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Ukraine zwischen allen Fronten

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Täglich hören wir in den Nachrichten über die militärischen Einsätze Russlands in der Ukraine. Bomben und Raketen verrichten ihr zerstörerisches Werk. Viele Tote sind zu beklagen, von der Zerstörung der zivilen Infrastruktur ganz abgesehen. Dieser schreckliche Krieg muss möglichst rasch beendet werden. Der Krieg ist nicht die einzige Form von Übergriffen auf die Menschen in diesem an natürlichen Ressourcen so reichen Land. Von Peter Fleissner

Schon seit der Auflösung der Sowjetunion begann ein Raubzug, der immer noch im Gange ist. Bedingt durch die geographische Lage zwischen Ost und West musste sich die Ukraine mit ihrer neuen Umwelt arrangieren, was innenpolitisch nicht einfach war. Der Süden und der Osten der Ukraine haben wirtschaftlich und sozial eine starke Bindung zu Russland, der Norden und der Westen eher zur EU. Russland und der Westen bemühten sich, ihren Einfluss auf die Ukraine auszudehnen und eine Regierung zu etablieren, die ihren Interessen diente. Wie in Russland eigneten sich Personen aus dem früheren Management der Staatsbetriebe große Vermögen an und gelangten unter der Bezeichnung »Oligarchen« zu Reichtum, Macht und Einfluss.

Zerrissen zwischen Ost und West

Im Jahr 2014 kamen die unterschiedlichen Strömungen in der Ukraine unter dem Stichwort Euromaidan zum Ausbruch. Die nach dem Zerfall der Sowjetunion verfolgte Außenpolitik, mit Ost und West gleichermaßen wirtschaftliche Beziehungen zu unterhalten, wurde von Präsident Viktor Janukowytsch durch die Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union durchkreuzt. Die folgenden Massenproteste am Majdan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, die zunächst friedlich begonnen hatten, kosteten im Februar mehr als 100 Menschen das Leben. Viktor Janukowytsch flüchtete nach Russland und wurde seines Amtes enthoben. Im März annektierte Russland die Halbinsel Krim. Die ukrainische Regierung bekämpfte ihrerseits abtrünnige Regionen im Donbass mit Waffengewalt.

Von nun an schlug die ukrainische Regierung einen eindeutig pro-westlichen Kurs ein. Um den chronischen Mangel an finanziellen Mitteln zur Modernisierung der Wirtschaft und der Infrastruktur zu lindern, schickte sie noch im selben Jahr einen Bettelbrief an den Internationalen Währungsfonds und ersuchte um einen 13 Mrd. Euro Kredit. In vorauseilendem Gehorsam sagte sie im Gegenzug eine 56-prozentige Erhöhung der Energiepreise für die Endverbraucher zu, Steuererhöhungen um 25 bis 40 Prozent, Einfrieren der Löhne auf ein Jahr, einschließlich des Mindestlohns, der 74 Euro betrug, und insgesamt eine »Rationalisierung der Sozialausgaben« – was sicher keine Verbesserung des Sozialsystems bedeutet hat und einem neoliberalen Kurs den Weg bahnte.

Ein weiterer Meilenstein zur Angleichung an den Westen war die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, das 2017 in Kraft trat. Eine »vertiefte und umfassende Freihandelszone« wurde geschaffen. Sie bietet den Rahmen für die Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft und Angleichung der Gesetze, Standards und Vorschriften an europäische Normen.

Aber es ging bald nicht nur um die kapitalistische Umgestaltung der Wirtschaft und des Sozialsystems. Auch militärisch wollte die Ukraine dem westlichen Militärbündnis näher rücken. Konsequenterweise wurde 2019 die Mitgliedschaft in der NATO als Ziel in die Verfassung der Ukraine aufgenommen.

Der Vorstoß des Agrarkapitals

Die Ukraine gehört als »Kornkammer Europas« mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde und einer jährlichen Produktion von mehr als 60 Millionen Tonnen Getreide und Saatgut zu den weltweit größten Produzenten von Gerste, Weizen und Sonnenblumenöl (Zum Vergleich: In den EU-27 stehen rund 175 Millionen Hektar Ackerland zur Verfügung). Sie ist der drittgrößte Exporteur von Mais. Auf die Landwirtschaft entfallen 8 Prozent des BIP und 17 Prozent der Arbeitsplätze.

In der Ukraine, damals noch Teil der UdSSR, war das Agrarland Staatseigentum. Mit der Unabhängigkeit 1991 bekamen viele Personen, die in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gearbeitet hatten, etwa zwei bis drei Hektar Land aus dem Besitz der staatlichen Genossenschaften. Dadurch erhielten fast sieben Millionen Personen, die in ländlichen Regionen wohnten, Anteilsscheine für landwirtschaftliche Grundstücke. Diese waren zeitweise handelbar, dann wurde der Verkauf gesetzlich verboten. Die tatsächliche Zuordnung vermessener Flurstücke und die Registrierung des zugeteilten Eigentums erfolgte überwiegend erst Anfang der 2000er Jahre. Die neuen Bodeneigentümer:innen bewirtschafteten ihre Flächen größtenteils nicht selbst, sondern verpachteten sie zumeist an private Nachfolgeunternehmen.

Obwohl durch ein Moratorium im Jahr 2001 der Verkauf von ukrainischem Agrarland verboten war, verpachteten die Besitzer der Böden, die oft nicht genug Geld oder Produktionsmittel hatten, an Agrar-Holdings. Diese konnten sich leichter mit finanziellen Mitteln versorgen und profitierten von den niedrigen Pachtzinsen. So konnten sie das Verkaufsverbot legal umgehen. Zwischen 2009 und 2012 kam es zu einer Übernahmewelle durch einheimische Oligarchen wie etwa Rinat Akhmetov oder Oleg Bakhmatyuk, der mit seiner Holding Ukrlandfarming rund eine halbe Million Hektar kontrollierte. Dazu gesellten sich bald die US NCH Capital mit 400.000 Hektar und die Russian Ukranian Agrarian Investments (260.000 Hektar). Ein Bericht aus der Ukraine im Jahr 2016 beschreibt, dass 45 Agrarunternehmen 4,1 Millionen Hektar Land mit einem Umsatz von mehr als 10,8 Mrd. US Dollar bewirtschaften. Ein Großteil des Outputs wird exportiert. Trotz der Gültigkeit des Moratoriums für Landverkäufe an Ausländer kontrollierten im Jahr 2016 bereits zehn multinationale Agrarkonzerne 2,8 Millionen Hektar Land. Einer dieser Konzerne, die Holding MCB Agricole Austria, mit einer Verfügung über 96.000 Hektar, hatte seinen Sitz in Österreich. Heute sprechen Schätzungen von 3,4 bis 6 Millionen Hektar in den Händen ausländischer Unternehmen und ukrainischer Unternehmen mit ausländischen Fonds als Anteilseignern.

Im August 2018 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem denkwürdigen Urteil, dass das Moratorium gegen das Recht auf Schutz des Eigentums gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Kauf und Verkauf von Eigentum sei ein Menschenrecht.

Im Jahr 2019 erhielt der Privatisierungskurs Schützenhilfe durch ein Papier der Weltbank. Dort heißt es, wichtig sei eine »Beschleunigung privater Investitionen in die Landwirtschaft«. Dieses Abkommen beinhaltet eine Erleichterung des Markteintritts westlicher multinationaler Konzerne und die Förderung der »modernen landwirtschaftlichen Produktion ... einschließlich des Einsatzes von Biotechnologien«, eine offensichtliche Öffnung für Kulturen mit genetisch veränderten Pflanzen auf ukrainischen Feldern.

Die Ukraine gehörte neben Nordkorea, Kuba und Venezuela zu den wenigen Staaten weltweit, in denen der Grundstückkauf grundsätzlich nicht erlaubt ist. Die Mehrheit der Ukrainer:innen fand, es soll auch so bleiben. Das zeigte eine Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts vom Februar 2020. Danach waren 62 Prozent der Befragten gegen die Öffnung des Bodenmarktes. Dennoch wurde das Landverkaufs-Moratorium im Jahr 2020 von der Regierung Selenskij aufgehoben, noch vor einem für 2024 geplanten endgültigen Referendum zu diesem Thema. Olena Borodina vom ukrainischen Netzwerk für ländliche Entwicklung kommentierte, dass »die Interessen der Agrarindustrie und der Oligarchen die Hauptnutznießer einer solchen Reform sein werden... [dies] wird die Kleinbauern nur weiter marginalisieren und birgt die Gefahr, dass sie von ihrer wertvollsten Ressource abgeschnitten werden«.

Vom Regen in die Traufe

Der Krieg verschärft die Lage der arbeitenden Menschen auch in rechtlicher Hinsicht. Im März 2022 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Notstandsgesetz, das es den Arbeitgebern erlaubt, Tarifverträge auszusetzen. Im Mai beschloss es ein dauerhaftes Reformpaket, das die große Mehrheit der ukrainischen Arbeitnehmer:innen (in Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten) vom ukrainischen Arbeitsrecht ausnimmt. Anfang Juli fand in Lugano unter westlicher Beteiligung die so genannten Ukraine Recovery Conference statt. Die dort verfasste Erklärung tritt für eine vollständige Angleichung an den EU-Binnenmarkt bei gleichzeitiger Verschlankung des Staates (Steuerverwaltung, Privatisierung, Digitalisierung der öffentlichen Dienste) ein.

Es sieht ganz so aus, als ob in der »neuen Ukraine« die Rechte der Lohnabhängigen eingeschränkt werden sollten. In die gleiche Richtung zielt der Nationale Sanierungsplan, der Unternehmen und Wohlhabende durch Steuersenkungen unterstützt. Derzeit stammen rund 40 Prozent des BIP aus Steuereinnahmen, was den Sanierer: innen viel zu hoch scheint. Im Namen der »EU-Integration und des Marktzugangs« schlug der Plan vor, »Zölle und nichttarifäre, nichttechnische Hemmnisse für alle ukrainischen Waren zu beseitigen«, während er gleichzeitig dazu aufrief, »die Anziehung ausländischer Direktinvestitionen zu erleichtern, um die größten internationalen Unternehmen in die Ukraine zu bringen«, mit »besonderen Investitionsanreizen« für ausländische Unternehmen. Gleichzeitig ist für die Zeit nach dem Krieg die Privatisierung der größten staatlichen Bank des Landes, die paradoxerweise PrivatBank heißt, und der Oshchadbank, der größten staatlichen Sparbank, beabsichtigt.

Der Krieg wird offensichtlich als Gelegenheit genützt, die Möglichkeiten für das ausländische Kapital zu erweitern, indem Ressourcen übernommen oder kontrolliert werden, und um die Rentabilität für einheimische Oligarchen und ausländische multinationale Unternehmen zu erhöhen. Der Einmarsch Russlands setzt den Bemühungen des Westens allerdings in verschiedener Hinsicht Grenzen. Bereits jetzt kontrolliert Moskau ca. 20 Prozent des Staatsgebiets, 63 Prozent der ukrainischen Kohlevorkommen, 11 Prozent des Erdöls, 20 Prozent des Erdgases, 42 Prozent der Metalle und 33 Prozent der seltenen Erden. Die Gewerkschaftsrechte und Arbeitsbedingungen der ukrainischen Arbeitnehmer wurden von der Selenskij-Regierung ver-schlechtert. Unter Putins Russland würde es aber noch schlimmer werden. Denn dort sind Streiks, Demonstrationen gegen das Regime und politische Organisierung mit hohen Strafen verbunden.

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Gelesen 2330 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 17 November 2022 08:38

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