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Ist die Linke selbstgerecht? © NADINE DILLY: SARAH WAGENKNECHT/WWW.CAMPUS.DE

Ist die Linke selbstgerecht?

von

Von Peter Fleissner.

In der deutschen Linkspartei rumort es. »Die Selbstgerechten«, das neueste Buch von Sahra Wagenknecht, hat Öl ins Feuer gegossen und eine emotional aufgeheizte Debatte über die richtige Politik der Partei losgetreten, eine Debatte, die durch Ver­luste bei den WählerInnen an Dringlichkeit gewonnen hat. Worum geht es dabei?

Es ist sicher hilfreich, zwischen den Sach­argumenten für eine bestimmte Richtung der Politik und den parteistrategischen Aspekten zu trennen. Zum einen: Welchen Weg soll die Politik der Linkspartei länger­fristig einschlagen? Und zweitens: Wie kann sich die Partei nach Beantwortung der ersten Frage möglichst mehrheitsfähig positionieren? In ihrem Buch hat Sahra Wagenknecht Ursachen für die Abweichung von der traditionellen Linken unter die Lupe genommen und sich für einen neuen – eigentlich alten – Weg stark gemacht. Das »Wie?« eines Übergangs bleibt aber im Dunkeln.

Zur Person

Sahra Wagenknecht ist eine erfahrene und in den Medien präsente Politikerin. Nach vielen Jahren im Vorstand der PDS war sie nach der 2007 vollzogenen Vereinigung mit der WASG zur Nachfolgepartei Die Linke bis 2014 eine der stellvertretenden Parteivor­sitzenden. Internationale Erfahrung gewann sie von 2004 bis 2009 als Mandats­trägerin im Europäischen Parlament, seit­her vertritt sie Die Linke im Deutschen Bundestag, von 2015 bis 2019 als Fraktions­vorsitzende. Die studierte Ökonomin, die sich lieber als Ökonom bezeichnen lässt, hat immer wieder für Aufsehen gesorgt, etwa 2018 durch die Gründung einer linken Sammelbewegung »aufstehen«1 gemeinsam mit ihrem Ehemann Oskar Lafontaine. Sie wollte die verstreute Linke parteiübergrei­fend zu einer neuen gesellschaftspoliti­schen Kraft zusammenführen. Obwohl die Sammelbewegung rasch mehr als 150.000 Mitglieder zählte, gilt sie heute als geschei­tert. Wagenknecht zog sich aus Gesund­heitsgründen daraus zurück. Heuer kandi­diert sie wieder zur Bundestagswahl im September, nachdem sie von der Linkspartei von Nordrhein-Westfalen mit 61 Pro­zent der Stimmen auf Platz 1 der Landes­liste nominiert wurde. Aber gleichzeitig wurde auch Kritik laut: Mehrere Vorstands­mitglieder forderten sie auf, von der Kandi­datur abzusehen, da sie mit ihrem Buch eine Spaltung der Partei heraufbeschwören würde.

Die Linksliberalen

Angesichts der mäßigen Wahlergebnisse der Linkspartei, die meist unterhalb der Zehn-Prozent-Marke liegen (einzige posi­tive Ausnahme war Thüringen mit 31 Pro­zent), meint Sahra Wagenknecht, dass eine Neuorientierung der Parteipolitik auf andere Zielgruppen nötig wäre, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Sie konstatiert, dass in der Linken eine Umorientierung weg von der klassischen linken Politik, die sich immer mit den Schwächeren solidarisiert hat, erfolgt wäre. An Stelle einer klassenbe­zogenen Politik hätte die Gruppe der »Linksliberalen« auf Identitätspolitik gesetzt. Dies wäre »eine relativ junge geis­tig-politische Strömung, die erst in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlichen Ein­fluss gewonnen hat«. Wagenknecht veror­tet die Linksliberalen in mehreren Parteien, einerseits in den Reihen der Sozialdemo­kraten (in Österreich wurde der Name Tos­kanafraktion geprägt), die sich dem Neoli­beralismus zugewandt haben; den Grünen, die sich nicht mehr klar für eine Politik des Friedens und der Abrüstung entschieden hätten; und eben ihrer eigenen Partei, in der die Linksliberalen immer stärker den Ton angeben. Dabei wären diese weder links noch liberal.

Weder links….

Links wären sie nicht, denn eine linke Poli­tik hätte sich immer für die eingesetzt, die es schwer haben und denen die Gesellschaft höhere Bildung, Wohlstand und Aufstiegs­möglichkeiten verwehrt. Durchaus partei­übergreifend hätte das linksliberale Milieu aber »seine soziale Basis in der gut situier­ten akademischen Mittelschicht der Groß­städte« (S. 9). Das Auftauchen dieser Milieus ist kein Zufall, sondern ein Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung der letz­ten Jahrzehnte, bei der die Linksliberalen sich mehrheitlich auf der Seite der Gewin­ner fanden, währen die klassischen Arbeiter­schichten, kleine Angestellte, Arbeitslose und sich selbst ausbeutende kleine Selbstständige eine Verschlechterung ihres Lebensniveaus erfuhren.

… noch liberal

Liberal wären sie auch nicht, denn die klassi­schen Liberalen hätten sich neben Freiheit und Toleranz immer auch für soziale Verant­wortung interessiert. Die Linksliberalen hät­ten am Niedergang der Debattenkultur ihren Anteil. Rationale Argumente würden nicht mehr gegeneinander abgewogen, sondern durch Abwertungen und Beschimpfungen ersetzt. Der Diskussionspartner werde zum Feind. Der Diskurs stecke voller Widersprüche und falscher Schlussfolgerungen, die Kontra­hentInnen würden verteufelt. Wagenknecht gibt Beispiele für falsche logische Zuordnun­gen: »Nazis sind gegen Zuwanderung? Also muss jeder Zuwanderungskritiker ein ver­kappter Nazi sein! Klimaleugner lehnen CO2-Steuern ab? Also steckt wohl mit ihnen unter einer Decke, wer höhere Sprit- und Heizöl­preise kritisiert! Verschwörungstheoretiker verbreiten falsche Informationen über Corona? Wer anhaltende Lockdowns für die falsche Antwort hält, steht also mutmaßlich unter dem Einfluss von Verschwörungstheo­rien! Kurz: Wer nicht für uns ist, ist ein Rech­ter, ein Klimaleugner, ein Aluhut … So einfach ist die linksliberale Welt.« (S. 10)

Wahlergebnisse

Die verschlechterten Wahlergebnisse für die linken Parteien und die gleichzeitige Stärkung der Rechten treten nicht nur in Deutschland auf. Thomas Piketty hat in seinem zweiten umfangreichen Werk Kapital und Ideologie (nach Das Kapital im 21. Jahrhundert) die Verän­derungen in der WählerInnenlandschaft detailliert in 13 Ländern untersucht und eine ähnliche Entwicklung festgestellt: Es gibt zwei große Gruppen, die in den 1950er und 1960er Jahren linke Parteien wählten, jedoch in den Jahren 1990 bis 2020 nicht mehr. Es waren dies einerseits Industriearbeiter*innen, anderer­seits einfache Angestellte im Dienstleistungs­bereich, vor allem Menschen in den unteren Lohngruppen und mit geringerer Bildung, die sich von der traditionellen Linken angespro­chen und von ihr vertreten fühlten. Heute seien es die Bessergebildeten und in wachsen dem Ausmaß die Besserverdienenden, die links wählen, während die untere Hälfte der Bevölkerung den Urnen fernbleibt oder für konservative oder rechte Parteien stimmt.

Flüchtlingspolitik

Während viele Linke gemeinsam mit Mer­kel für eine Willkommenspolitik und für offene Grenzen plädierten, meinte Wagen­knecht 2016 in der Zeitung Die Welt: »Dass es Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung gibt, ist eine Tatsache, und dass Kapazitäten nicht unbegrenzt sind, auch. Das festzustellen, ist weder links noch rechts, sondern eine Banalität.« Dies brachte ihr den Vorwurf des Faschismus und den Bewurf mit einer Torte ein. Fünf Jahre später meinen parteiinterne Kritike­rInnen, in Wagenknechts Buch würden Bewegungen wie Unteilbar, Black Lives Matter oder Fridays for Future verun­glimpft, womit sie gegen ihre eigene Partei agiere. Auch durchaus richtige Bemerkun­gen Wagenknechts, dass sich die Wirt­schaftsflüchtlinge eher aus den besser Gebildeten und besser Verdienenden der Herkunftsländer zusammensetzten, dass gerade die qualifizierteren Menschen das Land verlassen würden und die ärmsten Menschen aus Geldmangel gar nicht flüch­ten könnten, werden als Affront verstan­den.

Reformvorschläge

In dieser aufgeheizten Stimmung kommen auch Wagenknechts programmatische Vor­schläge unter die Räder. Obwohl sie in dem Buch Begriffe wie Sozialismus oder Kom­munismus explizit nicht verwendet, sollte dies nicht zu negativ gesehen werden. Alle Vorschläge sind ja immer darauf zu prüfen, ob sie in Richtung Sozialismus weisen.

Wagenknecht verweist auf die Bedeutung des Nationalstaats, der von den Linkslibera­len als altmodisch und kontraproduktiv abgetan wird. Aber nach wie vor ist der Nationalstaat in Europa die Arena, auf der sich die wichtigen politischen Auseinander­setzungen abspielen. Erst in zweiter Linie kommt die Europäische Union, die von den Kräfteverhältnissen auf der nationalen Ebene bestimmt wird. Natürlich heißt das nicht, dass Umweltfragen, Energieproduk­tion, Migration oder digitale Standards auf nationaler Ebene entschieden werden soll­ten, sondern international abgestimmt wer­den müssen.

Für soziale Dienstleistungen (Gesundheit, Pflege) und für die digitale Infrastruktur (Plattformökonomien) schlägt Wagenknecht die Überführung in gemeinwohlorientiertes Eigentum vor. Für private Industrieunter­nehmen wäre eine alternative Rechtsform günstiger, die sie »Leistungseigentum« nennt. Ein solches Unternehmen hat keine externen Eigentümer, sondern Kapitalgeber, die für ihre Einlagen Zinsen erhalten und nach Auszahlung alle Ansprüche auf die Firma verlieren. Die Firma gehört sich schließlich zur Gänze selbst. Dies ist keine Utopie: Zeiss, Saarstahl, Bosch und ZF Fried­richshafen sind so strukturiert.

Refeudalisierung

Wagenknecht konstatiert eine Refeudalisie­rung von Wirtschaft und Gesellschaft, wodurch sich die ökonomische und soziale Ungleichheit und die Armut verstärken. Wohlhabende Schichten schotten sich ab, Misstrauen und Feindseligkeit zwischen unterschiedlichen Lebensniveaus nehmen zu. Das Bildungsprivileg kehrt wieder, Lebenschancen werden stärker von der Her­kunft geprägt und nicht von eigener Leis­tung. Linksliberalismus sei eine große Erzählung der akademischen Mittelschicht, die aus den gegenwärtigen Verhältnissen Vorteile ziehen kann, während Schwächere auf der Strecke bleiben. Die Chancen von Frauen und von Einwandererkindern aus ärmeren Verhältnissen sind heute geringer als vor 30 Jahren, es gibt weniger Integra ­tionsmöglichkeiten, trotz der identitätspoli­tischen Erzählung von der Überwindung nationaler Abschottung, provinzieller Bor­niertheit, von Weltoffenheit, individueller Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Es wird die Aufgabe der Partei Die Linke sein, ihr Programm so zu gestalten, dass sie die Emanzipation der Arbeit (Marx) auf allen relevanten Ebenen fördert. Dabei wird es darum gehen, klassenbezogene Forderun­gen mit identitätsorientierter Politik zu ver­binden, ohne die Einheit der Partei aufzuge­ben. Dazu sind Diskussionen auf gleicher Augenhöhe nötig, die ohne Ausschlussdro­hungen und Beschimpfungen auskommen.

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Gelesen 4007 mal Letzte Änderung am Montag, 19 Juli 2021 12:16

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