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ALLTAGSGESCHICHTEN AUS DER LANDSTRASSE: Alt Wien

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Zwischen den Welten: Fast 50 Jahre alt geworden in Wien, bin ich noch immer nicht wirklich ganz hier und schon lange nicht mehr dort.

VON BÄRBEL DANNEBERG

Ich gehöre zum »guten« Wiener Zugewanderten-Pool, dem größten übrigens: dem deutschen. Lange Zeit vor dem EU-Beitritt touristisch als Devisenbringerin für Tirols Berg- oder Wiens Unterwelt sowie seiner Sehenswürdigkeiten umworben, habe ich zu Beginn meiner Wiener Zugezogen-Zeit, zu der mich nicht Wien, sondern eine Liebe verführt hat, oft gehört, was für ein schönes Deutsch ich sprechen würde. Das lag wohl an den deutschen Fernsehserien und den Österreich-Repliken á la Mundl. Ich würde liebend gerne Wienern, bringe es aber nicht über meine Zunge. Muttersprache ist trotz aller Bemühungen prägend auch nach fast einem halben Jahrhundert.

Im Wiener Durchschnitt betrug der Anteil an Wiener*innen mit einer ausländischen Herkunft im vergangenen Jahr rund 40,7 Prozent. In zwei Bezirken hatten mehr als die Hälfte der Einwohner*innen eine ausländische Herkunft: in Rudolfsheim-Fünfhaus seit dem Jahr 2015 und in der Brigittenau seit 2018. Anfang 2019 hatten in Wien rund 773.176 Einwohner*innen einen Migrationshintergrund (Statista 2020). Und dennoch darf rund ein Drittel nicht wählen.

Vor diesem Hintergrund affichiert FPÖ-Wien-Chef Dominik Nepp (was reimt sich auf diesen Namen?) sittenwidrige Wahl-Plakate, die den Punkt der Verhetzung erfüllen, wozu es bereits eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft »gegen unbekannte Täter« vom SPÖ-Akademikerinnen- und Akademiker-Verband BSA gibt. Der verhetzende Sichtappell »Wir statt Ihr« knüpft an primitivste Gefühlswelten an, die dem Wiener Bevölkerungsgemisch seinen Charme nimmt. Das meiste, das Wien auch historisch ausmacht, ist nicht von hier, wie der Böhmische Prater oder viele Straßen- und Personennamen belegen. Und viele wurden vor acht Jahrzehnten vertrieben oder in Konzentrationslagern ermordet, wie die Gedenk-Stolpersteine vor Wiener Wohnhäusern zeigen.

Fremd sein in Wien

Ab und zu schicke ich meinen Verwandten Ansichtskarten, zarte Aquarelle von alten Biedermeier-Häusern, die den Wiener Charme vergangener Zeiten zeigen. Ich verschicke Illusionen. Als ich 1973 von Westberlin nach Wien kam, habe ich im Alten AKH auf der 1. Unfallchirurgie gearbeitet. Die Oberin zeigte mir meinen Arbeitsplatz und verwies stolz auf die Steinstiegen, über welche Maria Theresia bereits geschritten sei. Sie legte mir nahe, in die SPÖ einzutreten. Mein erster Wiener Widerspruch, den ich umschiffte: ich als Ausländerin...

Als größte Migrant*innen-Gruppe durfte ich nicht wählen, als systemrelevante Arbeitskraft aber Steuern zahlen. Nach elf Jahren leben und arbeiten in Wien habe ich dann meine Staatsbürgerschaft und die meiner Kinder letztendlich teuer und legal »erkauft«, denn Lehrstellen wurden für meine beiden Migrationsmädchen öffentlich nicht gefördert. »Besondere Staatsbürgerschaften« wurden schon immer verliehen und mussten andere Kriterien erfüllen: »Knapp 24 Millionen Euro müsse man in die österreichische Wirtschaft investieren, um danach mit einer österreichischen Staatsangehörigkeit ausgestattet zu werden« (Die Presse, 31.7.2018). Meine namentlichen Ahnenverwandten (Jochen, Ex-DDR-Schispringer; Thomas, Synchronsprecher der Schwarzenegger-Filme; Robert, SPÖ-Politiker des Roten Wien, 1942 im KZ Auschwitz ermordet, Erika, Psychoanalytikerin in Wien) hatten zurecht keinen »Freunderl-Einfluss«, obwohl ich oft auf deren Berühmtheit angesprochen werde. Operndiva Anna Netrebkow oder Superreiche haben aufgrund »von erbrachten oder noch zu erwartenden außerordentlichen Leistungen im Interesse der Republik Österreich« einen anderen Zahlungszulassungs code für Mehrstaatlichkeit. Dieser Staatsangehörigkeitsdeal wurde nebenbei auch durch das Ibiza-Video deutlich, mit welchem Strache und Gudenus (damals noch vereinte, heute zerstrittene FPÖ) die österreichische Bundesregierung in die Luft sprengte.

Erst nach Österreichs EU-Beitritt war das Wählen auf Bezirksebene für EU-Bürger*innen möglich. Heute kann dennoch ein Drittel der in Wien Wohnenden nicht zur Wahl gehen. Bürgermeister Ludwig stellte dieser Tage klar, dass er auch gar nicht daran denke, ein Wahlrecht allen in Wien Lebenden zu gewähren. Eine sehr klare, rechte Botschaft.

Leben in Wien-Landstraße

Mein kleines Grätzl. Bei mir am Landstraßer Gürtel, wo ich wohne, rauscht eine dichte Lärmglocke an den Häusern entlang und kriecht in die Wohnräume. Als vor ein paar Jahren der Gürtel saniert wurde, sind die Ampelphasen verlängert worden – für den Autoverkehr. Autobahn-Auf- und Abfahrt bzw. Auto-Flotten ins Zentrum sind wichtiger als Fußgeher*innen, die den Gürtel in den Schweizer Garten queren wollen. Mein Fensterbrett ist rußschwarz, der Feinstaub legt sich in die Lungen. Will man mit dem O-Wagen, der Favoriten mit dem Prater verbindet, vom Gürtel nach Wien Mitte gelangen, ist oft Geduld gefragt. Die Fasangasse, vor längerer Zeit saniert, ist mit parkenden Autos verstellt. Der O-Wagen bewegt sich oft nur im Schritttempo, denn den Gleiskörper teilen sich Autos und Bim. Vorrang für Öffis? Vor dem Rennweg dann das gestaute Nadelöhr.

Ich als alte, nicht eingesessene, aber aktiv Beteiligte am Leben in meinem Grätzel beklage die Demontage von etlichen Briefkästen in meiner nahen Umgebung und die Sperre von Post und manchen Bankfilialen. Die Trennung von Post und BAWAG zwingt mich, einen weiten Weg durch den Bezirk zu bewältigen, denn die Post erledigt keine BAWAG-Geschäfte mehr und umgekehrt. Konkurrenz belebt meinen Ärger.

Vor einigen Jahren wurde in der Jacquingasse die Backsteinmauer des Botanischen Gartens saniert. Bei der Neugestaltung des Gehwegs wurde »vergessen«, auch einen Radweg einzuplanen. Dafür verstellen E-Scooter den Gehsteig. Ein Highlight war für mich kürzlich die Fahrraddemo, die an meinem Wohnhaus vorbeiführte. LINKS-Radler*innen zogen mit Geklingel, Getröte und Musik durch die radweglose Jacquingasse, ich holte meine bunte Pace-Fahne hervor und winkte von meinem Balkon aus. Trillerpfeifen und Juchhuh-Rufe grüßten zurück.

Alt sein in Wien

Wien ist eine liebenswerte Stadt. Weißt du, sagt eine Freundin, Covid-19 betrifft uns viel mehr, als wir geglaubt haben: kein Theater, kein Konzert, keine Bridgerunden mehr. Heute geht ihr Mann kaum mehr aus dem Haus. Steigende Covid-Erkrankungen und gelbe Corona-Ampeln lassen alle geselligen Hoffnungen fahren. Mit meiner Freundin gehe ich im Botanischen Garten walken, mit meiner Nachbarin tausche ich mich über Corona-Befindlichkeiten und Lebensalltag aus, mit meinen politischen Freundinnen treffe ich mich manchmal zum BDF-Frauenfrühstück in der feministischen Bildungseinrichtung Hetzgasse und meine Apotheke hat mich im Rahmen »Demenzfreundlicher Bezirk« zu Lesungen mit meinem Buch »Alter Vogel, flieg!« eingeladen. Aber die Furcht vor einem zweiten Lockdown isoliert zunehmend. Die Bundesregierung will zusammen mit Hilfsorganisationen einen »Pakt gegen Einsamkeit« schließen.

Ich liebe diese Stadt, auch wenn ich noch immer einen Koffer in Berlin habe. Als ich vor 17 Jahren in Pension ging, schickte die Gemeinde Wien mir ein Hilfsangebot für Alte und Gebrechliche und ich war fast beleidigt. Ich mit 60 Jahren alt? Heute finde ich das entgegenkommend, aber ich habe nie mehr danach etwas gehört. Bis auf SPÖ-Bürgermeister Ludwigs Wahlbrief gestern in meinem Postkastl, in welchem er mir versichert, bei ihm »in den besten Händen« zu sein und er mir »etwas zurückzugeben« verspricht. Nur was? Ein demokratisches Wahlrecht für alle hatte er ja bereits ausgeschlossen. Mittlerweile bin ich hier alt geworden und in besten Händen meiner Mitmenschen, viele mit Migrationshintergrund, wie etwa die LINKS-Spitzenkandidatin zu den Wahlen in Wien-Wieden, Amela Mirkovic Emric.

Wien ist charmant, sagen meine Berliner Verwandten beim Heurigen, überaltert und einsam. Wien ist ein heißes Pflaster. Es wurde jetzt von Berlin zum Risikogebiet erklärt. Meine Kinder und Enkel, die sich gerade im Ausland befinden, und mein Kollege Max, der gerade in Berlin ist, werden hoffentlich trotz Reisewarnung ohne Quarantäne und aktivem Corona-Test gesund zurückkommen können.

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Gelesen 4993 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 04 November 2020 09:01
Bärbel Danneberg

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