicherung, die Pensionen, das Pflegegeld, Familienförderung und andere Transferleistungen gehören, nicht wirklich zutreffend. Man darf nicht vergessen, dass die 600.000 Arbeitslosen der 30er Jahre faktisch »ausgesteuert« waren, das heißt, dass sie über keinerlei Einkommen verfügten und unmittelbar der Armut ausgeliefert waren. Auch die sonstigen Lebensumstände sind nicht mit den heutigen vergleichbar. Trotzdem bedeuten die sozialen Folgen der Corona-Pandemie einen Einschnitt in die Lebensverhältnisse von Millionen Menschen, wie sie seit der Nachkriegszeit in Österreich bisher nicht erlebt wurden. Gleichzeitig unterstreicht der Kampf um den Erhalt und den Ausbau der Sozialleistungen nicht nur ihre stabilisierende individuelle, sondern auch ihre volkswirtschaftlich stabilisierenden Wirkungen in der Krise.
Die schwarz-blaue Pensionsreform von 2003 schlägt voll zu
Eine der Langzeitfolgen, die bisher kaum thematisiert wurde, betrifft die Pensionen. Jetzt zeigt sich, dass die schwarz-blaue Pensionsreform von 2003 sowohl für hunderttausende künftige PensionistInnen individuelle als auch volkswirtschaftlich verheerende Auswirkungen haben wird. Um das zu verstehen, muss man auf die Zeit vor 2003 zurückgehen. Ursprünglich wurden die Pensionen auf der Grundlage der Einkommen der letzten fünf Jahre, die meist auch die besten Einkommensjahre ware, berechnet. Pensionsreformen der 80er und 90er Jahre dehnten die Berechnungsgrundlage auf 15 Jahre aus, was bedeutete, dass auch weniger gute Einkommensjahre herangezogen wurden, aber immerhin noch immer die besten.
Die Pensionsreform von 2003 machte damit Schluss. Dies hat zur Folge, dass jedes Jahr, das mit Einkommensverlusten verbunden ist, also etwa die Zeit während des Bezugs von Arbeitslosengeld oder der Notstandshilfe, in der sich das Einkommen in der Regel fast halbiert, ebenfalls in die Pensionsbemessungsgrundlage einbezogen wird und dadurch diese beträchtlich verringert. Ebenso verlieren auf dieser Grundlage geringfügig oder Teilzeitbeschäftigte massiv an Pensionsansprüchen. Die Jahrgänge, die in den nächsten Jahren in Pension gehen werden, haben also nicht nur die aktuellen Einkommensverluste während der Krise zu tragen, sondern haben als Langzeitfolge auch beträchtliche Verluste ihrer künftigen Pensionen zu erwarten, die zur Zeit niemand ausgleicht.
Das hat auch beträchtliche volkswirtschaftliche Auswirkungen. Denn mit den sinkenden Einkommen und den geringeren Pensionen sinkt die Kaufkraft und die gesellschaftliche Nachfrage. Das Medianeinkommen aller unselbstständig Erwerbstätigen beträgt jährlich 21.402 Euro (2018).
Geht man davon aus, dass sowohl Kurzarbeit als auch Arbeitslosigkeit zumindest sechs Monate dauern, verlieren Arbeitslose knapp 5.000 Euro und Kurzarbeitende etwa 1.000 bis 2.000 Euro, was sich auf einige Dutzend Mrd. Euro summiert, trotz der Zuschüsse des Staates zur Finanzierung der Kurzarbeit von bisher zehn Mrd. Euro.
Leistungen der Gesundheitskasse in Gefahr
Gleichzeitig sinken die Krankenkassenbeiträge und verursachen große Löcher in der neuen Gesundheitskasse, von der Kanzler Kurz seinerzeit behauptet hatte, es würde eine »Patientenmilliarde« herausspringen. Nun summieren sich die Fusionskosten der Gebietskrankenkassen mit den Kosten der Krise, was die Gefahr heraufbeschwört, dass es als Langzeitfolge zu Selbstbehalten und/oder Leistungskürzungen kommt, nicht zuletzt, weil die Unternehmervertreter*innen zusammen mit den schwarzen Versichertenvertreter*innen in der Gesundheitskasse das Sagen haben.
Durch die verzugszinsenfreie Stundung der Beiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung fielen allen im März fast 900 Millionen Euro aus, wovon allein auf die Gesundheitskasse knapp 170 Millionen Euro entfielen. Dadurch finanzieren die Versicherungsgelder der Arbeiter und Angestellten die Krisenlasten der Unternehmer und es ist davon auszugehen, dass nur ein Teil der ausständigen Beträge tatsächlich zurückgezahlt wird. Funktionäre der Sozialversicherung meldeten deshalb bereits ein Defizit allein der Gesundheitskasse für dieses Jahr von mehreren hundert Millionen Euro an. Und in einer Aussendung heißt es, dass eine »langfristige Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Leistungen« nur durch eine »nachhaltige finanzielle Absicherung seitens des Bundes« gewährleistet werden könne. Doch davon ist seitens der Regierung bisher noch keine Rede.
Auch wenn Corona derzeit vieles verändert, die Grundlagen unseres Sozialsystems werden sich nicht so rasch ändern. KARL REITTER wirft einen kritischen Blick auf den Sozialstaat.
Der österreichische Sozialstaat ist ein Resultat des Klassenkompromisses nach 1945. Verglichen mit der Situation in vielen anderen Regionen dieser Welt ist er zweifellos eine Errungenschaft. Seit Jahren wird er unter neoliberalem Vorzeichen attackiert. Permanent wird die Senkung der Sozialabgaben, verschleiernd als Lohnnebenkosten bezeichnet, gefordert und damit die Basis der Finanzierung des Sozialstaates in Frage gestellt. Allerdings kann das Sozialsystem mit Sozialversicherungsbeiträgen nur zu 63 Prozent finanziert werden, 37 Prozent stammen aus »allgemeinen Steuermitteln«.1 Dieser Zuschuss ist vor allem den NEOS ein Dorn im Auge. Da diese Steuermittel überwiegend für die Finanzierung der Pensionen verwendet werden, wird behauptet, dass sich damit die »Alten« auf Kosten der »Jungen« ein fideles PensionistInnenleben bezahlen lassen würden. Anstelle des derzeit noch bestehenden Umlageverfahrens, bei dem Steuern- und Sozialbeiträge der erwerbstätigen Generation für die Finanzierung der Pensionen verwendet werden, soll ein privates Versicherungssystem treten. Dieser Kritik gilt es entgegenzutreten, aber wie?
Eine bloß passive Verteidigung des Sozialstaates, so wie er ist, kann keine linke Perspektive sein. So sozial, wie der Name suggeriert, ist der Sozialstaat nämlich gar nicht. Um seine massiven Mängel zu erkennen, beginnen wir mit einem Blick auf die Ausgabenstruktur. Wofür wird das Geld eigentlich ausgegeben? 56 Prozent entfallen auf Renten und Pensionen, 26 Prozent auf Krankheit/Gesundheit, neun Prozent auf Familienleistungen, gerade sechs Prozent auf Ausgaben für Erwerbsarbeitslosigkeit. zwei Prozent für Wohnen und nur ein Prozent für die sogenannte Mindestsicherung.2 In welcher Art und Weise werden die Sozialausgaben gewährt? Das Sozialministerium unterscheidet zwischen bedarfsgeprüften und nicht bedarfsgeprüften Leistungen. »Mehr als 95 Prozent der Geldleistungen aus den Sozialschutzsystemen werden ohne Bedürftigkeitsprüfung, d. h. ohne Prüfung von Einkommen und/oder Vermögen, gewährt.«3 Was bedeutet dies im Klartext?
Die Leistungen des Sozialstaates sind so ungleich wie die Erwerbseinkommen
Es bedeutet, dass sich bei vielen Sozialtransfers, insbesondere bei den Pensionen, dem Arbeitslosengeld und der Notstandhilfe, die ungleichen Einkommen des Erwerbslebens in ungleichen Geldgrößen niederschlagen. Das wirkt sich insbesondere bei den Renten und Pensionen aus. Hier die Daten des Sozialministeriums für das Jahr 2016: Durchschnittliche Alterspension in Euro, inklusive Kinderzuschuss und Ausgleichszulage.4
Auch beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe sind die Unterschiede bedeutend. Der durchschnittliche Tagsatz bei der Arbeitslosen betrug 2018 bei Männern 34,60 bei Frauen 29,00 Euro, bei der Notstandshilfe 27,50 bzw. 23,90.5 Diese Differenzen ergeben sich aus unterschiedlichen Bezahlungen, aber auch aus den unterschiedlichen Rechtsformen der Arbeitsverhältnisse. Prekär Beschäftigte, Scheinselbständige, SchwarzarbeiterInnen und geringfügig Angestellte können oftmals nur sehr eingeschränkt Versicherungszeiten und damit sozialstaatliche Ansprüche erwerben. Wobei der Unterschied zwischen Männern und Frauen nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Die Situation in der Arbeitswelt ist durch ein Bündel ineinander verwobener Hierarchien bestimmt. Zu jener zwischen Männern und Frauen tritt die zwischen ÖsterreicherInnen und MigrantInnen, zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten, zwischen Jüngeren und Älteren; die Auflistung ist keinesfalls vollständig.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Hierarchien und Diskriminierungen in der Erwerbswelt drücken sich direkt im Ausmaß der Ansprüche und in der Höhe des monetären Transfers aus. Diesbezüglich ist der Sozialstaat nur ein Spiegel der allgemeinen Verhältnisse am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt. Dieses Prinzip wird vom Gesetzgeber begrüßt: »Der österreichische Wohlfahrtsstaat gehört zu den Sozialstaaten konservativ-korporatistischer Prägung (vgl. Esping-Andersen), was sich unter anderem stark an der Anbindung sozialer Sicherung an der Erwerbsarbeit festmachen lässt. Das bedeutet, dass z. B. die Zugangsvoraussetzungen und die Leistungsbemessung der Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit, im Alter und bei Invalidität überwiegend an den früheren Erwerbs- und Einkommensstatus gekoppelt sind.«6 Wir sollten es in Frage stellen.
Dieses Prinzip muss überwunden werden
Die klassische sozialdemokratische und gewerkschaftliche Haltung besteht darin, die ungleichen Pensionen wohl zu beklagen – die Lösung soll aber allein in höheren Löhnen und geregelten Arbeitsverhältnissen für alle liegen. Bis allerdings Frauen so viel verdienen wie Männer, bis MigrantInnen so viel bekommen wie »echte« ÖsterreicherInnen, wird noch viel Wasser die Donau hinabfließen, von der Gleichstellung von ErntehelferInnen und Pflegekräften aus dem Osten ganz zu schweigen. Ob zudem eine derartige Strategie für Ältere überhaupt noch relevant sein kann, sei dahingestellt. Wer mit 60 Jahren schlecht verdient, wird sich in den verbleibenden Erwerbsjahren keine Spitzenpension mehr erarbeiten können. Es gilt daher entschlossen das Prinzip des Sozialstaates selbst zu kritisieren. Nicht die Höhe der Erwerbseinkommen, die Bedürftigkeit muss das Maß sein.
Die bedarfsgeprüften, »mindestsichernden Leistungen«
Zu diesen sozialstaatlichen Instrumenten zählt die Mindestsicherung, die Schüler- und StudentInnenbeihilfe, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sowie die Ausgleichszulage bei Renten und Pensionen. Ihr Volumen an den gesamten Sozialstaatsausgaben ist gering und beträgt rund fünf Prozent. Die hoch gelobte Treffsicherheit des Sozialstaates umfasst gerade fünf Prozent der Ausgaben. Aber kann zumindest dieser kleine Teil tatsächlich als »sozial« bezeichnet werden, sozial in dem Sinne, dass damit allen Menschen eine materielle Existenz in Würde gesichert wird? Die Antwort müsste Ja lauten, wenn da nicht die massiven Auflagen und Bedarfsprüfungen wären, die insbesondere beim Arbeitslosengeld und bei der Notstandshilfe bzw. Mindestsicherung den Bezug an eine ganz Reihe entwürdigender Maßnahmen knüpfen würden. Diese Maßnahmen haben Methode. Der alt-ehrwürdige Nachkriegssozialstaat ist nämlich unter der Hand schon längst neoliberal umgeformt worden. Diese Veränderungen werden in der sozialwissenschaftlichen Literatur mit den Begriffen welfare state und workfare state bezeichnet. Der ehemalige Sozialstaat der Nachkriegszeit, der welfare state, sollte die Risiken einer Arbeiter-Normalbiographie absichern, für die Frau war der Haushalt vorgesehen. Der neoliberale workfare state hingegen nimmt den ganzen Menschen ins Visier. Der große Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Sozialstaates besteht weniger in einer Absenkung der Transferleistungen, sondern in der Verknüpfung der monetären Zuwendung mit einem Bündel an paternalistischen Bevormundungen, verordneten Eingriffen in die Lebensführung und einem ausgeklügelten Sanktionssystem. »Der Übergang von Welfare (einem bedingungslosen Bürgerrecht auf soziale Unterstützung) zu Workfare (einer bedingten, an entmündigende Handlungs- Berichts- und Arbeitszwänge gekoppelten Unterstützung) erzeugt einen punitiven [strafenden] Paternalismus.«7 Nicht soziale Sicherheit steht im Vordergrund, sondern die Zurichtung des arbeitslosen Individuums auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Unter türkis-blau wurde die Sanktionspraxis des AMS massiv verschärft. Die Anzahl der Bezugsstreichungen durch das AMS wurde von 103.804 im Jahre 2016 auf 133.420 im Jahre 2018 gesteigert, und das bei damaliger geringfügiger Senkung der Arbeitslosenzahlen.
Den Sozialstaat zu verteidigen bedeutet unter andrem die Novellierung des § 10 AlVG »Ablehnung von Beschäftigungs- und Schulungsangeboten« zu fordern. Dieser 2007 veränderte Paragraf stellt Schulungsangebote sowie Vermittlung zu den sogenannten Sozialökonomischen Betrieben mit tatsächlichen Jobangeboten gleich. Dadurch können sich Erwerbsarbeitslose gegen schikanöse und sinnlose Kurse sowie gegen die Vermittlung zu den Sozialökonomischen Betrieben, eine trübe Mischung aus Schulungsinstituten und Leiharbeitsfirmen, nicht mehr wehren. Der § 11 AlVG »Arbeitslosigkeit aufgrund von unberechtigtem vorzeitigem Austritt, Kündigung des Arbeitnehmers, fristloser Entlassung« wäre zu streichen. Alle müssen das Recht haben, ihren Arbeitsplatz aufzukündigen, das darf nicht sanktioniert werden.
Schlussfolgerung
Wer bloß von der Verteidigung des Sozialstaates spricht und die hier angeführten massiven Mängel verschweigt, legitimiert diese. Eine tatsächlich offensive und zukunftsorientierte Verteidigung des Sozialstaates muss sich konsequent gegen alle Sanktionen aussprechen sowie fordern, dass alle Sozialtransfers aus der Geiselhaft des Lohnsystems befreit werden. Mit einem Wort, der Sozialstaat muss in Richtung des Grundeinkommens weiterentwickelt werden. Ob Rente, Arbeitslosengeld oder Mietzinsbeihilfen, alle Transfers sollten nach den vier Merkmalen des Grundeinkommens erfolgen, also tatsächlich existenzsichernd, personenbezogen, allgemein (die Staatsbürgerschaft darf keine Rolle spielen) und möglichst bedingungslos eingerichtet werden. Dies wird sicher nicht auf einen Schlag zu verwirklichen sein. Aber ein bloßes »Hände weg vom Sozialstaat« ist keine Antwort auf die Angriffe des Neoliberalismus.
1 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 46
1 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 37
2 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 84
3 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 183
4 Quelle: AMS Jahresbericht 2018; https://www.ams.at/arbeitsmarktdaten-und-medien/arbeitsmarkt-daten-und-arbeitsmarkt-forschung/berichte-und-auswertungen
5 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 41
6 Michael Hirsch Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft 2016; Seite 87)
Die unerschütterliche Sehnsucht nach einem Platz innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft bringt den Glauben an die bizarrsten Widersprüche zustande. Da staunt sogar Hegel.
VON LINDA LILITH OBERMAYR
Die Staatstheorie der Linken verzweigt sich seit jeher in zwei Seiten: einmal in die Seite der Befürworter*innen des Staates als Sozialstaat, ein andermal in die Seite der Gegner*innen des Staates als Klassenstaat. Der Sozialstaat beruht auf der Idee, den Staat zu Zwecken sozialer Gerechtigkeit einzusetzen, etwa durch den Erlass arbeitnehmer*innen-, mieter*innen- oder konsumentenschutzrechtlicher Regelungen. In diesem Sinne ist auch der austromarxistische »Dritte Weg« zu verstehen, der sozialerzieherisch und sozialgesetzgeberisch die Bedingungen der Möglichkeit einer zukünftigen, aber aufgeschobenen Revolution schaffen will. Die durch ihn gepredigte »soziale Revolution« ist also nicht dadurch sozial, dass sie die alte Gesellschaft auflöst, sondern bloß dadurch, dass sie in eben diese alte Gesellschaft regulierend eingreift. Der klassischen Sozialdemokratie wie dem austromarxistischen Reformismus geht es demnach primär darum, sozialen Ausgleich innerhalb der bestehenden Ordnung herzustellen.
Jenseits von Sozial- und Klassenstaat
Demgegenüber gilt der Staatstheorie im Anschluss an Lenin jeder Staat als Klassenstaat und als solcher dient er einzig der Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse. Weil der Staat auf diese Weise aber als bloßes – das heißt inhaltsleeres und erst mit Inhalt zu speisendes – Instrument begriffen ist, folgt auf das »Zerschlagen« der Staatsmacht nicht der staatsfreie Zustand, sondern die Ergreifung derselben durch das Proletariat. Dieses setzt den Staat erneut zur Durchsetzung seiner Interessen – also primär der Verstaatlichung der Produktionsmittel – ein. Nun nimmt die Leninistische Staatstheorie ihr eigenes Diktum nicht ernst, wenn sie mit der Übernahme der Staatsmacht bloß inhaltliche Kritik am Staat übt. Denn wenn jeder Staat Klassenstaat ist, hängt diese Eigenschaft offenbar nicht mit der konkreten, die Staatsmacht innehabenden Person/Fraktion, sondern mit der Form des bürgerlichen Staates als solchem zusammen.
Affirmation des Gewaltverhältnisses Namens Staat
Gemeinsam ist der sozialdemokratischen und der leninistischen Staatstheorie folglich die im ersten Fall unmittelbare, im zweiten Fall mittelbare Affirmation des Staates als Gewaltverhältnis. Dass der Staat Gewaltverhältnis ist, ist allein darin mühelos zu erkennen, dass er sich das alleinige Recht zur zwangsweisen Durchsetzung, das Gewaltmonopol, sichert. Es erübrigt sich sohin, sich mit Beweisen dafür, dass das Verhältnis des Staates zu seinem Volk ein gewaltvolles ist, auseinanderzusetzen. Im Übrigen scheint dies allein für den überwiegenden Teil der Bevölkerung auch nicht Grund zur Empörung zu sein. Anlass moralischer Entrüstung ist ganz im Gegenteil nicht das Gewalt- und Herrschaftsverhältnis selbst, sondern bloß sein Missbrauch durch korrupte Politik oder zu falschen Zwecken. Diese Absurdität kommt am eindrücklichsten in Debatten darüber zum Ausdruck, ob die Gewaltanwendung der Polizei nicht womöglich »unangemessen«, ob nicht besser an Stelle des Schlagstockes die bloße Hand verwendet, besser nur zweimal statt dreimal zugeschlagen werden sollte usf. Diese Zustimmung zur angemessenen Gewalt – neuerdings auch performativ in Form von denunziantischen Nachbarschaftsanzeigen, die ein Ruf nach Gewaltausübung durch den Staat sind – ist in einer umfassenden Bejahung gerechtfertigter Herrschaft inbegriffen.
Ohne das zu wissen, wird der Großteil der wahlberechtigten Bevölkerung spätestens am Tag des Urnengangs zu Hobbesianer* innen: Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und der ordnenden Staatsgewalt bedarf, ist der bürgerlichen Demokratie nämlich die allerliebste Weisheit.
Lehrstücke der Ideologie I – Freiheit als Herrschaftsverhältnis
Eine differenzierte Staatskritik muss an der Form des bürgerlichen Staates ansetzen, ihn also nicht bloß nach seiner konkreten Ausgestaltung oder als neutrales Werkzeug bestimmter Interessen verstehen. Der bürgerliche demokratische Staat ist nicht nur der Staat der »Reichen« und »Mächtigen«, er ist der Staat aller und alle sind seine Basis. Tatsächlich ist der Staat also neutral, in dem Sinne nämlich, dass ihm alle gleich und frei sind, ja er die Freiheit und Gleichheit aller sogar zwangsmäßig durchsetzt. Falsch ist jedoch, dass sich hinter diesem neutralen Schleier ein »Gorgonenhaupt [Schreckenshaupt] der Macht«, also das Sonderinteresse, fände.
Indem der Staat seinen Bürger*innen die Freiheit und Gleichheit verordnet, verweist er sie zugleich auf die Anerkennung des Privateigentums als der materiellen Betätigungssphäre ihrer Freiheit. Er gewährt ihnen Freiheit nur in der bestimmten Form der eigentumsmäßigen Verfügung, und weil ihm alle gleich sind, er also von all ihren Besonderheit absieht, gelten ihm die faktischen Eigentumsunterschiede unter ihnen nichts. Gleichheit ist nur die unterschiedslose Unterwerfung aller unter sein Recht. Gerade dadurch also, dass er als vollends neutrale Instanz die Freiheit und Gleichheit aller zwangsweise durchsetzt, setzt er den ökonomischen Interessengegensatz seiner Bürger*innen frei. Als Freie und Gleiche dürfen sie nun ihre gegensätzlichen Privatinteressen zu ihrem wechselseitigen Schaden verfolgen und sind in dieser Hinsicht wieder auf den Staat als regulierende Instanz verwiesen. Es ist also der Staat, der den Interessengegensatz, in den er die Ordnung hineinzutragen verspricht, erst wirklich betätigt.
Dass Freiheit ein Herrschaftsverhältnis ist, wird nicht erst in der gegenwärtigen Corona-Krise deutlich, sondern lässt sich immer dann zum Repertoire bürgerlich-demokratischer Alltagsweisheiten zählen, wenn einmal wieder »mehr Freiheit« vom Staat gefordert wird. Freiheit als Forderung an den Staat ist doch aber eine äußerst seltsame Konstruktion.
Lehrstücke der Ideologie II – Der Glaube an die gute Herrschaft
Obwohl restlose Unzufriedenheit mit dem Staat herrscht – freilich wird es nie verabsäumt, ihn im selben Atemzug in einem Vergleich mit totalitären Staatsregimen jenseits des demokratischen Westens zu loben –, erscheint der Staat als Einrichtung zur Beförderung des Gemeinwohls. Jeden Tag spürt der eigentumslose Teil, also die Mehrheit der Bevölkerung die Interessengegensätzlichkeit, die ihr der Staat aufoktroyiert, jeden Monat liegt die radikale Wirklichkeit als Gehaltszettel im Postfach und dennoch: gegen die negative Wirklichkeit hält die Bevölkerung fest an der Vorstellung, der Staat sorge sich um sie, und es ist diese Unerschütterlichkeit gegen jede empirische Erfahrung, die ihre Vorstellung zum Glauben erhebt. Der vollends säkularisierte bürgerliche Staat ist also der Staat, der jede Wirklichkeit gegen sich, aber immerhin noch den Glauben für sich hat.
Doch die Kritik am Staat ist nicht nur vom Glauben an die Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns, sondern darüber hinaus vom umfassenden Glauben an die gute Herrschaft motiviert.
Durch die Brille dieses Glaubens jedoch muss jede noch so entgegengesetzte Wirklichkeit, jedes offenkundig dem eigenen Interesse entgegengesetzte Staatshandeln als Moment zur Herstellung der guten Herrschaft oder doch wenigstens als zugleich bedauerte (etwa wirtschaftliche) Notwendigkeit erscheinen. Der Staat muss die Steuern erhöhen, um zukünftig das Gemeinwohl zu fördern, und treue Patriot*innen nehmen dies mit würdevoller Selbstaufopferung gerne in Kauf. Dabei ist völlig klar, dass das Gemeinwohl nur sein Wohl, seine wirtschaftliche und geopolitische Stellung im internationalen Wettkampf der Nationalstaaten bedeutet. Wenn sich der Staat sohin in Zeiten von Epidemien um die Gesundheit seines Volkes kümmert, so gilt ihm die Gesundheit nicht als Wert an sich, sondern als Bedingung einer funktionierenden wirtschaftlichen Basis. Doch endet eine idealistische Kritik an der Wirklichkeit immerzu nur beim hoffnungsvollen Seufzer: »Eigentlich sollte das ja nicht so sein!«
CoronAnarchismus
Nun erscheint dieser Text zu einer Zeit, in der Staatskritik salonfähig, ja vom kritischen Bewusstsein der mündigen demokratischen Staatsbürger*innen gar nicht wegzudenken ist. Fast könnte man meinen, die sonst so patriotisch ergebene Basis flüchtet sich ins anarchistische Lager.
Gegenstand dieser neuen Staatskritik sind einerseits die massiven Einschränkungen in der Wirtschaft und andererseits die beobachtete Tendenz hin zum totalitären Überwachungsstaat. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Einschränkung steht ein großer Teil der eigentumslosen Klasse vor dem finanziellen Ruin; das ist ein Faktum und als solches ist es tragisch. Gleichwohl ist die Kritik an dieser Einschränkung paradox: Nur weil der Staat durch die Verkündung von Freiheit und Gleichheit das Kapitalinteresse zum allgemeinen Interesse der Gesellschaft erklärt, ist die eigentumslose Klasse zur Lohnarbeit verpflichtet. Gegenüber dieser Not muss die Lohnarbeit als Segen erscheinen, füllt ihr Tauschwert doch monatlich die Mägen. Die Not um den lohnförmigen Gelderwerb ersetzt die Not des lohnförmigen Gelderwerbs. Diesem Faktum gegenüber bleibt eine Kritik aber blind, die nur erst die staatliche Einschränkung der privaten Freiheit, nicht aber den staatlichen Ursprung dieser Freiheit erkennt.
Ebenso ist die Kritik an den Maßnahmen unter Verweis auf das potentielle Zusteuern auf ein totalitäres Staatsregime verkehrt, denn diese Kritik weiß sich immer schon auf der Seite des demokratischen Gemeinwesens, dessen Wertekanon sie unhinterfragt als Maß der Dinge nimmt. Statt ihren Blick in energischer Bekräftigung der heimischen Demokratie spöttisch über die Grenze auf fremde Diktaturen zu werfen, sollte diese Kritik sich lieber dem eigenen Glauben an die gute Herrschaft zuwenden. Dieser Glaube kulminiert im Paradox, dass die demokratische Herrschaft deswegen eine gute ist, weil ihr alle zustimmen.
Von KATARZYNA WINIECKA und ANDREAS AIPELDAUER
Denken wir zurück an das erste Wochenende diesen März in Wien. Es ist zwei Wochen nach den rassistischen Morden in Hanau, zwei Wochen, nachdem wir im Gedenken an die Ermordeten vor der Deutschen Botschaft standen. Am Freitag demonstrieren rund 4.000 Menschen bei einer spontan innerhalb weniger Tage organisierten Demo für die Öffnung von Grenzen für transnationale Solidarität, gegen Rassismus und Krieg. Am Samstag stören hunderte Antifaschist*innen einen Aufmarsch der »Identitären«. Am Sonntag, dem 8. März, am internationalen feministischen Kampftag, stehen wieder Tausende auf den Straßen gegen Kapitalismus und Patriarchat. Was für ein Wochenende! Aus heutiger Perspektive betrachtet wie aus einer anderen Welt.
Transnationale Solidarität gegen Krieg und Grenzen
Nach einer Eskalation in der nordsyrischen Provinz Idlib kündigt die Türkei ihren Deal rechtswidrige Zustände in Geflüchtetenlagern auf griechischen Inseln und dem mit der EU Ende Februar vorläufig auf. Sie hält ihre Grenzen zu Syrien weiterhin geschlossen, erklärt jedoch, dass sie Geflüchtete, die Europa erreichen wollen, nicht länger daran hindert. Tausende Menschen fliehen in Richtung türkisch-griechischer Grenze und versuchen, diese zu überwinden. Sie werden von griechischen Polizeikräften am Übertritt in die EU mit Tränengas und scharfer Munition abgewehrt. Im Grenzbereich feststeckend, werden sie als politisches Druckmittel zwischen Brüssel und Ankara instrumentalisiert. Die EU-Grenzpolitik lässt Schutzsuchende nicht nur passiv im Mittelmeer sterben: Am 2. März wird der 22-jährige Mohamed Al-Arab, der aus Syrien geflüchtet war, von griechischen Grenzschützer*innen getötet. Weitere Geflüchtete werden schussverletzt. Am 4. März wird Muhamad Gulzar aus Pakistan an der Grenze erschossen. Es zirkulieren Bilder, die schwerste Misshandlungen an Geflüchteten durch griechische Polizeikräfte dokumentieren. Türkische Einsatzkräfte wiederum hindern die Menschen daran, in die Türkei zurückzukehren. Zeitgleich herrschen menschenFestland. Faschistische Gruppen – auch aus Deutschland und Österreich – treffen in Griechenland ein. Solidaritätsstrukturen und Community Center für Geflüchtete werden abgebrannt. Diese Zuspitzung der Situation können viele Menschen in Österreich nicht mehr schweigend hinnehmen. Zusammen mit 50 anderen Organisationen schließen sie sich dem Aufruf von Cross Border Solidarity Wien an, um am 6. März auf den Straßen Wiens Widerstand gegen das österreichische und europäische Grenzregime zu zeigen. Unsere politischen Forderungen von damals sind aktueller denn je.
Zusätzlich erleben wir gerade einen Bruch. Anfang März konnte sich noch kaum jemand vorstellen, wie stark die Covid-19-Pandemie das gesellschaftliche Leben und unseren täglichen Alltag verändern würde. Anfangs noch bagatellisiert, sahen wir kurze Zeit später zusammenbrechende Gesundheitssysteme, rasch steigende Arbeitslosenzahlen und das Heraufziehen einer globalen Wirtschaftskrise, deren Ausmaß wir heute noch nicht abschätzen können. Es begann auch in Österreich die Zeit der sozialen Distanzierung und der radikalen Einschränkung von Bewegung und Begegnung im öffentlichen Raum. Zunächst beherrschten vor allem gesundheitspolitisch und virologisch begründete Fragen den Diskurs. Mittlerweile wird aber immer mehr Menschen bewusst, dass die im Ausnahmezustand sichtbarer gewordenen Missstände und Ungleichheiten in unserer Gesellschaft bereits vorher vorhanden waren. Sie liegen als schwerwiegende Probleme in kapitalistischen Gesellschaften begründet, eskalieren nun in der Krise und zeigen auf, wie verschiedene Unterdrückungsmechanismen miteinander verwoben sind. Es ist höchste Zeit für Veränderung. Es ist Zeit, über neue politische Möglichkeiten nachzudenken, unter anderem in Vorbereitung auf die kommenden Verteilungskämpfe um die in der Krise entstehenden Kosten.
Widersprüche, fehlende Rechtssicherheit und Polizeiwillkür
Zurzeit ist unsere Gesellschaft jedoch vor allem von Verunsicherung geprägt. Niemand kann voraussagen, was die Zukunft bringen wird. Auch wenn die Regierung Fahrpläne präsentiert, wissen wir, dass sich diese innerhalb kürzester Zeit wieder ändern können. Der Staat versucht, diese Verunsicherung zu kompensieren, indem er vorgibt, dass Ordnung und Kontrolle diese Krise lösen werden. Dabei wird eine Doppelstrategie gefahren. Zum einen erleben wir klassische autoritäre Maßnahmen. Zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die die Verbreitung von SARS-CoV-2 verhindern sollen, wurden erlassen. Bei Nichteinhaltung werden hohe Strafen angedroht bzw. verhängt. Die Polizeipräsenz auf den Straßen wurde deutlich erhöht. Die stark steigende Zahl an Anzeigen wird vom Innenminister bereitwillig verkündet – innerhalb der ersten drei Wochen nach Inkrafttreten des Covid-19-Maßnahmengesetzes immerhin 17.417 österreichweit. Viele dieser Anzeigen wurden mit fadenscheinigen Begründungen und in den Augen von Jurist*innen ohne ausreichende Rechtsgrundlage erstattet. Die unterschiedliche Auslegung der Ausnahmeregelungen durch die Exekutive bringt uns zum zweiten Teil der Strategie, die Kriminologin Angelika Adensamer und Soziologe Reinhard Kreissl treffend mit Desinformation als Herrschaftsmittel beschreiben.
Denn: Seit Wochen scheint gar nicht so klar zu sein, welches Verhalten aufgrund der vage formulierten Ausnahmeregelungen der Ausgangsbeschränkungen nun gesetzeskonform ist und welches nicht. Oft widerspricht das, was in den Verordnungen steht, dem, was auf Pressekonferenzen kommuniziert oder durch die Polizei exekutiert wird, deutlich. Diese undurchsichtige Rechtslage verstärkt die ohnehin vorhandene Unsicherheit in der Bevölkerung, sie verängstigt die Menschen und führt dazu, dass sie im Zweifel zuhause bleiben. Sie versucht, uns in die Vereinzelung zu zwingen und die Lösung der Krise auf unser individuelles Verhalten zurückzudrängen. Dieses Ergebnis ist ein Ziel der beschriebenen Strategie. Wir begreifen sie als Form von Repression.
Vor dem Virus sind nicht alle gleich
Weil das Virus vor Grenzen nicht Halt macht, zeigt es uns auf, dass das Überleben Einzelner von den Verhaltensweisen vieler Anderer abhängig ist. Es bringt die Verletzlichkeit all unserer Leben im globalen Kapitalismus zum Vorschein. Beschwörungen eines gemeinsamen Schicksals und Bekundungen eines solidarischen Zusammenhalts zeugen vom verbreiteten Verständnis, dass die Pandemie – anders als zuvor Kriege, Terror oder Naturkatastrophen – alle betrifft. Auch die Ausgangssperren betreffen uns alle gleichermaßen, doch die Unterschiedlichkeit ihrer Auswirkungen ist gravierend. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind von polizeilichen Maßnahmen stärker betroffen als andere. Die ungleiche Verteilung von Rechten, Chancen und Solidarität lässt manche Menschen Last und Gesundheitsrisiko in einem viel höheren Ausmaß tragen.
Um eine Ausbreitung zu verhindern, ist es notwendig, den Schutz der von Ansteckung und Erkrankung aktuell am meisten gefährdeten Gruppen zu organisieren. Das wird immer wieder beteuert. Allerdings betrifft es de facto nicht nur Menschen mit Vorerkrankungen oder im höheren Alter, sondern auch jene, welche aufgrund der ihnen auferlegten Lebensbedingungen den Risiken der Pandemie am direktesten ausgesetzt sind: Bereits davor marginalisierte Personen, wie Sexarbeiter* innen, People of Color, Schwarze Menschen und Geflüchtete, insbesondere jene mit unsicherem oder ohne Aufenthaltsstatus. Die zu einem großen Teil migrantischen Beschäftigten in all den meist unterbezahlten und häufig prekären Jobs, in denen Home Office keine Option ist und sich vielmehr die Wahl zwischen arbeiten gehen mit Infektionsrisiko oder Erwerbslosigkeit stellt. Nicht zuletzt die Menschen des globalen Südens, für die eine drohende Verschärfung von Armuts- und Hungerkrisen durch die Corona-Pandemie wahrscheinlich bedrohlicher ist als das Virus an sich.
Grenzregime
Die Frage, welches Leben als schützenswert betrachtet wird, welches Leben von Bedeutung ist, rückt in diesen Tagen wieder einmal mit brutaler Deutlichkeit ins Bewusstsein. Wen lassen wir leben, wen lassen wir sterben? Der kamerunische postkoloniale Denker Achille Mbembe bezeichnet die Nutzung politischer Macht, um zu bestimmen, wer leben darf und wer sterben muss, als Nekropolitik und hält fest, dass ebendiese die aktuelle Antwort auf die Pandemie auf nationaler als auch internationaler Ebene ist. Obwohl der Erhalt von Gesundheit als oberste politische Priorität der Regierungen deklariert wird, beobachten wir dem entgegenlaufende Maßnahmen, wie das Fortbestehen und Quarantänieren von Massenlagern für Geflüchtete statt deren sofortiger Auflösung. Dies zeigt auf, dass wir uns in keiner medizinischen, sondern in einer schon vor der Pandemie bestehenden tiefen politischen Krise befinden. Hier tritt einer der größten Widersprüche aktueller Politik zu Tage: Die Frage nach dem Umgang mit schutzsuchenden, migrierenden Menschen in Zeiten militarisierter Grenz- und Kriegspolitik sowie kolonialer und kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse des globalen Nordens gegenüber dem globalen Süden.
Mbembe erklärt, dass die absichtliche Untätigkeit des Staates – die oft mit dem Tod der Betroffenen endet – als maßgeblicher Teil nekropolitischer Strategien zu verstehen ist. Beispiele dafür sind die sich andauernd im Ausnahmezustand befindenden Lager für Geflüchtete oder die Verhinderung und Kriminalisierung von Seenotrettung. Sie wird erst möglich, nachdem die Figur des Anderen als tiefe Bedrohung für die Nation konstruiert und damit entmenschlicht wurde.
Was passiert aber, wenn das Wohl der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund eines unsichtbaren Krankheitserregers plötzlich in direkter Abhängigkeit zu einer Gruppe von Menschen steht, deren Rechte zuvor systematisch abgebaut wurden, deren Ausbeutung die nationale Wirtschaft maßgeblich mitaufgebaut hat, deren Stimmen, politische Forderungen und Kämpfe unterdrückt werden?
Was müsste eigentlich passieren, wenn die Gesundheit der österreichischen Staatsbürger*innen mit der Gesundheit eingesperrter Menschen in Lagern wie Traiskirchen, entrechteter migrantischer 24h Pfleger*innen, eigens dafür aus osteuropäischen Ländern eingeflogener Erntehelfer*innen in Wechselwirkung steht?
»Corona lehrt, dass meine Krankheit auch deine Krankheit ist, da sie dich morgen treffen kann. Deshalb müssen wir für uns selbst und füreinander verantwortlich sein. Corona lehrt die Welt über Leben von Geflüchteten, was es bedeutet, verletzlich, ignoriert, am Leben, aber unsichtbar, frei, aber eingesperrt zu sein, mit Tausenden von Worten, mit Tausenden von Gedanken, aber zum Schweigen gezwungen. Corona ist für alle die gleiche Lektion.« (Parwana Amiri)
Der Schutz ausnahmslos aller Menschen wird nicht vom Staat kommen. Wir werden ihn gemeinsam und von unten organisieren müssen. Es wird hierbei auch um ein Verständnis von Solidarität gehen, das neben der Unversehrtheit von Körpern auch soziale und politische Teilhabe sowie eine Transformation der Gesellschaft mitdenkt und erkämpft.
Katarzyna Winiecka ist Künstlerin und Aktivistin. Sie arbeitet vorwiegend zu Fragen der Kriminalisierung von Migration und Fluchthilfe sowie Sichtbarkeit der Kämpfe Geflüchteter.
Andreas Aipeldauer studierte Geschichte und beschäftigt sich mit Fragen zu Repression und praktischer Solidarität. Beide sind u. a. bei Cross Border Solidarity Wien organisiert.
Ich unterrichte neben meiner Arbeit als Künstlerin an einer AHS in Innsbruck Werk erziehung. Meine Schüler*innen fehlen mir.
VON JUDITH KLEMENC
Meine Schüler*innen arbeiten mit den Händen: Ich lehre sie, mit dem Ton zu tun, mit Holz, Metall, Papier, Stoff, Farbe, mit Resten des Alltags, mit all den Dingen, die das Leben begreifbar machen. Während des sinnlichen Tuns reden wir über alles Mögliche und auch Unmögliche, wir erzählen uns Geschichten, wir diskutieren über Gender, Rassismus, Sexismus und Diskriminierung, ausgehend von ihrer unterschiedlichen Betroffenheit. Ich bin gleichsam bemüht, ihre individuellen Betroffenheiten in einem gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren, so dass sie diskriminierende Themen nicht individualisieren, sondern auch von sich abstrahieren.
Kurz bevor die Schulen wegen Corona schlossen, erzählte ein elfjähriger Schüler mit asiatischem Aussehen, dass ihn auf der Straße ein Obdachloser um Geld bat, er hatte keines und wurde in Folge als »schirscher Chinese, der uns alle in die Hölle bringt« beschimpft. Eine Schülerin meinte, wie rassistisch das sei, eine andere, dass dies so gemein sei, weil er ja nichts dafürkönne, dass in China der Corona-Virus ausbrach … Eine andere, deren Mutter als Krankenpflegerin arbeitet, erörterte den Virus, ein anderer stellte fest, dass sie so viel wisse, obwohl sie mit ihrer Mutter, die nur als Krankenschwester arbeitet, allein sei …
Wir hatten also mehrere Themen zu besprechen: Rassismus, gering bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit, Lohnschere, Alleinerzieherin … Als promovierte Pädagogin im Feld Geschlechterverhältnis und kritische Migrationsforschung versuche ich, meine Schüler*innen für Differenzierungen und Diskriminierungsverhältnisse zu sensibilisieren, damit sie Welt- und Selbstverständnisse reflektieren, vielleicht auch neu und anders denken. Als Künstlerin weiß ich um das Er- und Begreifen in Zusammenhang mit sinnlichem Tun, um das Vertiefen eines werdenden Wissens in Zusammenhang mit sinnlicher Erfahrung.
Meine Schüler*innen sind mir ans Herz gewachsen und sie fehlen mir. Mir fehlt das Lesen von ihren Arbeiten, von ihren Händen, von ihren Gesichtern, von ihrem Erzählen, von ihrem Schweigen, mir fehlen die vielen unterschiedlichen Geschichten, mit denen wir inmitten von Unterricht ein Miteinander gestalten und uns auch neu- und anders er/finden, und ich hege den Verdacht, dass es ihnen nicht anders geht.
Ich erachte Schulbildung als eine Erziehung zur Mündigkeit, um für eine verantwortungsvolle Haltung sich und anderen gegenüber zu sensibilisieren. Bildung hat wenig mit dem Sammeln von abrufbarem und messbarem Wissen zu tun, noch dass ein sehr viel an Wissen zum Beispiel eher Bildung ist und ein weniger an Wissen weniger Bildung ist, es sich aber um spezifische Wissensarten handelt.
Aus der Fremdbeauftragung, die uns gesellschaftliche, politische Verhältnisse auferlegen, kann eine Selbstbeauftragung werden: Erfahrung, Reflexion, Erkenntnis, Selbstbefreiung. Emanzipation verbindet sich mit einem Prozess, der sich zugleich auch als Zweck weiß.
Aktuell werden wir alle zu unmündigen Bürger*innen erzogen. Wir sind alles brave Schüler*innen, die aufgrund der stündlichen tödlichen Bedrohung von Corona, das uns von morgens bis abends verfolgt, dem Staat gehorchen. Wir isolieren uns voneinander, wir ziehen uns auf die Kernfamilie (was ist das?) zurück, Vereinsamung, Vernachlässigung, Aggression, Sexismus, Gewalt, Depression, Apathie, Suizid im gleichen Bad mit dem glücklichen Miteinander gemischt, das Harmonieversprechen mit E-Learning, Home-Office, Ratgeber gegen die Langeweile (?!) und Kochrezepten. Das gemeinsame Abendmahl nicht das letzte.
Strikte Maßnahmen sind gesetzt, um die Verbreitung des Coronas-Virus’ einzudämmen, im Namen des Schutzes der österreichischen (?!) Bevölkerung, Solidarität das Zauberwort. Missachtung von Verboten, wie das alleinige Liegen auf einer Wiese im Wald, das alleinige Pausieren eines 79-jährigen Mannes in einem öffentlichen Park auf dem Nachhauseweg seines Einkaufes … werden mit einer Anzeige und zunehmend mit Verhaftungen sanktioniert. In beiden genannten Beispielen agierten die Personen mündig und verantwortungsvoll sich und anderen gegenüber: sie sorgten sich um das Wohl der anderen in dem Sinne, dass weit und breit kein Mensch war, den sie anstecken hätten können oder umgekehrt (außer die Polizei), und sie sorgten sich um ihr psychisches, gesundheitliches Wohl. In beiden genannten Fällen hielten sie nicht den Mund und wurden wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angezeigt.
Wir werden wieder von vorne anfangen können, um uns wieder einen Solidarisierungsbegriff anzueignen, der uns mündig (der Mund, der Parrhesia spricht) erklärt und sich nicht in etwas umwandelt, das Solidarität mit Isolation gleichsetzt. Die Frage stellt sich, wer dieses Wir nach dieser Corona-Krise sein wird, die braven Schüler*innen?
Liebe Schüler*innen, bewahrt euch die Gabe des »Nicht-den-Mund-Halten«, schützt sie, nach dieser Krise flüstern wir nicht, sondern sprechen wir darüber, auch wenn wir wieder von vorne anfangen, oder von hinten. Lasst uns erwachsen werden, um mittels Erfahrung, Reflexion, Erkenntnis, Selbstbefreiung und Emanzipation mündig zu werden, letztlich zu sein. Auch in Zeiten wie diesen, wo ihr mir fehlt.
Über Ansätze linker Gesundheitspolitik, die Maßnahmen der Bundesregierung und seinen Arbeitsalltag sprach Volksstimme-Redakteur KLEMENS HERZOG mit ROBERT KROTZER, dem kommunistischen Stadtrat für Gesundheit und Pflege in Graz.
Lieber Robert, es ist deine erste Amtszeit als Gesundheitsstadtrat in Graz und dann sind wir gleich mit einer globalen Pandemie konfrontiert. Wie geht es dir damit?
ROBERT KROTZER: Gerade die ersten Tage und Wochen waren sehr fordernd, weil unzählige Fragen von Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen und BürgerInnen an uns gerichtet worden sind. Die Unsicherheit war verständlicherweise groß. Die ganze Situation hat mitunter surreal gewirkt. Wenn ich zwischendurch etwas Zeit zum Verschnaufen hatte und gelesen oder einen Film geschaut hab, hab ich manchmal danach auf orf.at geschaut, um zu realisieren, dass die »neue Normalität« nicht nur ein böser Traum ist.
Wie sieht dein Arbeitsalltag aus? Was kannst du für die Bevölkerung und das Gesundheitspersonal in Graz bewirken?
ROBERT KROTZER: Soziale Notlagen kennen keinen Shutdown. Der Parteienverkehr und die persönlichen Beratungen im Rathaus können zwar bis auf weiteres nicht stattfinden, per E-Mail oder Telefon wir sind aber weiterhin für alle da, die Hilfe suchen.
Sehr schnell ist es gelungen, gemeinsam mit vielen Vereinen das Projekt Grazer Telefon-Kette gegen COVID-19 zu initiieren. Ziel war es, möglichst viele Menschen aus der Hochrisikogruppe mit deutscher und nicht-deutscher Muttersprache zu erreichen und fundiert über Gefahren und Verhaltensregeln in der Corona-Krise aufzuklären. Wir sind dabei, das Projekt in eine zweiten Phase zu führen, um die Menschen in der Hochrisikogruppe für einen »gelockerten« Alltag vorzubereiten und mit den Informationen zu versorgen.
Die Coronakrise hat den Pflegenotstand noch einmal verschärft. Darum war es uns ein Anliegen, eine einfach bedienbare Datenbank über die Verfügbarkeit von Pflegeplätzen zur Verfügung zu stellen. Auf dieser kann jetzt tagesaktuell abgefragt werden, ob und wo es freie Plätze in Heimen oder beim betreuten Wohnen gibt. Das kommt vor allem SozialarbeiterInnen und dem Entlassungsmanagement der Spitäler bei der Arbeit zugute. Selbst die Information, dass im gewünschten Heim kein Platz frei ist, ist wichtig, weil sie den Betroffenen viele Telefonate erspart.
Oft scheint es so als würde das Virus den Weg alternativlos vorgeben: Will man einen Kollaps des Gesundheitssystems und tausende Tote verhindern, heißt es Kontakte reduzieren, Kontakte reduzieren und nochmals Kontakte reduzieren: In der Arbeit, in den Schulen, in der Freizeit. Gibt es in dieser Krisensituation überhaupt so etwas wie eine linke beziehungsweise kommunistische Gesundheitspolitik?
ROBERT KROTZER: All unsere Warnungen was etwa die Bettenreduktionen, die Schließungen von Abteilungen oder ganzen Spitälern oder die Privatisierungen im Gesundheitssystem betreffen, haben sich bewahrheitet. 63 Mal hat die EU ihre Mitgliedsstaaten zwischen 2011 und 2018 zu Kürzungen oder Privatisierungen im Gesundheitsbereich aufgefordert, wie der Wirtschaftsprofessor Walter Ötsch recherchiert hat. Mit dieser Logik muss jetzt gebrochen werden. Schon bisher waren die Wartezeiten für nötige Operationen sehr lang. Das hat sich jetzt noch einmal verschärft. Ein Ausbau der Kapazitäten wird zum Gebot der Stunde.
Vielen Menschen wird jetzt klar, dass der Kapitalismus im Gesundheitswesen nicht funktioniert. Die herrschenden Parteien haben in unterschiedlicher Ausprägung Gesundheitspolitik nur anhand von Budgetzahlen diskutiert. Bei allen gesundheitspolitischen Maßnahmen müssen aber das Wohl der Patienten und Patientinnen auf der einen Seite und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auf der anderen Seite im Mittelpunkt stehen. Das sind nämlich zwei Seiten einer Medaille.
Dein Amtskollege Peter Hacker (Anm. SPÖ-Gesundheitsstadtrat in Wien) hat sich ja ziemlich öffentlichkeitswirksam mit der türkis-grünen Regierung angelegt. Was hältst du vom Krisenmanagement der Regierung – was passt, was passt nicht?
ROBERT KROTZER: Der Shutdown trifft wirtschaftlich schwache Menschen viel härter. Die Aussage von ÖVP-Nationalratspräsident Sobotka, dass die Leute doch in den Garten gehen sollten, wurde zurecht mit Marie Antoinette und »Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen« verglichen. Was tun, wenn man nur eine kleine Wohnung hat, ohne Garten oder Balkon? Die räumliche Enge befeuert psychische Probleme, Alkoholismus und häusliche Gewalt nehmen zu. Darum ist es jetzt wichtig, dass die Menschen sich wieder freier bewegen können – ohne dass sie für andere zum Risiko werden. Das rigide und bisweilen willkürliche Vorgehen gegenüber Menschen, die sich im Freien aufhalten, muss beendet werden.
Die Regierung pumpt viel Geld in »die Wirtschaft«, bei Unterstützungen für Menschen in Notlagen agiert sie knausrig. Ein umfassendes Paket mit sozialen Sofortmaßnahmen wäre dringend nötig. Dann »braucht« auch niemand einen Pfandleiher. Die 30 Millionen Euro Unterstützung für armutsgefährdete Familien bei über einer Millionen Menschen an und unter der Armutsgrenze kann schon in »normalen Zeiten« nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein.
Als nach Ostern die Maßnahmen gelockert wurden und viele Geschäfte wieder öffneten, hast du rigorose Sicherheitsvorkehrungen für alle Arbeitenden gefordert. Wie können wir gemeinsam sicherstellen, dass die auch eingehalten werden? Und was kann jeder einzelne von uns tun, um untereinander solidarisch zu sein und uns gegenseitig zu schützen?
ROBERT KROTZER: Masken und Desinfektionsmittel sollen von den Betrieben für ihre Beschäftigten in ausreichender Menge zur Verfügung gestellt werden. Auch für den Sicherheitsabstand am Arbeitsplatz muss Sorge getragen werden. Es ist wichtig, dass so das Ansteckungsrisiko minimiert wird. Wenn man den Eindruck hat, dass das nur unzureichend getan wird, sollte man sich umgehend an die Betriebsräte oder die Arbeiterkammer wenden.
Noch steht viel in den Sternen. Kannst du unseren LeserInnen eine persönliche Einschätzung geben, worauf man sich im kommenden Jahr einstellen kann und muss? Gibt es eine Rückkehr zur Normalität?
ROBERT KROTZER: Das wäre Kaffeesudleserei. Es wird viel davon abhängen, ob und wann ein Impfstoff entwickelt wird, inwieweit der schnell und kostenlos allen Menschen zugutekommt oder ob Pharmakonzerne sich eine goldene Nase verdienen wollen.
Man darf auch nicht vergessen, dass in der sogenannten »Normalität« hunderttausende Menschen in Österreich oft nicht gewusst haben, wie sie ihren Alltag bestreiten sollen. Für viele ist ein Zurück zu wenig. Wir brauchen dringendst soziale Fortschritte – und letztlich ja auch eine Überwindung des Kapitalismus, dessen Versagen jetzt so offen zutage tritt.
Manche haben ja jetzt mehr Zeit, um zu Lesen oder Filme und Serien zu schauen. Was empfiehlst du unseren Lesern und Leserinnen?
ROBERT KROTZER: »Peaky Blinders« über Gangster, Politik und soziale Verhältnisse in Birmingham in der Zwischenkriegszeit, oder »Babylon Berlin«, eine Serien-Adaption der großartigen Krimis von Volker Kutscher, die man auch lesen sollte, wären meine Tipps. Lesenswert finde ich jedenfalls die Webseiten der Zeitungen Junge Welt, Der Freitag oder des Hintergrund- Magazins.
Eine erste Annäherung von GERLINDE GRÜNN.
1348 wütet die Pest in Florenz. Sieben junge Damen der Oberschicht fliehen mit drei männlichen Zufallsbekanntschaften aus der Stadt des Todes auf ein Landgut. Um die Angst zu vertreiben erzählen sie sich an zehn aufeinander folgenden Abenden unter anderem Geschichten über Glück und Unglück in der Liebe. Diese oft erotischen Geschichten zur Überwindung der Angst haben bis heute im Decamerone von Giovanni Boccaccio die Zeit überdauert. Der katholischen Kirche war das Decamerone ein Dorn im Auge. Denn die lustvolle Darstellung der fleischlichen Freuden und der Doppelmoral der lüsternen Gottesmänner demaskierte die christliche Sexualmoral. Lange Zeit stand das Decamerone in der Schmuddelecke auf dem Index der verbotenen Bücher. Die Novellensammlung im Zeichen der Pest steht aber auch für den Beginn einer neuen Zeit – dem Aufbruch in den Humanismus.
Anfang 1983 erreichten die ersten Meldungen über das Auftauchen einer neuen, durch sexuelle Kontakte übertragbaren, tödlichen Krankheit die Öffentlichkeit. Zunächst als »Schwulenpest« diffamiert und als Problem von Randgruppen abgekanzelt, erwies sich der Diskurs rund um AIDS durch seine »Safer Sex« Kampagnen als wahrer Aufklärungsturbo. Die Vielfalt von sexuellen Lebensweisen und Praktiken jenseits der heterosexuellen Norm wurde erstmals sichtbar und damit auch enttabuisiert. Klar ist aber auch, dass die unbekümmerte Libertinage der 1970er Jahre mit AIDS ein jähes Ende fand. Das Kondom zuvor in der Beliebtheit als Verhütungsmittel hinter die Pille zurückgefallen, feierte als Bollwerk gegen HIV ein fulminantes Comeback. Interessant in diesem Zusammenhang, dass in Frankreich angesichts von Corona nicht Klopapier gehamstert wird, sondern die Sorge dem ausreichenden Vorrat an Kondomen gilt. Eine im Übrigen nicht unbegründete Sorge. Der malaysische Kondomproduzent Karex, der jedes fünfte Kondom weltweit produziert, musste wegen der Coronakrise die Produktion bereits drosseln. Die Globalisierung erweist sich also auch hier als Bumerang.
»Safer Sex« in Zeiten von verordneten Mindestabständen zwischen nicht im selben Haushalt Wohnenden erscheint allerdings aus heutiger Sicht als unüberwindbare Hürde. Das ist eine Frage, die wohl derzeit besonders Singles plagt. Das flotte Tinderleben ist wohl für Gesundheitsbewusste derzeit keine Alternative bei der PartnerInnensuche. Videocalls und Handbetrieb scheinen das Gebot der Stunde. Angeblich erfreuen sich Sextoys-ProduzentInnen über erhöhte Nachfrage. Vielleicht trägt man zukünftig einen positiven Antikörpertest mit sich, um eine körperliche Annäherung anzubahnen. Ob allerdings die kasernierten fix liierten Paare derzeit besser dran sind, ist offen. Quarantäne in trauter Zweisamkeit gilt manchen als Hölle auf Erden, nicht zu Unrecht rüsten sich Gewaltschutzeinrichtungen für den erhöhten Andrang gewaltbetroffener Frauen.
Der Lockdown bringt auch zusätzliche Hürden für ungewollt Schwangere mit sich. Das ohnehin magere Angebot für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verschärft sich durch eingeschränkte Reisefreiheit, geschlossene Ordinationen und nur auf Notversorgung eingerichtete Krankenhäuser zusätzlich. Pro Choice AktivistInnen fordern daher die Abgabe der Abtreibungspille in niedergelassenen Praxen um dem Engpass entgegen zu wirken und die Basisversorgung aufrecht zu erhalten. Die kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln gehört als Forderung auch dazu.
Aber es gibt auch Erfreuliches – etwa aus der Zoologie – zu berichten. Nach jahrelanger Sexpause haben die Pandas Ying-Ying und Li-Li im Hongkonger Zoo in der neu gewonnenen Privatsphäre des Lockdowns die Freuden des Liebeslebens wieder entdeckt. Einem Babyboom zumindest bei Pandas steht also nichts im Wege.
Der sozialphilosophische Essay von LINDA LILITH OBERMAYR zeigt, dass der Ruf nach Solidarität Isolation und Abgrenzung meint und weshalb die gegenwärtige Situation keinen Ausnahmecharakter hat.
Zeitgleich mit dem Auftauchen von Covid-19 entdeckt der Staat eine Tugend, die er immerzu dann von seinen BürgerInnen einfordert, wenn er um das Volk als seine materielle Basis fürchtet: die Solidarität. Wir alle sollen zusammenhalten, sollen uns umeinander sorgen, sollen aufeinander Rücksicht nehmen. In der Form des Imperativs liegt der Hinweis auf eine Realität, die offensichtlich nicht durch Solidarität gekennzeichnet ist. Nur einer Gesellschaft, die von radikalen Interessengegensätzen bestimmt ist, lässt sich das perennierende Sollen äußerlich aufoktroyieren.
Als solche Äußerlichkeit gewinnt die Solidarität den Charakter der Toleranz in der ursprünglichen Wortbedeutung des »tolerare«, lateinisch für »ertragen«. Diese solidarische Toleranz hat den negativen Beigeschmack, dass die Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen uns regelmäßig zuwiderläuft, sich die Begeisterung für umfassende Gemeinschaftlichkeit also in Grenzen hält. Woran liegt das?
Solidarität und Interessengegensatz
Das liegt daran, dass unsere Gesellschaft auf eine Weise strukturiert ist, in der sich die Interessen wechselseitig beschränken, in der also die liberale Vorstellung einer negativen Freiheit herrscht: 1 Wir können tun, was wir wollen, solange wir dadurch nicht die Freiheit anderer eingreifen, der Andere begegnet stets als antagonistischer Gegenpart. Diese Interessengegensätzlichkeit entspringt natürlich unmittelbar dem Klassengegensatz innerhalb der warenproduzierenden Gesellschaft. Die Forderung einer solidarischen Toleranz widerspricht also zunächst der Negativität der faktischen Realität.2 Sie widerspricht aber auch der mit der bürgerlichen Gesellschaft gesetzten Subjektform des »Menschen als isolierter und zurückgezogener Monade« (MEW 1, 364). Dieser Individualismus, der nicht nur die Wirtschaftsweise, sondern auch den gegenwärtigen Zeitgeist auf den Punkt bringt, scheint nun durch die pandemisch verordnete Solidarität zu bröckeln – ein Schritt in die richtige Richtung, oder?
Slavoj Žižek sieht das offenbar so, hat er doch in mehreren Interviews die Corona-Krise für fruchtbaren Boden kommunistischer Ideen und internationaler kollektiver Solidarität erklärt. Er diagnostiziert jedoch im gleichen Schritt die paradoxe Ausprägung dieser Solidarität im Modus der Vereinzelung und Isolation, der Abschottung und des Rückzugs. Eine Solidarität also, die fundamental antisolidarisch operiert. Unabhängig davon, dass eine äußerlich verordnete Solidarität, die fern jeglicher Ökonomiekritik ist und sich wesentlich aus der Furcht ums blanke Überleben nährt, auch nicht im Sinne einer Verelendungstheorie revolutionstheoretisch mobilisierbar ist, stellt sich die Frage, ob diese überhaupt den Charakter eines neuen »Moments« im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang für sich beanspruchen kann.
Die Normalität im Ausnahmezustand
Wenn die Forderung nach internationaler Solidarität den Modus der Abkapselung und Separation propagiert, dann reklamiert sie nichts, was nicht schon wäre, oder Hegelianisch gesprochen, sie setzt das, was schon ist. Denn wir alle sind als gleiche und freie Warenbesitzer die isolierten Subjekte, die jetzt obrigkeitlich als Ideal kollektiver Solidarität inszeniert werden und trotz dieser unserer Isolation sind wir voneinander in dem umfänglichen Sinne abhängig, dass alle zur Verhinderung einer fortschreitenden Infektion angerufen sind. Gleichzeitig bestätigt sich der im amerikanischen Traum kulminierende bürgerliche Individualismus, wenn die Staatsmacht an die Verantwortung jedes Einzelnen appelliert, daran, dass jeder nicht nur seines Glückes, sondern auch des Glückes aller Schmied ist.
In gewisser Weise sind wir also jetzt da, wo wir vor Covid-19 auch schon waren. Die verordnete Solidarität bringt ein Bündel an ideologischen Vorstellungen mit sich, die keine bloßen Trugbilder, sondern adäquate Widerspiegelung der gesellschaftlichen Realität sind. Die Analogie zu Hegel bricht allerdings an diesem Punkt ab. Denn die Hegelsche Figur der Rückkehr als der Rückkehr zu dem, was bereits ist, benennt einen Bewusstwerdungsprozess darüber, dass das Gesetztsein – die Forderung nach Selbstisolation – nur die Unmittelbarkeit des Bestehenden – die monadischen Warenbesitzer Innen – wiederholt. An solcher Reflexion mangelt es der staatlichen Solidaritätsbekundung, welche sich jungfräulich an die Wirklichkeit anzuschmiegen sucht. Immerhin ließe sich eine solche Reflexion aber als Ausgangspunkt einer fundamentalen Gesellschaftskritik und also einer echten Solidarität aus Einsicht in die Produktionsweise heranziehen.
1 Freilich ist auch auf die »positive« Freiheit des doppelt freien Lohnarbeiters hinzuweisen.
2 Es geht mir hier lediglich um den formalen Widerspruch zwischen der äußerlich verordneten Solidarität und dem kraft Eigentumsfreiheit äußerlich verordneten Egoismus.
Linda Lilith Obermayr ist Philosophin und Juristin und beschäftigt sich vorwiegend mit Sozialphilosophie und Ideologiekritik.
»Wir sitzen alle im selben Boot«, verkünden die Regierenden vieler Länder. Doch dass vor dem Virus alle gleich wären, egal ob arm oder reich, hält einer näheren Betrachtung nicht stand.
VON DANIELA BRODESSER
Corona bringt aktuell massive Veränderungen und Einschnitte für den Alltag von uns allen. Viele haben ihre Jobs verloren oder sind in Kurzarbeit. Die Umstellung von Schulalltag auf Homeschooling musste innerhalb weniger Tage erfolgen. Mindestlohn-Jobs im Handel und in der Pflege sind plötzlich jene, die mit am wichtigsten sind. Ausgangsbeschränkungen und Unsicherheiten führen zu einem Leben von einem Tag zum anderen – plötzlich ist fast nichts mehr planbar. Entweder ist es nicht erlaubt, oder man hat schlicht kein Geld mehr dafür.
Für ungefähr eineinhalb Millionen Menschen sind die Auswirkungen anders. Denn ein Großteil der Maßnahmen haben bereits vorher zu ihrem Alltag gezählt: Isolation, fehlende soziale Teilhabe und ein Alltag, der sich nur von einem Tag zum anderen planen lässt, ist für armutsgefährdete Menschen auch bisher bittere Lebensrealität.
Armutsbetroffene trifft es härter
Natürlich gibt es auch für Betroffene Änderungen, und die sind gravierend. Wer vorher schon mit Armut zu kämpfen hatte, spürt die Krise noch stärker. Sei es beim Einkauf, wo viele der günstigsten Produkte nicht erhältlich sind oder geringfügige Jobs, die nun weggefallen. Viele Armutsbetroffene waren vorher prekär beschäftigt, zum Beispiel mehrfach geringfügig oder als freie DienstnehmerInnen. Mit viel Glück bekommt man eine Entschädigung, der Großteil wird aber im Regen stehen gelassen. Zu bedenken sind auch die Mehrkosten, die durch das Homeschooling entstehen: Das Ausdrucken der Unterlagen und Übungsblätter für die Kinder, die sündteuren Druckerpatronen, das Schulessen, das jetzt wegfällt – all das klingt nach nicht viel, ist für Armutsbetroffene aber meist nicht stemmbar. Andere Rechnungen müssen dann liegen bleiben. Die Spirale dreht sich weiter und weiter.
Gut gemeint von der Regierung ist die Stundung der Miete. Ich frage mich aber, wie es dann am Jahresende für viele Menschen aussieht. Es sind ja dann die normal laufende Miete und die Rückzahlungen fällig. Die meisten kämpfen jetzt bereits damit, die Miete zahlen zu können, und viele werden nicht sofort wieder eine Arbeit finden.
Zugespitzter Status quo
In einem Punkt – und das ist für mich persönlich eine der prägendsten und traurigsten Erkenntnisse dieser Krise – hat sich wenig bis nichts für Betroffene geändert: bei der sozialen Teilhabe. Für den Großteil der Menschen in diesem Land bedeuten die Ausgangsbeschränkungen eine extreme Umstellung ihres Alltags: Der Kaffee mit FreundInnen, das Mittagessen mit KollegInnen, trainieren im Fitnessstudio, samstags ins Kino oder Theater, der Ausflug am Wochenende – all das vermissen die meisten unglaublich und es fällt schwer. Für Armutsbetroffene Menschen ist das die tägliche Realität. Das war sie auch schon vor Corona. Dinge zu planen, die nächsten Wochen strukturieren zu können – all das ist trauriger Alltag, wenn man in Armut lebt. Man ist froh, wenn die nächste Woche planbar ist, doch meistens kommt eine unvorhergesehene Ausgabe für eine Rechnung oder für die Schule und wirft wieder alles über den Haufen. Für mich selbst bemerke ich diese Krise nur in einem: dem Homeschooling der Kinder. Denn auch vorher konnten wir uns weder Ausflüge noch Kino, essen gehen oder einen regelmäßigen Besuch des Hallenbades leisten. Armutsbetroffene verbringen ihren Alltag vor allem zuhause.
Physisch isolieren, nicht sozial
Aus eigener Erfahrung: Was sollten jene unbedingt vermeiden, die jetzt die finanziellen Auswirkungen von Corona zu spüren bekommen und vorher nie mit Armut zu tun hatten? Isolation vermeiden! Und damit meine ich nicht das Abstand halten. Auch wenn der Druck noch so groß ist, die Existenzängste noch so schlimm, die schlaflosen Nächte noch so lang, wichtig ist jetzt, sich nicht zurückzuziehen, sondern die sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten. Denn Armut treibt viel zu oft in die Isolation. Schleichend. Meist bemerkt man es erst, wenn es zu spät ist. Es ist eine Spirale, aus der nur die wenigsten wieder rausfinden. Leider. Rückzug, Isolation, Existenzängste, Schlaflosigkeit – damit kämpfen fast alle Betroffenen und es macht krank. Die Ängste kann einem niemand nehmen, doch helfen gute Kontakte, diese Zeit ein wenig besser zu überstehen. Und vor allem eines: sucht die Schuld nicht bei euch selbst. Betroffenen wurde das schon viel zu lange eingeredet.
Armut ist kein Naturgesetz
Armut war und ist kein individuelles Problem. Armut ist strukturell bedingt. Es gab schon vor der Krise zu viele Arbeitssuchende auf zu wenige freie Stellen, es gab massive Probleme mit der Vereinbarkeit von Job und Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen. Aktuell steigen die Arbeitslosenzahlen in noch nie dagewesenem Ausmaß an und niemand kann garantieren, wie es nach dem Überwinden von Corona auf dem Arbeitsmarkt weitergeht. Natürlich ist es wichtig, dass die Wirtschaft unterstützt wird. Doch auf uns hier unten zu vergessen, weder das Arbeitslosengeld noch die Ausgleichszulage zu erhöhen, spricht nicht für diese Regierung. Wobei ich persönlich es traurig finde, dass es eine Krise wie diese braucht, damit die Mehrheit entdeckt, dass das Arbeitslosengeld viel zu niedrig ist.
Menschen an und unter der Armutsgrenze bleiben weiterhin ungesehen, sie kommen schon irgendwie über die Runden. Wie sie das schaffen, wie viel Kraft dahintersteckt, wie zermürbend der Kampf gegen Armut ist und wie krankmachend Armut sein kann und infolge Auswirkungen auf die Teilhabe am Erwerbsleben hat – all diese Faktoren werden unter den Teppich gekehrt. Anstatt Armutsbetroffene zu beschämen, sie als Faule und Sozialschmarotzer zu präsentieren, wünsche ich mir, dass nach Corona ein Umdenken kommt. Armut ist so viel mehr als »nur« finanzielle Not. Sie isoliert, sie macht krank und sie zermürbt. Sie wäre für einen Staat wie Österreich leicht zu bekämpfen. Armut darf nicht mehr übersehen und übergangen werden. Denn durch Corona betrifft sie inzwischen noch mehr als die 1,5 Millionen der bereits bisher Gefährdeten.
Daniela Brodesser redet aus Erfahrung über Armut, Beschämung und prekäre Beschäftigung. Zusammen mit Kathrin Quatember betreibt sie den Podcast »Bitte stören« – Wir reden über Armut und Ungleichheit.