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ESSAY: Einsamkeit

von

Gedanken von HELGA WOLFGRUBER

»Wenn die Wahrheit bei irgendjemand auf Erden zu finden ist, dann ganz bestimmt nicht bei Menschen, die behaupten, sie zu besitzen.«

Albert Camus

An diesen Satz von Camus habe ich in den letzten Wochen oft denken müssen. Vor allem dann, wenn meine Gedanken und Gefühle im Dickicht der täglichen Berichter­stattung die Orientierung verloren haben. Corona-ExpertInnen verschiedener Fachrich­tungen verteidigen unermüdlich ihre unter­schiedlichen Wahrheiten, kämpfen um die besseren Argumente, sprechen einander die Richtigkeit ihrer Aussagen ab und erzeugen Ratlosigkeit. Und Politik erschwert das Ertra­genmüssen pandemischer Ungewissheiten durch eine angsterzeugende Rhetorik.

Corona ist ein Ersatzschlachtfeld, von dem der Neurobiologe Gerald Hüther meint, wir würden auf ihm kämpfen, weil »wir es nicht mehr aushalten, dass wir auf allen anderen Problemfeldern nicht mehr weiterkommen«. Vom neoliberalen Dogma des Wachstums­wahns und dessen zerstörerischen Folgen scheint nicht nur Ökonomie und individuelle Lebensweise infiziert zu sein, sondern auch der Covid 19 Virus selbst. Auch dessen Wachstumsfreude weist einige ökonomische und ideologische Gewissheiten in die Schran­ken. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für eine längst fällige Generalinventur unseres Systems und für einen Paradigmenwechsel unseres Arbeits- und Wirtschaftslebens.

Jenseits der widersprüchlichen Zahlen und Hypothesen gibt es aber einige wenige Gewissheiten, auf die sich merkwürdiger­weise Viele einigen können. Eine davon ist: Einsamkeit nimmt zu!

»Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei« (Genesis I)

Gereinigt von moralischen, biblischen Impe­rativen wird der Mensch von BiologInnen als »physiologische Frühgeburt« oder auch als »Nesthocker« bezeichnet. Er ist von Geburt an auf fremde Hilfe und Beschützung ange­wiesen. Seine Überlebensfähigkeit ist davon abhängig und macht ihn zwangsläufig zu einem sozialen Wesen. Und als solches ler­nen wir auch die Fähigkeit zum Alleinsein, das Ertragen von Einsamkeit oder sogar das zeitlich begrenzte Genießen von beidem.

Der englische Psychoanalytiker D. W. Win­nicott legt dem Erlernen dieser Fähigkeit die Erfahrung des Kleinkindes »of beeing alone in the presence of the mother/of another« zugrunde. Erst wenn die Bedürfnisse des Kin­des in jeder Hinsicht »gestillt« sind, die Mutter/Bezugsperson aber in ihrer Verfügbar­keit präsent bleibt, vermittelt sie Stabilität und Sicherheit. Die Erfahrung ihrer verläss­lichen Wiederkehr ermöglicht dem Kind durch wiederholte Erfahrung die Verinner­lichung einer vertrauensvollen Beziehungs­figur. BindungstheoretikerInnen leiten aus diesen Erfahrungen auch die spätere Bin­dungs- und Beziehungsfähigkeit ab. Sind diese kindlichen Abhängigkeitserfahrungen vorwiegend von Enttäuschung und Entbeh­rung geprägt, können spätere Trennungen von realen Menschen in zerstörerisches Einsamkeitserleben münden. Das oft zitierte »Urvertrauen« wäre eine wichtige Quelle und Kraftspender für Selbstwirk­samkeit. Und vielleicht auch ein »Möglich­keitsraum«, in dem die Wiederholung kraftraubender Kindheitsmuster durchbro­chen werden kann. Corona-Politik scheint zum Wiederaufleben und Wachstum von Ängsten einzuladen, versagt aber kläglich beim Schaffen vertrauensbildender Maß­nahmen.

Einsam oder gesellig

Einsamkeitskonzepte wurden im Laufe der Jahrhunderte viele entworfen und ranken sich um die Worte Einsamkeit, Alleinsein, Verlassenheit, soziale Marginalisierung oder gesellschaftliche Exklusion. Die Bedeutungen dieser Begriffe überschneiden sich, sind jedoch nicht deckungsgleich. So muss nicht jedem sozialen Rückzug schon ein Einsamkeitsgefühl innewohnen. Eine vorübergehende Verabschiedung von der modernen »Geselligkeitspflicht« (Odo Mar­quard) kann auch emotionaler Erholung dienen, dem Kraftschöpfen für Kreatives Platz geben oder auch das Bekanntwerden mit »sich selbst« ermöglichen. Auch dazu wurden Stimmen während des ersten Lock­downs laut. Tief empfunden kann Einsam­keit sogar ein Stimulus für die Aufnahme von Beziehungen sein oder umgekehrt den Ausstieg aus einem Leben in »Einsamkeit zu zweit« einläuten. Oder sie kann den Rück­zug aus einer Gruppe bedeuten, in der die Vorstellung von Dazugehörigkeit und Sinn­findung nicht erfüllt wird.

Für Gerald Hüther sind es zwei Mensch­heitsbedürfnisse, deren Nichtbefriedigung gerade jetzt Ängste auslösen und Schaden sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft bedeuten können. Das eine wäre der Wunsch nach Verbundenheit mit Anderen – Hartmut Rosa würde von Reso­nanzerfahrung reden –, das andere der Wunsch nach Freiheit und autonomer Selbstbestimmung. In diesem Spannungs­verhältnis sehe ich zunehmende Rebellion und Demonstration gegen derzeitige staat­liche Maßnahmen und individuelle Ein­schränkungen angesiedelt. Diktaturfant­asien und Verschwörungsideen befeuern diesen Kampf gegen einen Außenfeind und binden diffuse Ängste. »Unbefriedigende Befriedigung«: Ich gehöre zu einer Gruppe (der GegnerInnen) und ich mache meine eigenen Regeln (z. B. Mundschutzverweige­rung). Warum sich auch Linke an diesem Kampf beteiligen, kann ich nicht nachvoll­ziehen. Sind diejenigen GenossInnen, die sich jetzt gegen die Corona-Politik aufleh­nen, dieselben, die Chinas brachiale, frei­heitseinschränkende, aber effiziente Maß­nahmen loben?

Einsamkeitsverstärker Innen und Außen

Die Versuchung ist groß, die Ursachen für die Vereinsamung entweder nur in der psy­chischen Innenwelt zu suchen, wie es viele PsychotherapeutInnen tun, oder aber nur in den äußeren Verhältnissen, wie es viele KapitalismuskritikerInnen postulieren. Die Realität aber ist komplizierter und dialek­tisch: so beschrieb auch Pierre Bourdieu »die Spuren des Außen im Herzen des Innen«. Und dieses geformte Innen-Verän­dernde gibt dem Außen seine neue Gestalt. Anders, so glaube ich, lässt sich Verände­rung schwer denken.

Aktuelle Belastungen durch die Pandemie hinterlassen neue, schmerzliche Spuren des Außen nicht nur in der Psyche des Men­schen. Karl Marx und Sigmund Freud waren die »Meisterdenker« des 19. und 20. Jahrhunderts zu psychischer und materieller Realität. Freud konnte die wichtige Rolle der ökonomischen Realität durchaus anerkennen, während Marx die Wichtig­keit »der Traditionen aller toten Geschlechter« betont, die »als Alp auf den Gehirnen der Lebenden« lasten.

Der Alp, der jetzt das Gehirn der Leben­den zermartert und zunehmend auch deren Seelen quält, heißt Virus, ist eine vorgefundene Tatsache, die zeigt, dass sich Menschen von Gewohnheiten und Traditionen, wider jede Vernunft, schwer lösen können. Der Ruf nach einem »Zurück zur Normalität« wird auch von linker Seite lauter und lässt vergessen, dass linke Politik dieser »alten Normali­tät« nie ihre Zustimmung gegeben hat.

Brennglas Krise

Risikofaktoren, auch für die Entstehung von Einsamkeit, sind längst bekannt und beschrieben. Sie werden durch die Krise nur deutlicher sicht- und spürbar. Fällt der Arbeitsplatz als Ort der Begegnung weg, verkleinert sich auch die Möglichkeit für Beziehungsaufnahmen. Ohne Sozial­kontakte, in physisches Alleinsein gedrängt zu sein, kann für alleinlebende, ältere oder kranke Menschen zu einer trostlosen Erfahrung werden. Hingegen kann das Zusammengesperrtsein von Familien auf engem Raum zum Wunsch nach einem »Ort für sich alleine« führen. Lohn- und Einkommensverlust bedeuten Verlust des Selbstwertes, begünstigen sozialen Rückzug und fördern das Gefühl von Ausgeschlossensein. Und dieses Gefühl bahnt den Weg in die Einsamkeit. Und chronische Einsamkeit bildet den Nährboden für Depression.

Wen aber interessierte vor Corona die Depression vereinsamter Flüchtlinge, die zugleich eingeschlossen und ausgeschlos­sen, ohne Sicherheit und Perspektive auf einer Warteliste stehen? Warum wurde Isolationshaft als gefürchtetste Maß­nahme des Strafvollzugs nicht schon längst als Folter abgeschafft? Waren AlleinerzieherInnen nicht schon vor Corona sozial isoliert und deshalb oft ver­zweifelt? Und wie viele Untersuchungen weisen schon lange auf den Zusammen­hang zwischen materieller Armut und sozialer Exklusion hin?

Auswege, Irrwege

Die derzeitige Situation der Unsicherheiten macht uns vermehrt mit Gefühlen von Machtlosigkeit und Angst bekannt. Das Bedürfnis nach Spannungsreduktion inten­siviert sich, und je nach Persönlichkeits­struktur haben wir unterschiedliche Reak­tionsweisen zur Verfügung: Lähmung, Flucht, Angriff.

Während sich die einen in Ergebenheit an Verordnungen halten und still hoffen, dass ein Impfstoff sie aus einer lähmenden Starre »befreit«, bereiten andere ihre Flucht vor. Corona verändert aber drastisch die Reiseziele. Der Weg führt jetzt in die Gegend von Netflix, sozialen Medien, Arbeit, Alkohol. Im Gegensatz zu echten Urlaubsreisen ist eine Rückkehr hier nicht immer garantiert. Die dritte Möglichkeit wäre der Angriff: auf staatliche Verordnun­gen, Andersdenkende, auf Schwächere. Vielleicht lässt sich Angriff auch positiv verstehen, als angreifen, in die Hand neh­men, um neue Konfliktlösungen für diese neue Situation zu suchen. Denn wenn es jetzt so weiterginge, dann wäre das, nach Walter Benjamin »die eigentliche Katastro­phe«.

Plädoyer für Solidarität

Es hat sich gezeigt, dass in Ausnahmesitua­tionen verbales Katastrophenmitgefühl und praktische Hilfe rasch geleistet werden. Der gemeinsame Einsatz für ein sinnvoll erach­tetes Ziel, das gemeinsame Tun, schafft Verbindlichkeit und macht unser Leben meist sinnvoller. Warum die Bereitschaft zu solidarischem Handeln oft nicht von Dauer ist, erklärt sich schwer. Ist es auch hier die »verordnete« Einsicht in die Not­wendigkeit, die dem Credo der Freiwillig­keit entgegensteht? Das Akzeptieren von Abhängigkeit sowie die Beseitigung von ungleicher Verteilung von Last und Macht wären ein guter Klebstoff für einen überle­benswichtigen Zusammenhalt vieler unter­schiedlicher Menschen. Denn: »No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent«, diese oft zitierten Zeilen von John Donne drücken auch heute noch die existenzielle Erfahrung von Abhängigkeit voneinander und auch die Verantwortung füreinander aus.

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Gelesen 5138 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 03 Dezember 2020 09:00

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