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Isabel Frey Isabel Frey

Feminismus auf Jiddisch

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Was macht ein Lied revolutionär? Ist es der Inhalt, der vielleicht klassenkämpferisch den Kapitalismus anprangert und für eine bessere Welt kämpft? Ist es die Verwendung, wenn ein Lied zum Beispiel oft von sozialen Bewegungen gesungen wurde? Oder ist es vielleicht einfach eine Frage der Interpretation und der Kontextualisierung? Diese Fragen stelle ich mir seit einigen Jahren, seitdem ich regelmäßig als jiddische Revolutionssängerin auf Konzertbühnen und Demopritschen stehe. Tatsächlich gibt es auf diese Frage keine einfache Antwort: Revolutionär ist nicht unbedingt ein fixes Attribut eines Liedes. Was revolutionär ist für wen, wo und wann ist nun Mal Ansichtssache. Und was den einen als revolutionär gilt, ist für Frauen*, Lesben, Inter-, nicht binäre und Transmenschen (FLINT) eventuell etwas anderes. Von Isabel Frey

Überrepräsentation der Männer

Als ich begann, jiddische Revolutionslieder einzustudieren und zu singen, waren das erstmal Arbeiter*innen- und Widerstandslieder. Angefangen von Mordechai Gebirtigs »Arbetlose Marsch«, über die sozialistischen Kampflieder von David Edelshtat, bis hin zu den Partisanenliedern von Hirsh Glik – alles was kämpferisch, widerständig und jiddisch war, gefiel mir und kam in mein Repertoire. Für mich als säkulare Jüdin, die aber gleichzeitig stark in der aktivistischen Linken politisiert worden ist und dadurch auch eine kleine Iden-titätskrise erlebte, waren diese Lieder ein Anker für ein neues politisch-kulturelles Selbstverständnis: Dass es möglich ist, mich in die lange Tradition der jüdischen Linken einzufügen und sie auch in der heutigen Zeit weiterzutragen.

Doch als überzeugte Feministin stieß ich relativ schnell auf Probleme in meiner Repertoireauswahl: Ich hatte kaum Lieder, die von Frauen* und aus der Perspektive von Frauen* geschrieben worden waren. Die Liste der Komponisten der Arbeiter* innen- und Protestlieder aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war ausschließlich männlich – was natürlich die Überrepräsentation von Männern in der Arbeiter*innenbewegung dieser Zeit widerspiegelt. Wenn dann doch ein Lied dabei war, dass die Beteiligung von Frauen* in der sozialistischen Bewegung thematisierte, war das oft eindeutig aus einer männlichen Perspektive mit etwas bevormundenden Untertönen geschrieben.

Ein Beispiel dafür ist das Lied »Arbeter Froyen«, (Jiddisch für »Arbeiter Frauen«, geschrieben vom ausgewanderten russischstämmigen Anarchisten und Publizisten David Edelshtat, der eine Art Volksdichter für die jiddische Arbeiter*innenbewegung in den USA war. »Arbeiter Frauen, leidende Frauen, Frauen, die in Haus und Fabrik schmachten // Was steht ihr herum, warum helft ihr nicht mit den Tempel von Freiheit und menschlichen Glück aufzu-bauen?«, lauten die ersten Verse des 1891 verfassten Liedes. Was für manche wie eine feministische Hymne der Arbeiter*innen bewegung klingt, klingt für andere eher wie patriarchale Bevormundung und eine Verhöhnung des tatsächlichen Mitwirkens von Frauen* in sozialistischen Kämpfen. Warum sollten Frauen* eine Einladung von Männern brauchen, um sich der Bewegung zu ihrer eigenen Befreiung anzuschließen? Nach heutigen feministischen Standards, wäre Edelsthats Lied wohl des »Man splainings« beschuldigt worden. Trotzdem muss man ihm zugestehen, dass es eines der wenigen Arbeiter*innenlieder aus dieser Zeit ist, die überhaupt die Beteiligung von Frauen* thematisieren.

Zwischen den Zeilen lesen

Zufriedengeben konnte ich mich als Musikerin mit diesen feministischen Bröserln allerdings nicht. Ich musste einen anderen Weg finden, um meinem Repertoire an jiddischen Revolutionsliedern einen feministischen Einschlag zu geben. Zuallererst kam ich drauf, dass doch viel mehr jiddische Lieder von Frauen* geschrieben worden waren, nur die Namen dieser Komponistinnen sind oft nicht bekannt und werden daher als anonym verfasste »Volkslieder« klassifiziert. Doch der Großteil der jiddischen Volkslieder sind Lieder, die in traditionellen Gemeinschaften (wie es kleine jüdische Ortschaften in Osteuropa eher waren) eindeutig der sozialen Sphäre der Frauen* zugeteilt waren: Liebeslieder, Wiegenlieder, Kinderlieder, etc. Auch viele Arbeiter* innenlieder berichten von Missständen in Berufen, die oft von Frauen gemacht wurden, wie zum Beispiel das Lied »Eyder ikh leyg mikh shlofn« (Bevor ich mich schlafen lege), das in erster Person aus der Sicht einer Näherin erzählt. »Zu Gott werde ich weinen, [...] wozu ich als Näherin geboren wurde.« Da es gang und gäbe für viele Arbeiterinnen* war, Lieder während der Arbeit zu singen, ist es auch naheliegend, dass solche Lieder tatsächlich von Frauen* verfasst wurden.

Bei anderen Gattungen von Liedern, die nicht unmittelbar aus sozialen Missständen entspringen, fiel es mir anfangs eher schwer, sie in mein Repertoire aus Revolutionsliedern aufzunehmen. Allerdings merkte ich bald, dass es oft nur eine Frage der Interpretation ist, ob ein Lied sozialkritisch ist oder nicht. Manchmal verlangt es auch ein Lesen zwischen den Zeilen, wie zum Beispiel beim Liebeslied »Di Sapozhkelekh« (Die Stiefel) aus dem Repertoire der ukrainisch-jiddischen Volkssängerin Bronya Sakina stammend und im Klezmer Revival der 1970er Jahre popularisiert. »(Ich würde) die Stiefel verkaufen und auf den Droschken fahren, nur um mit dir zu sein // Ich ohne dich und du ohne mich ist wie eine Klinke ohne eine Tür, mein Kätzchen, mein Vögelchen.« Auf den ersten Blick ist das kein besonders politischer Text. Doch es gehört einem Genre an, dass ich als »sozialkritische Liebeslieder« bezeichne: Liebeslieder, die zwischen den Zeilen auch soziale Missstände beklagen. In diesem Lied geht es um die ganzen prekären kleinen Jobs, die Arbeiter* innen oft machen mussten, um extra Groschen dazuzuverdienen: Stiefel oder Schals verkaufen, Böden waschen, etc. Umgelegt auf die heutige Zeit sage ich immer wieder, dass das Äquivalent so etwas wäre wie »Baby, ich würde für dich Essenszusteller werden, nur um mit dir zu sein.« Die Gig Economy ist eben gar nicht so neu wie sie tut.

Feministische Wiederaneignung

Eine andere Methode, um mein Repertoire an Revolutionsliedern feministisch zu revolutionieren, ist die sogenannte feministische Wiederaneignung. Als ich das jiddische Theaterlied »Ale vayber megn shtimen« (Alle Weiber dürfen wählen) zum ersten Mal auf einer CD in der jüdischen Bibliothek in Montréal hörte, dachte ich, ein feministisches Lied über die Einführung des Frauen-wahlrechts in den USA gefunden zu haben. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Bei meinen weiteren Recherchen fand ich heraus, dass das Lied im Jahr der Einführung des Frauenwahlrechts, 1920, von einem jiddischen Liedermacher und Komödianten namens Rubin Doctor geschrieben worden war, dessen Repertoire hauptsächlich aus frauenfeindlichen Inhalten bestand. So wie heute auch noch einer der beliebtesten patriarchalen Witze in Hollywood die nervige Ehefrau ist, so baute auch Doctor seine Karriere auf solchen Liedern auf. Bei dem Lied »Ale vayber megn shtimen« handelte es sich also um nichts anderes als ein satirisches Lied, dass sich über die Einführung des Frauenwahlrechts lustig macht, weil die Ehefrau nun aufhören kann zu keppeln (da sie ja eh wählen darf).

Ist so ein sexistisches Lied also noch irgendwie zu retten? Mir fiel auf, dass in der ersten Aufnahme, die ich gehört hatte, die Sängerin Clara Gold, subtil einige Wörter veränderte, um dem Text so mehr Nachdruck zu verleihen. Statt »Ale vayber megn shtimen« (Alle Weiber dürfen wählen) sang sie »Ale vayber mizn shtimen« (Alle Weiber müssen wählen). Sie sang es auch in ihrer musikalischen Interpretation aus dem Jahr 1921 so, dass es sich für mich nicht sarkastisch, sondern kämpferisch anhörte. Inspiriert von Clara Gold beschloss ich also, mir dieses Lied selbst auch neu anzueignen. Ich übernahm ihre Änderungen, dichtete ein paar Verse auf Jiddisch dazu und verfasste noch eine dritte, englische Strophe, in der ich aus Sicht des heutigen Feminismus auf die Errungenschaften der Anfänge der femi-nistischen Kämpfe zurückblicke:

»Now 100 years have past, and see what it has brought us
Women in boards of companies, in parliaments and start-ups
But what have all these women done, for care workers and migrants?
It’s time to change our strategy, and join to fight all tyrants!«

Durch diese Methode gelang es mir auch, eine Kritik am liberal-bürgerlich feministischen Narrativ zu formulieren, dass das Patriarchat durch zunehmende politische und wirtschaftliche Teilhabe von Frauen* überwunden werden könnte. Dieses Narrativ verkennt allerdings, dass patriarchale Unter -drückungs mechanismen untrennbar mit kapitalistischer Ausbeutung und rassistischer Ausgrenzung verwoben sind. Umgeschrieben fügt sich dieses Lied also auch in die Tradition der jiddisch sprachigen Revolutionär*innen, deren Ziel nicht weniger als die Befreiung der gesamten Menschheit war.

Isabel Frey ist eine Wiener jiddische Sängerin und Doktorandin in Ethnomusikologie an der Universität für Musik und Darstellende Kunst. Mit ihren jiddischen Revolutionsliedern unterstützt sie diverse politische Protestbewegungen, darunter auch die Wiener Donnerstagsdemos und LINKS Wien, und trägt damit die Tradition der jüdisch-revolutionären Kultur ins 21. Jahrhundert.

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Gelesen 2313 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 03 März 2022 14:41
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