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Staatskritik und marxistisches Denken Mandelbaum Verlag

Staatskritik und marxistisches Denken

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Das erste Jahrbuch für marxistische Gesellschaftstheorie ist erschienen. Peter Fleissner rezensiert den lesenswerten Sammelband.

»Es gibt keine systematische Gesamt­darstellung der Marxschen Staats­kritik und Staatsanalyse.« Mit diesem Statement beginnt Karl Reitter seinen ein­führenden Beitrag im neulich veröffent­lichten Jahrbuch für marxistische Gesell­schaftstheorie, das 21 Autor*innen aus dem deutschen Sprachraum versammelt. Der Band wurde in der Hoffnung zusammenge­stellt, »nicht in der theoretischen Reflexion zu verweilen, sondern Theorie in soziale Praxis umschlagen zu lassen«.

In der ihm eigenen Klarheit und Schärfe zeichnet Reitter die Wesenszüge der linken Auffassungen vom Staat nach und konfron­tiert sie mit seinen eigenen Einsichten. Weithin bekannt sei die Charakterisierung des Staates als »ideeller Gesamtkapitalist«. Sie stammt allerdings nicht von Marx, son­dern von Engels. Und damit deutet sich schon an, was auch bei anderen bekannten Theoretikern ein Mangel ist. Weder Gramsci, Althusser oder Poulantzas wähl­ten die Marx’schen Aussagen zum Staat systematisch als Grundlage für die eigenen Untersuchungen. Marx und vor allem Engels haben unter dem Eindruck der geschichtlichen Erfahrungen ihr politisches Konzept des Staates verändert. War im Kommunistischen Manifest (1848) noch davon die Rede, »dass das Proletariat seine politische Herrschaft dazu benutzen (wird), der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates […] zu zentrali­sieren«, nahm Engels 1888 unter Berück­sichtigung der Ereignisse um die Pariser Kommune eine Korrektur vor. Die Staats­maschinerie könne nicht einfach von der Arbeiter*innenklasse in Besitz genommen und für ihre Zwecke umfunktioniert wer­den, der Staat würde nach der Inbesitz­nahme durch das Proletariat nicht abge­schafft, sondern von selbst absterben. Lenin präzisierte 1917: »In Wirklichkeit spricht Engels hier von der ›Aufhebung‹ des Staates der Bourgeoisie durch die proletari­sche Revolution, während sich die Worte vom Absterben auf die Überreste des prole­tarischen Staatswesens nach der sozialisti­schen Revolution beziehen.« (Lenin: Staat und Revolution, Kapitel I, Abschnitt 4) Wie wir wissen, erfüllte sich diese Erwartung in der Sowjetunion nicht.

Reitter weist auf die beiden zentralen Dimensionen Politik und Ökonomie hin, die zwar in einem Wechselverhältnis stehen, aber doch unterschiedlich analysiert wer­den müssten: Eine ausschließlich politische Revolution verbunden mit der Ergreifung der Macht sei für die Etablierung einer kommunistischen Gesellschaft nicht hinrei­chend. Erst die Auflösung der kapitalisti­schen Verfasstheit mit ihren spezifischen Formen der Ware, der Lohnarbeit, des Pro­fits und des Privateigentums an Produkti­onsmitteln kann eine soziale Revolution bewirken. Bis dahin führen die Menschen ein Doppelleben, ein himmlisches Leben als citoyen im politischen Gemeinwesen, ein irdisches Leben als bourgeois in der bürger­lichen Gesellschaft. Marx hat aufgezeigt, dass sich politische Herrschaft und ökono­misches Interesse in den fortgeschrittenen bürgerlichen Staaten nicht verbinden, son­dern trennen. Der Staat selbst ist nicht all­mächtig, sondern hat gerade an den ökono­mischen Verhältnissen seine Grenze: »Wollte der moderne Staat die Ohnmacht seiner Administration aufheben, müsste er das jetzige Privatleben aufheben, […] denn er existiert nur im Gegensatz zu demsel­ben«, so Marx. Wir können diese Begren­zungen täglich sehen. Öffentliche Armut steht in schreiendem Gegensatz zum priva­ten Reichtum weniger. In der Pariser Kom­mune sah Marx ein Beispiel für die »Rück­nahme der Staatsgewalt durch die Volks­massen selbst, die an Stelle der organisier­ten Gewalt der Unterdrückung ihre eigene Gewalt schafft.«

Für die Überwindung des modernen Staa­tes zeichnet Reitter kein rosiges Bild. O-Ton Reitter: »So viel Staat wie gegenwärtig war schon lange nicht, und so wenig praktische marxistische Staatskritik ebenso.«

Große Bandbreite an Themen

Es ist mir unmöglich, die große Bandbreite der Beiträge des Jahrbuchs auch nur annä­hernd zu würdigen. Ich greife nur einige Themen heraus. Rassismus: Entstanden als Gegenstrategie der vorkapitalistischen Eli­ten zur Erhaltung ihrer Privilegien wurde der Rassismus wegen der in England auf­kommenden Ideen naturrechtlicher Gleich­heit mit der Begründung, dass es unter­schiedliche Menschennaturen gäbe, umge­formt, bis er schließlich zur Legitimation und Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse diente. Kapitalis­mus und Rassismus wären aber nicht mit eherner Notwendigkeit miteinander ver­bunden, sondern stünden in einem Ver­hältnis struktureller Affinität.

Arbeitswelt: Warum arbeiten wir so lange und so hart? Warum gibt es nicht mehr aktiven Widerstand gegen diesen Zustand? Philosophie: Hegels Kunst der Polemik bestand darin, durch Zuspitzung der gegne­rischen Position dieselbe zum Kippen zu bringen und in ihr Gegenteil zu verkehren. Letztlich ist diese Widersprüchlichkeit auch gleichzeitig die Wahrheit jeder der beiden Seiten.

Medien: Die Verkaufsförderung, die heute zu einem wichtigen Zweig für die Realisierung von Wert geworden ist, fügt dem Gebrauchswert nichts hinzu, gehört also zu den Nebenkosten, die es ermögli­chen, die Ware aufzuspalten in ihren unmittelbar nützlichen Charakter und ein durch die Werbung erzeugtes Bild. Diese Verdopplung bedient die Auseinanderset­zung der Oligopole auf den diversen Märk­ten. »Das gefärbte Zuckerwasser wird zum Lebenselixier, der protzige SUV steht am Anfang jeden Aufbruchs in die Freiheit.«

Revolution: Heute müsste eine Revoluti­onstheorie kritische Ökologie, psychoanaly­tische Theorie, kulturtheoretische Erkennt­nisse, die Effekte des Finanzkapitals und der Schuldenökonomie, die Existenz von Klassen, die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die Dialektik als Methode zu einer »Kritik der Gegenwart aus der Per­spektive einer wirklich möglichen Revolu­tion« zusammenführen. Feministische Aspekte und Friedenserhaltung bleiben dabei eher unterbelichtet.

Auch zwei Nachdrucke von Texten wur­den in das Buch aufgenommen: Eine inte­ressante, aber nicht leicht erhältliche Arbeit des Rechts- und Kriminalsoziologen Heinz Steinert (1942–2010) zu Michel Fou­caults Buch Überwachen und Strafen zum Bentham’schen Panopticon erlaubt es nun, sie mit Interpretationen von Jan Rehmann und Andreas Kranebitter zu vergleichen. Ein Beitrag von Albert Schlögl (1952–2020) über »Friedrich Nietzsches Theorie zur Ent­stehung der griechischen Tragödie« veror­tet das Dionysische und Apollinische neu und bietet Anknüpfungspunkte an eine moderne Gesellschaftstheorie.

Der lesenswerte, aber nicht immer leicht verständliche Sammelband schließt mit einer Serie von Buchbesprechungen. Als Herausgeber*in fungiert ein Kollektiv von vier linken Autor*innen. Um die möglichst weitreichende Unabhängigkeit des Jahr­buchs zu sichern, wurde es durch Crowd-Funding finanziert.

René Bohnstingl, Andreas Kranebitter, Linda Lilith Obermayr, Karl Reitter (Hg.): Jahrbuch für marxisti­sche Gesellschaftstheorie. #1: Staatskritik. Marxisti­sches Denken. Wien, Berlin: mandelbaum kritik & utopie 2022, 324 Seiten, 20 Euro

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Gelesen 2455 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 12 Mai 2022 08:35

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