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AMBIGUITÄTS-INTOLERANZ: »Zwischentöne sind nur Krampf – im Klassenkampf!«

von

RAINER GROSS über »Die Vereindeutigung der Welt« von Thomas Bauer.

s49Es ist fast überraschend, dass noch nie­mand das Bertolt-Brecht-Zitat zu den »Zwischentönen« entdeckt hat im heutigen Meinungsklima mit seinen unversöhnli­chen »Lagern« und dem aufgeheizten Kampf um die Diskurshoheit – oder einfach nur ums Recht behalten.

Ein kleines Reclam-Bändchen, das seit seinem Erscheinen im Frühjahr 2018 bereits zahlreiche Auflagen erlebte, hält mutig dagegen: Sein Autor Thomas Bauer war bis vor kurzem kaum bekannt, er ist Professor für Islamwissenschaft an der Uni­versität Münster. Sein Buch Die Vereindeuti­gung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutig­keit und Vielfalt erwies sich aber als Überra­schungserfolg. Einer der Gründe dieses Erfolges ist seine klare und nachvollzieh­bare These, sein Plädoyer für ein Beibehal­ten der »Vieldeutigkeit der Welt«, das er in verständlicher Sprache entwickelt und für verschiedene Konfliktfelder wie Politik, Religion, Kunst und Konsum durchspielt.

Für ihn ist unsere Welt geprägt durch eine Reduktion von Vielfalt auf allen Ebe­nen, durch ein Zurückdrängen von Vieldeu­tigkeit, Uneindeutigkeit und Zweifeln. Stattdessen wird »Authentizität« zum Leit­wert: Es zählt kaum mehr das »Was«, son­dern nur noch das »Wie«. Bauer beschreibt diese Verdrängung der Bedeutungsvielfalt und warnt vor der zunehmenden »Ambi­guitäts-Intoleranz«.

Einen Nerv getroffen

Ambiguität bedeutet Mehrdeutigkeit, Un-Entscheidbarkeit, die Möglichkeit unter­schiedlicher Interpretationen eines Sach­verhaltes. Positiv formuliert steht der Begriff für Deutungsoffenheit und Plurali­tät – und ist dadurch ein Gegenmodell zum Fundamentalismus. Bauer betont, dass Ambiguität im menschlichen Leben prinzi­piell nicht vermieden werden kann, dass unser Ziel also nur in einer »Ambiguitäts-Zähmung« bestehen könne. Menschen seien von Natur aus ambiguitäts-intolerant, weil sie sich nach Klarheit, Sicherheit und Eindeutigkeit sehnen (und diese Qualitäten dann oft moralisch positiv aufladen).

Der Begriff der Ambiguitäts-Intoleranz wurde im amerikanischen Exil von der österreichischen Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik geprägt: Sie arbeitete gemeinsam mit Theodor W. Adorno an den Untersuchungen zur »autoritären Persön­lichkeit« und beschrieb eine solche Unfä­higkeit bzw. mangelnde Bereitschaft, Ambi­valenz oder Ambiguität zu ertragen, als einen zentralen Mechanismus des poten­tiell faschistischen Denkens und Fühlens: Durch eine solche Intoleranz kommt es zum Schwarz-Weiß-Denken. Entweder/ Oder-Lösungen werden gesucht, Diskus­sionen mit »Andersdenkenden« schnell abgebrochen. Symmetrie und Regelmä­ßigkeit werden auch als moralisch gut empfunden.

Allerdings ist diese Neigung zum Schwarz-Weiß-Denken unter Ausblen­dung aller Zwischentöne und Nuancen nicht nur bei der politischen Rechten angesiedelt: Auch Bertolt Brecht schrieb ja, dass »Zwischentöne nur Krampf sind im Klassenkampf«.

Im aktuellen aufgeheizten politischen Diskurs scheint Bauers Plädoyer für das Offenhalten mehrerer widersprüchlicher Optionen und Interpretationen, die Ver­weigerung der einen und einzigen richti­gen Lösung eher unzeitgemäß. Trotzdem oder aber gerade deshalb dürfte sein Buch haben, weil sich wohl sehr viele Mitbürge­rInnen trotz der so oft beschworenen »Optionen-Vielfalt« von der Mühsal der dauernden Pflicht zur Entscheidung über­fordert fühlen. Darüber hinaus aber stel­len sie allzu oft fest, dass ihnen auch schmerzliche Lösungen in den wichtige­ren Fragen des politischen und ökonomi­schen Lebens als »alternativlos« und auf­grund angeblicher Fakten zwingend not­wendig präsentiert werden. (Wie schon Maggie Thatcher sagte: »There is no alter­native!«) Da hilft auch die Entscheidungs­freiheit zwischen hundert Joghurt-Sorten im Supermarkt wenig – noch dazu dann, wenn diese alle ohnehin gleich schme­cken, nämlich nach Zucker und Chemie...

Widersprüche treiben voran

Unabhängig von der politischen Einstel­lung empfinden heute fast alle Menschen die Vieldeutigkeit und Komplexität der Welt als potenzielle Überforderung: Die allzu vielen Informationen – und noch mehr deren widersprüchliche Interpreta­tionen – sie sind kaum mehr in ein »ein­heitliches« Weltbild zu integrieren. Des­halb erscheinen in unserer Zeit jene Lösungsangebote als attraktiv, die zu einer (und sei es nur künstlichen) Verein­deutigung der Welt führen. Thomas Bauer beschreibt im Wesentlichen zwei Möglich­keiten, zu einer solchen zwar normierten, aber sichtlich beruhigenden Sicht der Welt zu kommen: Unter Ausblendung der Ambi­guität ist dies entweder durch Fundamen­talismus oder aber durch Gleichgültigkeit zu erreichen:

Die Ambiguität muss dann nicht mehr existieren, wenn etwas nur eine einzige »erlaubte« Bedeutung hat – oder aber wenn es gar keine Bedeutung mehr hat. Im ersten Fall sprechen wir von Fundamentalismus, im zweiten Fall von Gleichgültigkeit: Fun­damentalisten sind bestrebt, ihre Wahrheit zur einzigen und zeitlos gültigen Wahrheit zu ernennen und durchzusetzen, alle Alter­nativen werden im Streben nach Reinheit und Einheit bekämpft. Daher wird dann alles, was von außen als Widerspruch oder auch nur als zusätzliche Option dazu­kommt, als Bedrohung dieser Reinheit empfunden (das »Thema Nr. 1« seit 2015 …).

Im entgegengesetzten Modus der Gleich­gültigkeit hat etwas gar keine Bedeutung und Wichtigkeit mehr, alle Interpretatio­nen sind gleich, sind gleichermaßen gültig: Wenn ich es nur so empfinde – dann gilt das für mich! Dadurch aber verliert ein Thema, eine Sachfrage insgesamt an Bedeu­tung und kann dann aus der Distanz und sogar leicht gelangweilt-ironisch betrach­tet werden.

Thomas Bauer empfindet sowohl die Ver­einheitlichung durch fundamentalistische Tendenzen als auch die nivellierende Rela­tivierung und letztlich Gleichgültigkeit als gleichermaßen gefährlich für eine Demo­kratie, die zwangsläufig auf ein hohes Maß an Vieldeutigkeit, an Ambiguitäts-Toleranz angewiesen ist: Demokratische Entschei­dungen können nicht den Anspruch auf ewige Wahrheit erheben: Es geht immer nur um Wahrscheinlichkeiten oder um eine aktuelle, kompromisshaft erzielte bessere (oder zumindest weniger schlechte) Lösung. Diese Lösung aber kann jederzeit von einer noch besseren abgelöst werden, sie ist niemals »ewig« und auch nie »alter­nativlos«.

Laut Bauer kann es auch der Markt nicht schaffen, Konflikte zu lösen, »wenn Demo­kratien zwischen authentizitäts-induzierter Gleichgültigkeit und fundamentalistischem Eindeutigkeitsstreben zerrieben werden«.

Auch wenn man dem Autor nicht in allen Punkten zustimmen wird, finde ich das Buch in hohem Maße lesenswert: Das kleine Bänd­chen bietet für wenig Geld sehr viel »Gedan­kenfutter« und kann beim Aufspüren eige­ner fundamentalistischer oder aber über­trieben »authentischer« Positionen helfen.

Differenz angstfrei erleben

Woran liegt es, wodurch entscheidet sich, ob ein Mensch ambiguitäts-tolerant ist – und damit auch toleranter gegenüber der abweichenden Meinung anderer – oder aber nicht?

Diese Frage hat die politisch engagierten PsychoanalytikerInnen und Sozialwissen­schaftlerInnen unter dem Eindruck des Faschismus zumindest seit 1930 massiv beschäftigt: Bei allen sonstigen Differenzen waren sich Theodor W. Adorno, Elsa Fren­kel-Brunswik oder auch Erich Fromm weit­gehend einig: Die Grundlagen für die oben beschriebene strukturelle Intoleranz liegen weniger in den Genen als in unserer frühen Sozialisation:

Eines der wichtigsten Ziele der frühkind­lichen Entwicklung ist ja das Erreichen der Realitätstüchtigkeit. Darunter verstehen die EntwicklungspsychologInnen die Fähig­keit, verlässlich zu unterscheiden zwischen innerer, subjektiver Realität und der äuße­ren, mit anderen geteilten »objektiven« Wirklichkeit.

Das ist (leider auch noch für viele Erwachsene) weniger banal, als es klingt: Solange ich nicht verlässlich unterscheiden kann, was »in mir drinnen« ist, nämlich Gefühle, Phantasien, Wünsche und Ängste – und was im Gegensatz dazu Bestandteil der Außenwelt ist – solange habe ich auch keine verlässlichen Ich-Grenzen, fühle mich also nicht ausreichend sicher. Ich stehe dann der Welt prinzipiell misstrau­isch bis paranoid gegenüber und kann/muss jedes Unbehagen, jede Bedro­hung als von außen kommend erleben: Schlimmstenfalls führt dies dazu, dass ein Mensch sich nicht nur verfolgt fühlt (was uns allen manchmal passiert), sondern absolut und wahnhaft davon überzeugt ist, dass er wirklich verfolgt wird!

Abstrakt formuliert: Gerade weil die frühe Trennung von innen und außen nicht verlässlich genug funktioniert, bleiben die Grenzen unscharf und damit auch die Abgrenzung zu wichtigen Bezugspersonen (vor allem zur Mutter). Gerade deshalb aber werden später äußere Grenzen so erbittert verteidigt: Die Grenzen zwischen »Wir« und »Sie«, die Grenzen zwischen »zugehö­rig, weil so wie ich« oder »nicht zugehörig, weil anders als ich« – es sind letztlich immer Unterscheidungen zwischen innen und außen. Es geht immer um Inklusion oder Exklusion. Daher geht es immer auch um die Definition unserer Identität. Jede Definition kollektiver Identität funktioniert nach der Formel »zugehörig, weil so wie wir«: Dies bedeutet ja nur: »Zugehörig und positiv, weil ident mit mir!«

Nur wenn Menschen durch ausreichend liebevolle und damit sicherheitsspendende Beziehungen zu ihren Eltern erleben konn­ten, dass auch die Welt außerhalb ihrer Ich-Grenzen, die Objektwelt ihnen positiv gegenübersteht, nur dann können sie auch später als Erwachsene Differenz angstfrei erleben, aushalten – und vielleicht auch als Bereicherung empfinden.

Falls aber dieses Urvertrauen gegenüber der Welt der Objekte, gegenüber einer nicht primär als feindlich erlebten Welt in der Kindheit nicht erworben werden konnte, dann bleibt das Aushalten von Widersprüchen (auch von Widersprüchen in mir selbst!) und dadurch auch die inter­personelle Toleranz schwierig: Speziell in Belastungssituationen ökonomischer, poli­tischer oder persönlicher Art werden dann emotionale Zwischentöne nur allzu schnell als belastend und oft kaum aushaltbar emp­funden: Es überwiegt die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit (aktuelle Stichworte dazu: »Lagerdenken« oder auch »Meinungsblase«).

Eine solche emotionale Grundhaltung aber verunmöglicht das Aushandeln von Kompromissen und macht dadurch die Menschen anfällig für populistische Schwarz-Weiß-Malerei, für Vereinfachung und Vereinheitlichung der allzu komplexen Welt. Deshalb bleibt die Frage der Toleranz, der Ambiguitäts-Toleranz eine eminent politische Frage!

Thomas Bauer: »Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.« Taschenbuch. Stuttgart: Reclam Verlag 2018, 104 Seiten, 5,49 Euro

Dr.med. Rainer Gross, Psychiater und Psychoanaly­tiker in freier Praxis in Wien, letzte Publikation: »Heimat. Gemischte Gefühle. Zur Dynamik innerer Bilder.« Taschenbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 175 Seiten, 21,00 Euro

 

Gelesen 6308 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 19 Juni 2019 12:42

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