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Der erste Absatz von Artikel 7 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes (B-VG) aus 1929, das heute noch gilt, beginnt mit: »Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich.« Mangels Einigung der politischen Parteien hatten diese damals auf das Staats­grundgesetz der Monarchie von 1867 zurückgegriffen, das wiederum auf der »Oktroyierten Märzverfassung« von 1849 beruht, die von Kaiser Franz Joseph I. ohne Mitwirkung des Parlaments erlassen wurde. Pikantes Detail: Der Kaiser hatte diese Ver­fassung aus Olmütz verkündet, wohin sich der Hof aus Angst vor revolutionären Umtrieben geflüchtet hatte. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist aber nur ein Teil des menschlichen Lebens. Politische Rechte für alle ließ noch länger auf sich warten. Wäh­rend das Frauenwahlrecht 1918 eingeführt wurde – elf Jahre nach dem Wahlrecht für Männer, erlaubte die katholische Fakultät der Universität Wien erst 1945 das Frauen­studium.

VON PETER FLEISSNER

Die Gleichbehandlung in der Arbeitswelt wurde 1979 durch das Gleichbehand­lungsgesetz (GlBG) für die Privatwirtschaft und analoge Gesetze für Bundes-, Länder- und Gemeindebedienstete geltendes Recht. Damit ist die Gleichbehandlung von Frauen und Männern in einem Arbeitsverhältnis einklagbar geworden. Soweit so gut.

Lebenslange Diskriminierung von Frauen

Leider enthalten Gleichbehandlungsgesetze keine Vorschriften für die Einkommens­höhe einer Person oder eines Haushalts. Wie die Einkommen und Pensionen tat­sächlich verteilt sind, bleibt dem persönli­chen Schicksal der Einzelnen überlassen. Und hier gibt es große Unterschiede. Statis­tik Austria berichtet über das Jahr 2017: »Betrachtet man die Bestverdienenden (oberstes Dezil) 1, so lagen die männlichen Angestellten mit 95.532 Euro vor den männlichen Beamten mit 93.928 Euro, deut­lich darunter blieben die bestverdienenden Beamtinnen mit 81.294 Euro.« 2 Dagegen liegen weibliche Vertragsbedienstete mit einem mittleren Einkommen von 30.798 Euro brutto im Jahr deutlich niedriger, männliche Arbeiter kommen auf 26.239 Euro, weibliche Angestellte auf 23.675 Euro. Das Schlusslicht bilden die Arbeiterinnen mit 11.570 Euro.

In traditioneller Manier sind immer die Männer der Vergleichsmaßstab für die Frauen: »Die rund 4,4 Mio. unselbständig Erwerbstätigen (ohne Lehrlinge) erzielten 2017 ein mittleres Bruttojahreseinkommen von 27.545 Euro. Die Einkommen der Frauen erreichten mit 21.178 Euro im Mit­tel nur 62,7 % des Einkommens der Männer (33.776 Euro), wobei Frauen viel häufiger teilzeitbeschäftigt sind. Die mittleren Net­tojahreseinkommen beliefen sich auf 20.821 Euro (Frauen: 16.931 Euro, Männer: 24.564 Euro).«3 Frauen verdienten also im Mittel ein Drittel weniger als Männer. Nimmt man als Bezugspunkt aber die Einkommen der Frauen, wird die Aussage noch deutlicher: Männer verdienen um fast 60 Prozent mehr als Frauen. Obwohl PolitikerInnen immer wieder diese Ungleichheit an den Pranger stellen, hat sich in den letzten Jahrzehnten daran kaum etwas geändert.

Warum ist das so, obwohl die Gesetze ein­deutig sind? Der Hauptgrund liegt heute weniger darin, dass Frauen für gleiche Arbeit weniger Stundenlohn bekommen als Männer, sondern an den unterschiedlichen Bedingungen, in denen Frauen leben. Sie arbeiten häufiger als Teilzeitbeschäftigte, nicht das ganze Jahr über und erleben durch die Kinderkarenzzeiten öfter Arbeitsunter­brechungen als Männer. Außerdem gibt es Unterschiede in der Qualifikations- und Altersstruktur. Dennoch bleibt ein unerklär­ter Rest zugunsten der Männer.

Die Unterschiede bei den Einkommen set­zen sich bei den Pensionen fort: 2017 bezo­gen Frauen (incl. Beamtinnen) eine mittlere Brutto-Pension von 16.018 Euro, Männer erhielten 26.669 Euro. Damit lag die Pension der Männer im Mittel um zwei Drittel (66,5 Prozent) höher als bei Frauen.

Höhe der Vermögen – gut gehütetes Geheimnis

Während die Ungleichheit der Einkommen ziemlich gut belegt ist, gibt es in Österreich über die Höhe und die Ungleichheit der Ver­mögen erst seit dem Jahr 2010 einigerma­ßen valide Daten. Bis dahin war das persön­liche Vermögen ein gut gehütetes Geheim­nis. Erst seit 2010 müssen in allen Ländern der EU Statistiken über Vermögenswerte erhoben werden. Dabei handelt es sich um Geld-, Immobilienvermögen und die Beteili­gung an Betrieben. In Österreich führt die Nationalbank die Auswertungen durch und publiziert die Ergebnisse. Ein Wermutstrop­fen: Leider gibt es gerade über die reichsten Haushalte immer noch keine stichhaltigen Informationen, da die Daten auf freiwilligen Auskünften beruhen und sich die reichste Gruppe besonders zurückhaltend zeigt. Durch raffinierte statistische Tricks wird allerdings sichergestellt, dass falsche Anga­ben weitgehend vermieden werden.

Wie sehen die Ergebnisse aus? Alle drei Befragungen aus 2010, 2014 und 20174 stim­men überein: Das reichste Prozent der Haushalte verfügt über beinahe ein Viertel aller Vermögenswerte, während die ärmere Hälfte (!) der Bevölkerung insgesamt nur auf rund 4 Prozent (ein Fünfundzwanzigs­tel) kommt.

Die Klassen kehren wieder

Für MarxistInnen interessant ist, dass die Bevölkerung in der Studie in Klassen einge­teilt wird, allerdings etwas anders als bei Marx. Er hat Klassen danach charakteri­siert, wie sie an der Erzeugung und Vertei­lung des Reichtums einer Gesellschaft teil­nehmen. Am Ende seines Hauptwerks »Das Kapital« heißt es: »Die Eigentümer von blo­ßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapi­tal und die Grundeigentümer, deren res­pektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbei­ter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft.«5 Die EU-Erhe­bung geht dagegen empirisch vor und sieht sich die Höhe und Art des Vermögens der Haushalte an. Nach der Höhe und Art des Vermögens unterscheidet sie ebenfalls drei Klassen, die jedoch anders definiert wer­den: Die Klasse der »MieterInnen« (renters) hat nur geringes Geldvermögen und wohnt zur Miete. Die Klasse der »BesitzerInnen« (owners) hingegen bewohnt eine eigene Immobilie, also eine Eigentumswohnung oder ein Haus. Die dritte Klasse heißt wie bei Marx »KapitalistInnen« (capitalists). Sie wohnen im Eigentum, vermieten aber zusätzlich ihre Immobilien und/oder erzeugen Einkommen aus Anteilen an einem Betrieb.

Im internationalen Vergleich fällt auf, dass der Anteil an MieterInnen in Deutschland und Österreich mit mehr als 50 Prozent besonders hoch ist.6 In den Niederlanden beträgt er ca. 40 Pro­zent, in Spanien, Ungarn und der Slowa­kei nur 15 bis 20 Prozent. In diesen Län­dern wird weniger gemietet, sondern (oft auch kreditfinanziert) gekauft.

Die Studie zeigt deutlich, dass vor allem die »MieterInnen«, die etwas mehr als die Hälfte aller Haushalte ausmachen, über kein oder nur ein sehr geringes Vermögen verfügen, während die »BesitzerInnen«, ca. 40 Prozent der Haushalte, überwiegend aus der reicheren Hälfte der Haushalte kom­men. Die reichste Klasse, die KapitalistIn­nen, besteht aus weniger als 10 Prozent aller Haushalte. Die Autoren der National­bankstudie weisen immer wieder darauf hin, dass für die reichsten Haushalte zu wenige Daten vorliegen und dass die ange­führten Werte den tatsächlichen Reichtum der Vermögendsten unterschätzen würden.

Frauen auch beim Vermögen benachteiligt

Es dauerte bis zum Jahr 2017, bis in Öster­reich die Vermögen von Frauen und Män­nern untersucht wurden. Wohl wurden Analysen der Lohn- bzw. Einkommensun­terschiede publiziert, die Vermögensunter­schiede zwischen den Geschlechtern stan­den jedoch bisher nicht im Zentrum der Betrachtung. Dabei ist gerade Vermögen ein wesentlich umfassenderes Maß für den Wohlstand eines Individuums. Diese Studie, veröffentlicht von der Arbeiterkammer Wien7, zeigt, wie ungleich das Nettovermö­gen von Paarhaushalten verteilt ist. Frauen haben im Durchschnitt ein um 58.417 Euro geringeres Vermögen als ihre Partner, was 28 Prozent des gemeinsamen Haushaltsver­mögens ausmacht. Interessant ist, dass die Vermögensunterschiede im gemeinsamen Haushalt im reichsten Prozent am größten sind. Frauen verfügen dort nur über ein Viertel des gesamten Vermögens, während die Vermögensverteilung bei den ärmeren Haushalten in etwa ausgeglichen ist.

Die Studien legen nahe, dass vermehrte Anstrengungen auf der politischen Ebene nötig sind, die großen Unterschiede bei Einkommen-, vor allem aber beim Vermö­gen abzubauen. Noch besser wäre es, auf die Klassen zu verzichten.

1Die reichsten zehn Prozent

2http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_ gesellschaft/soziales/personen-einkommen/jaehrliche_per­sonen_einkommen/index.html

3Am oben angegeben Ort

4Pirmin Fessler, Peter Lindner, Martin Schürz (2019): Eurosys­tem Household Finance and Consumption Survey 2017. First results for Austria. Österreichische Nationalbank, Wien.

https://www.hfcs.at/dam/jcr:6c798d62-f16a-4fc7-8555-9df9042fc836/hfcs-2017-austria-first-results.pdf

5http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_892.htm;

6Pirmin Fessler, Martin Schürz (2018): The functions of wealth: renters, owners and capitalists across Europe and the United States. ÖNB, working paper 223.https://www.oenb.at/ Publikationen/Volkswirtschaft/Working-Papers/2018/working-paper-223.html, S. 12.

7 Julia Groiß, Alyssa Schneebaum und Barbara Schuster (2017): Vermögensunterschiede nach Geschlecht in Österreich und Deutschland: Eine Analyse auf Personenebene. AK Wien. https://www.wu.ac.at/ineq/forschung/einkommen-und-ver­moegen/vermoegensunterschiede-nach-geschlecht-in-oes­terreich-und-deutschland/ ­­­­

Der Politikwissenschafter DARIO AZZELLINI hat meh­rere Bücher über die politischen Entwicklungen in Venezuela veröffentlicht. Schwerpunkt seiner For­schung sind Prozesse sozialer Transformation. Er ist Gründungsmitglied des 2011 gegründeten Internetar­chivs workerscontrol.net, das Texte zum Thema Arbei­terInnenselbstverwaltung sammelt. Für die Volks­stimme hat RAINER HACKAUF mit Azzellini über die aktuelle Lage in Venezuela gesprochen.

Der Putschversuch gegen den amtieren­den Präsidenten Nicolás Maduro scheint ins Stocken geraten. Ein falscher Ein­druck?

DARIO AZZELLINI: Der Putschversuch ist völlig gescheitert. Es gab weder die viel­leicht erhofften, massenhaften Desertionen aus dem Militär, noch gab es einen erhoff­ten Volksaufstand. Von »der« rechten Opposition zu reden, ist jedoch falsch, da die Opposition selber gespalten ist. Juan Guiado hat nicht einmal die Unterstützung des maßgeblichen Teils des Oppositionsla­gers, sondern wird auch hier scharf kriti­siert. Aus diesen Gründen setzt Guiado nun vollständig auf internationale Unterstüt­zung. Militärisch setzt er auf die Provoka­tion durch die USA, politisch setzt er auf die EU. Die EU macht sich zum willfährigen Helfer dieses Regierungssturzes. Und das gegen das geltende Völkerrecht, gegen fast alle internationalen Institutionen und gegen geltende diplomatische Praxis.

Wie sieht die Lage in Venezuela aktuell aus?

 

Venezuela2

DARIO AZZELLINI: Das internationale Engagement durch USA und EU hat dazu geführt, dass es zu einem Solidaritätseffekt in Venezuela gekommen ist. Das heißt, viele, die kritisch gegenüber Maduro einge­stellt sind, haben sich in den letzten Wochen dafür ausgesprochen, die Souverä­nität der aktuellen Regierung anzuerken­nen. Eine Einmischung von außen lehnen sie klar ab. Die Situation im Land selbst kann als angespannte Ruhe bezeichnet werden. Die meisten Menschen in Vene­zuela gehen ihren Alltagsgeschäften nach. Die Versorgungssituation schwankt immer wieder. Das hat stark mit der Blockade ­situation zu tun, aber auch den Beschlag­nahmungen von Kapital, womit es für die Regierung schwierig ist, Medikamente und Nahrungsmittel zu beschaffen.

Die USA machen aus ihren Interessen kaum Hehl. So sprach etwa der US-Sicherheitsberater John Bolton kürzlich in einem Interview von der anstrebens­werten »Übernahme des venezolani­schen Öls durch US-Firmen«. Warum engagiert sich die EU aber in dem Kon­flikt so stark?

DARIO AZZELLINI: Das ist eine gute Frage. Bei der USA ist es klar. Diese haben den Nahen- und Mittleren Osten als Ein­flussgebiet faktisch aufgegeben, dafür wol­len sie Lateinamerika und das Karibik-Becken wieder unter ihre Kontrolle brin­gen. All das, um ihre strategische Position zu behalten.

Was sich die EU erhofft, ist mir nicht ganz klar. Wobei man hier differenzieren muss. Die EU unterstützt die gemäßigten Positionen von Uruguay und Mexiko bei den internationalen Verhandlungen. Vor­geprescht sind die alten imperialen Kern­staaten Spanien, Frankreich, Großbritan­nien und Deutschland. Dabei zeigen die Erfahrungen aus dem Irak oder vergleich­baren Kriegssituationen doch eigentlich, es wird nichts abfallen. Die USA werden, so sie sich durchsetzen, keinen einzigen Krümel vom Kuchen an EU-Staaten abgeben.

Was aber noch viel schlimmer ist, wir bewegen uns weiter auf einen Dritten Welt­krieg zu. Das klingt jetzt sehr drastisch. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass wir aktuell vor einer völligen Neuord­nung der Welt stehen. China und Russland, die sehr große Investitionen in Venezuela gemacht haben, werden zudem nicht ein­fach hinnehmen, wenn die USA dort inter­venieren. Venezuela ist schließlich eines der rohstoffreichsten Länder der Welt. China und Russland werden als Ausgleich in anderen Ländern der Welt intervenieren. Wir bewegen uns also auf einen Multifron­ten-Weltkrieg zu.

Von internationalen UnterstützerInnen der Maduro-Regierung wird oft der Ver­gleich zu den Konflikten in Syrien und der Ukraine gezogen. Sind die Situatio­nen vergleichbar?

DARIO AZZELLINI: Das kommt auf die Ebene des Vergleichs an. Wenn es darum geht, dass letztendlich geostrategische Interessen im Mittelpunkt stehen und nicht humanitäre oder demokratische Werte, dann kann man die Situationen verglei­chen. Auf allen anderen Ebenen aber nicht. Es gibt in Venezuela – bis auf die paar von Kolumbien oder den USA aus finanzierten, paramilitärischen Grüppchen – keine bewaffneten Einheiten. Es gibt keinen bewaffneten Volksaufstand gegen die Regierung, nur kleinere terroristische Akte. Es gibt auch keinen Krieg der Regierung gegen die eigene Bevölkerung, wie in Syrien. Wir haben es in Venezuela mit einer ganz klassischen, imperialistischen US-Regime-Change-Politik gegen eine Regie­rung zu tun, die aber eigentlich internatio­nale Legitimität hat.

In Venezuela gibt es auch eine linke Opposition, die auch sehr kritisch gegen­über der Maduro-Regierung ist. Wie sind deren Positionen?

DARIO AZZELLINI: Hier gilt es zu diffe­renzieren. Der Großteil der Basisorganisa­tionen, der »Comunas«, der lokalen Selbst­verwaltungsstrukturen stecken ja tatsäch­lich in Konflikten mit der Regierung. Vor allem weil in den letzten Jahren die ver­schiedenen Formen der Partizipation immer mehr eingeschränkt wurden. Zugleich wenden sich diese Organisationen klar gegen Interventionen aus dem Aus­land. Einfach weil sie davon ausgehen, dass sie unter anderen Regierungen keine besse­ren Chancen haben, ihr Kämpfe voranzu­treiben.

Daneben gibt es ein paar Intellektuelle, die gerne im Ausland herumgereicht wer­den. Deren Aufrufe und Petitionen werden zwar im Ausland in Teilen der Linken dis­kutiert, sind aber in Venezuela faktisch unbedeutend. Auch die Forderung nach umfassenden Wahlen aller Institutionen aus dieser Ecke ist absurd. In einer Situa­tion der massiven Blockaden und Drohun­gen von außen an freie Wahlen zu glauben, hat mit der Realität wenig zu tun.

Dann gibt es noch einen weiteren Flügel der linken Opposition. Dieser besteht aus ehemaligen Chavistas und ist sehr kritisch gegenüber der Maduro-Regierung. Er setzt auf eine Art Volksabstimmung zur Bestäti­gung aller existierenden Institutionen und in Folge auf eine Regierung der nationalen Einheit. So soll einer Intervention von außen der Boden entzogen werden. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Linke und Rechte gleiche Interessen haben. Das halte ich für problematisch. Zudem sind solche linken Etappen-Experimente im 20. Jahr­hundert immer wieder gescheitert.

Stichwort »gelebter Internationalis­mus«, wie sollen sich Linke verhalten?

DARIO AZZELLINI: Es braucht eine klare Haltung von Linken im Ausland. Erstens ist der Konflikt eine interne Angelegenheit von Venezuela – jede Einmischung von außen muss unterbleiben. Das umfasst auch die Forderung von Linken in Europa nach Neuwahlen in Venezuela. Und zweitens, die wichtigste Forderung muss sich an die eige­nen Regierungen richten. Nämlich die Blo­ckadepolitik sowie die völkerrechtswidrige Anerkennung von Guidano sofort zu been­den.

Wie sähe eine interne Lösung des Kon­flikts aus?

DARIO AZZELLINI: Ab 2012 wurden in Venezuela massiv Betriebe besetzt mit der Forderung nach ArbeiterInnenkontrolle. Auch aktuell gibt es Kämpfe von Basisorga­nisationen, den »Comunas«, die staatliche Ländereien besetzen, um die Produktion voranzutreiben. Diese Kämpfe gegen die Regierung müssten ausgeweitet und ver­tieft werden, um eine Linke zu stärken. Eine Intervention von außen wird das Gegenteil bringen.

Politisiert hat sich Katerina im Athener Gymnasium. Die damalige Regierung hatte die geniale Idee, den Platzmangel an den Universitäten durch verschärfte Aufnahmsprüfungen zu lindern. Die Schüler Innen, schwer engagiert in Bildungsfragen, wehrten sich mit Schulbesetzungen. Katerina war mitten drin und dabei, sowohl in der Unter- als auch in der Oberstufe. An der Athener Universität organisierte sie sich für kurze Zeit in der kommunistischen Jugendorganisation, war da aber schon am Sprung nach Österreich. Hier belegte sie an der Wiener Uni Biologie. Jobte, verdiente ihr Geld als Kellnerin und Bademeisterin, Rezeptionistin, gab Englisch-Nachhilfe unterricht, arbeitete am Naturhistorischen Museum.

Politisch organisierte sie sich zunächst in der Sozialistischen Jugend Ottakring; verabschiedete sich aber nach kurzer Zeit von dort, als ihr der Umgang der SPÖ mit der Linken »am Oasch« ging; warf zunächst ein interessiertes Auge auf autonome Strömungen, engagierte sich dann aber mit ganzer Kraft in sozialen Bewegungen. 2012 näherte sie sich Syriza an, ohne Mitglied zu werden, und arbeitete in Solidaritätsinitiativen mit. 2013 begründete sie mit anderen AktivistInnen eine eigene transnationale Gruppe mit dem Namen »Precarity office«. Den Anstoß dazu gaben ihr die »Herrschenden der EU, die zu dieser Zeit dem Süden Europas technokratische Regierungen aufzwangen und das Leben der Bevölkerung rapide verschlechterten«.

Gegen diskriminierende Mythen

Sie knüpfte europaweite Kontakte und wirkte gemeinsam mit SpanierInnen, ItalienerInnen und anderen »gegen die diskriminierenden Mythen, die über den Süden Europas verbreitet wurden«. Bemühte sich um Gegenöffentlichkeit, wollte »durch die korrekte Darstellung der Situation in den Ländern des europäischen Südens in die österreichische Gesellschaft hineinwirken«. Organisierte Proteste, Informationsveranstaltungen, fühlte sich dabei »von Grünen und SPÖ immer alleine gelassen«.

Als dann die Erpressungspolitik gegen die Syriza-Regierung voll durchschlug, erlebte sie bei ihren Aufenthalten in Griechenland hautnah mit, was es heißt, »wenn eine ganze Gesellschaft und ihr Wille zur Veränderung durch das Diktat der neoliberalen Eliten auf die Knie gezwungen wird«; sie organisierte konkrete Hilfe für soziale Initiativen und Bewegungen in Griechenland, und zwar »voller Zorn«, wie sie sagt, »über die Brutalität, mit der Griechenland niedergedrückt wurde, um die Banken zu retten«. Ob sich der Zorn nicht mit Enttäuschung paarte? »Natürlich«, meint Katerina Anastasiou, »denn viele, wie ich, lebten bis Juli 2015 mit der Hoffnung, dass wir anhand des griechischen Beispiels ganz Europa verändern könnten. Dass die Kräfteverhältnisse in Europa nicht zu unseren Gunsten waren, wussten wir. Aber wir dachten, dass die Demokratie eine Schutzwand sein würde gegen die Austeritätspolitik. Als wir dann in dieser politischen Schockstarre waren, begann die Schließung der Grenze und die forcierte Militarisierung der EU«.

Für alle EuropäerInnen im Land

Katerina arbeitet seit 2015 im Wiener Büro von transform!europe, und heute ist sie die Spitzenkandidatin der EU-Wahlliste KPÖ PLUS – European Left – Offene Liste. Ihre Erfahrung und ihre Beziehung zum Süden Europas nimmt sie mit in den Wahlkampf. »Ich kandidiere für alle in Österreich Lebenden EuropäerInnen«, betont sie, das heißt auch »für jene 700.000 EU-BürgerInnen, die oft gar nicht wissen, dass sie wahlberechtigt sind«. Darum will sie auch diese Menschen ansprechen und sie zur Beteiligung an der Wahl motivieren. »Die schwarz/blaue Regierung hat auch die ArbeiterInnen, die aus verschiedenen Staaten der EU kommen und hier leben, zur Zielscheibe ihrer Spaltungspolitik gemacht. Sie ist sogar bereit, bestehende EU-weite Regelungen zu brechen, z. B. mit dem Gesetz der sogenannten Familienindexierung. Menschen, die aus ärmeren EU-Staaten kommen, hier arbeiten und dieselben Steuern und Abgaben zahlen, sollen weniger Familienbeihilfe für ihre im Herkunftsstaat verbliebenen Kinder bekommen, jene aus reicheren EU-Staaten dagegen mehr – obwohl, ich sage es noch einmal, die einen und die anderen EU-BürgerInnen dieselben Beiträge in den österreichischen Steuertopf einbringen. Auch darum will ich mitsamt den Freunden und Freundinnen, die mit mir kandidieren, eine Stimme sein für die Interessen aller in Österreich lebenden Menschen«.

Es sind die Kräfteverhältnisse

Den Rechtsextremen werden beim kommenden EU-Wahlgang Gewinne prognostiziert, den Konservativen und den SozialdemokratInnen dagegen Verluste. Anastasiou schreibt das vor allem auf das Konto der neoliberalen Kürzungspolitik, »die viele Menschen wütend macht, in die Armut und die soziale Isolation treibt. Rassismus war zwar immer da, mit Hilfe nicht nur der Rechten wird er jetzt normalisiert. So wie bisher kann es nicht weiter gehen. Schwarz-Blau auf europäischer Ebene muss verhindert werden«.

Und die Linksparteien, die bunte Fraktion der Linken im EU-Parlament, in der auch das Parteienbündnis European Left vertreten ist? »Die GUE/NGL wird ihre Mandate wohl halten und ein wenig dazugewinnen, aber insgesamt ist auf der Linken noch Einiges aufzulösen. Ich tausche mich sowohl innerhalb und mit der Europäischen Linken aus als auch mit Zusammenschlüssen wie Diem25. Ich bin entschieden für Zusammenarbeit der Linken auf europäischer Ebene; die Politik der Linken muss ebenso internationalistisch und europäisch-integrativ sein, wie es die internationale Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Umweltproblemen ist. Wir dürfen Europa weder den Neoliberalen noch den Rechtskonservativen und Rechtsextremen überlassen«. Auch unter Linken gibt es Stimmen, sich auf den nationalen Rahmen zurückzuziehen; die EU sei nicht reformierbar, wer holt uns da raus usw. Katerina Anastasiou dazu: »Dass es in der EU so aussieht wie es aussieht, liegt an den Kräfteverhältnissen der nationalen AkteurInnen auf europapolitischer Ebene. Und genau dieses Kräfteverhältnis wollen wir, die Linke Europas, ändern. Darum trete ich an«. Und Punkt.

Facebook, letztes Septemberwochenende 2018, eine Nachricht poppt auf: »Schaut mal, in Wien wird am Donnerstag demonstriert, das müssen wir in Kärnten auch machen.« Innerhalb weniger Minuten fanden sich eine Handvoll engagierter Menschen und nur ein paar Tage später, am 4. Oktober 2018, gingen nicht nur in Wien, sondern auch in Klagenfurt die Menschen auf die Straße. Seither treffen sich jeden ersten Donnerstag im Monat unterschiedlichste Menschen, mit verschiedens­ten sozialen und politischen Hintergründen und Zuge­hörigkeiten beim Wörtherseemandl. Mit Ausnahme der Kärntner KPÖ, deren Landessprecherin Bettina Pirker vom ersten Tag an ehrenamtlich an der Organisation mitarbeitet, bekennt sich in Kärnten keine politische Partei zu den Donnerstagsdemos, obwohl sich unter den OrganisatorInnen, RednerInnen und TeilnehmerInnen regelmäßig einige ihrer Mitglieder finden, die sich soli­darisch zeigen und sich auch öffentlich zu Wort melden. Viele Menschen, die an den Donnerstagsdemos in Kärn­ten teilnehmen, fühlen sich keiner bestimmten politi­schen Richtung zugehörig. Ebenso viele waren zuvor noch nie in ihrem Leben auf einer Demo. Sie alle wer­den jetzt aktiv, weil sie aktuelle Entwicklungen nicht mittragen wollen.

VON BARBARA HUBER

Schweigen macht uns zu MittäterInnen

 

Auftakt

Maximilian Fritz, Referent für Pfarrgemein­den der Diözese Gurk, war vom ersten Tag an als Teilnehmer dabei. Am 6. Dezember, Nikolaustag, hielt er auf der Donnerstags­demo in Klagenfurt eine Rede über das Tei­len und die Spaltung der Gesellschaft. »ChristInnen können nicht schweigen, wenn die Regierung versucht, die Gesell­schaft zu spalten und Menschen gegen ­einander auszuspielen. ChristInnen können nicht schweigen, wenn wieder Sündenböcke gesucht werden, wenn ›Wir gegen Sie‹, gegen ›die Anderen‹, Programm wird, wenn Hass und Zwiespalt politisch salonfähig werden. Wenn rechte Rülpser regelmäßig relativiert werden und wenn ein Kanzler zu alldem schweigt, dann müssen wir spre­chen.«

Nicht schweigen will auch der Journalist und Liedermacher Georg Maurer. Vor fünf Tagen ist sein jüngstes Enkelkind auf die Welt gekommen und er möchte ihm einmal sagen können, dass er sich gemeinsam mit einigen MitstreiterInnen dafür eingesetzt hat, ein menschliches Gesellschaftssystem zu sichern, Umweltschäden zu reduzieren und nicht auf Kosten von hungernden Men­schen im Luxus zu leben. Maurer geht es darum »gegen die unmenschliche Denke neuer und alter Nazis, aber auch der öster­reichischen Bundesregierung auf die Barri­kaden zu steigen.« Besonders unerträglich ist für ihn »der Umgang mit Flüchtlingen und mit all jenen, die am Rand unserer Gesellschaft stehen.« Nicht akzeptieren will er »die Spaltung unserer Gesellschaft, die offensichtlich nur dem Innenminister Freude bereitet und die Verunsicherung weiter Kreise unserer Mitmenschen, aus denen FPÖ und ÖVP Kapital schlagen wol­len, sowie die Verlogenheit der höchsten Regierungskreise.« Gemeinsam »gegen Ras­sismus, Faschismus, Sozialabbau, Umwelt­zerstörung und die Spaltung unserer Gesellschaft« aufzustehen und »Nein!« zu sagen, ist seiner Ansicht nach »nicht links­radikal, es ist menschlich, demokratisch und notwendig, denn Schweigen macht uns zu Mittätern!« Zweimal schon hat Maurer die Kärntner Donnerstagsdemos musika­lisch mit seinen durchwegs gesellschafts­kritischen Liedern begleitet.

Musikalische Beiträge zu den Kärntner Donnerstagsdemos leistet auch der Inklusi­onsbegleiter und Musiker Baback Soley­mani. Er kam selbst als Flüchtling nach Österreich und arbeitet jetzt in der Flücht­lingshilfe. Im Jahr 2018 gründete er gemeinsam mit Kollegen die SOLBAND, die immer wieder ehrenamtlich für gemein­nützige Aktionen auftritt. »Wir möchten heute gerne die Menschen unterstützen, die uns damals unterstützt haben, als wir Flüchtlinge waren.« Extra für die Donners­tagsdemos übte die Band das bei den Demonstrierenden beliebte Partisanenlied »Bella Ciao« ein.

Menschenrechte und Demokratie verteidigen

Ein weiterer Unterstützer der Kärntner Donnerstagsdemo ist Soziologe Ghulam Mohsenzada. Er beschreibt den »aktuellen Rechtsruck in Europa und auch in Öster­reich als eine ernste Gefahr für die Demo­kratie und Menschenrechte.« Die rechtspo­sitionierte Bundesregierung schüre Hass auf Minderheiten und sei gerade dabei »die sozialen Errungenschaften zu Gunsten der Konzerne und Superreichen abzubauen und dadurch die Menschen ihrer Zukunft zu berauben.« Widerstand zu leisten und auf­zustehen »gegen die unsozialen Maßnah­men dieser Regierung« ist für ihn der ein­zige Weg. Auch Markus Ertel, Grüner Gemeinderat in Magdalensberg und Regio­nalsprecher der Grünen Wirtschaft und seit Dezember Mitglied im Organisationsteam der Kärntner Donnerstagsdemos, sieht eine große Gefahr im Rechtsruck und den damit verbundenen Angriffen auf den Rechtsstaat. »Besonders sticht jetzt Herbert Kickl mit seinen untragbaren Aussagen zur Europäi­schen Menschenrechtskonvention und dem Befund, dass das Recht der Politik folgen müsse, hervor. Die Europäische Menschen­rechtskonvention schützt uns vor Politi­kern wie Innenminister Kickl.« Kritik übt Ertel auch an der Haltung der ÖVP, da diese sich schützend vor den Innenminister stelle, indem sie gemeinsam mit der FPÖ den Misstrauensantrag gegen Kickl im Nationalrat abgelehnt habe. »Aus diesem Grund ist es gerade jetzt notwendig, Hal­tung zu zeigen, unsere gemeinsamen Werte wie die Menschenrechte und die Demokra­tie zu verteidigen und gegen diese rechte Regierung entschieden aufzutreten.«

Dieser Ansicht ist auch die Sozialarbeite­rin Barbara Albinger, die gemeinsam mit ihrem Mann bei allen Kärntner Donners­tagsdemos dabei ist. Obwohl sie nicht links sei, zählt sie sich zu den »so beschimpften Gutmenschen«, denn sie ist wütend darü­ber, »wie Menschen, die vor Krieg, Verfol­gung und Hunger zu uns fliehen, politisch missbraucht werden, um Ängste zu schüren und rechte Wählerschichten anzuspre­chen.« Seit der Regierungsbildung von Liste Kurz und FPÖ verschlimmere sich die Situa­tion in Österreich täglich. »Der Sozialstaat wird demoliert, Arbeitnehmerrechte ausge­hebelt, soziale Randschichten werden ver­höhnt und die Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt. Ja, ich bin eine besorgte Bürgerin – diese Regierung macht mir Angst. Darum gehe ich auf die Straße, denn ein kluger Mensch hat mal gesagt: Wer in der Demo­kratie schläft, wird in der Diktatur erwa­chen.«

Gegen die Verrohung der Sprache und deren grauenhafte Folgewirkungen

Woertherseemandl

»Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.« Diese Aussage des österreichischen Regierungsmitglieds und nunmehrigen Bundeskanzlers Sebastian Kurz im Jänner 2016 zur Frage über den Umgang mit nach Europa kommenden Menschen in Not ist für die Multimedia-Künstlerin und Kultur­arbeiterin Barbara Ambrusch-Rapp »der absolute Wahnsinn«. Solche Sätze dienen dazu, die Anwendung von Gewalt gegen Menschen zu legitimieren. Wenn sich Kurz damit brüste, dass »wir« die Balkanroute geschlossen hätten, »verschweigt er bewusst, wie viele Erwachsene und Kinder durch diesbezügliche Maßnahmen grob misshandelt wurden oder – viel schlimmer noch – zu Tode gekommen sind. Und das geschieht auch jetzt noch laufend im Mit­telmeer, auf Landwegen und in vermeint­lich sicheren Flüchtlingslagern, beispiels­weise in Libyen aber auch in Europa.« Viele Aussagen von Mitgliedern der aktuellen Bundesregierung erinnern Ambrusch-Rapp »an ehemalige Hassreden aus dem vorigen Jahrhundert, deren fatale Wirkung auf die Bürgerinnen und Bürger bekannt ist und die mittlerweile wieder zu spüren ist: Der in Worten zum Ausdruck gebrachte Hass gegenüber bestimmten Menschengruppen wird auf social media und in der öffentli­chen Realität zunehmend offen ausgespro­chen, erste Taten folgen bereits.« Beson­ders die Formulierungen von Herbert Kickl, der »Asylwerbende konzentriert an einem Ort« halten oder das »Abendland in Christen­hand« sehen möchte, zeigen das dahinterste­hende Gedankengut und führen zu einer »Ver­rohung der Sprache«, die letztendlich für die ganze Gesellschaft fatale Folgewirkungen hat. Die Künstlerin hat diesem Thema eine eigene Performance gewidmet, die sie auch schon im Rahmen einer Donnerstagsdemo, mitten auf einer blockierten Kreuzung, in Klagenfurt auf­geführt hat.

Reflexion und Systemkritik

Julia von Hut, Klimaaktivistin aus der österrei­chischen Transition-Bewegung, versteht die österreichweiten Donnerstagsdemos als Ort des politischen Diskurses. Sie beobachtet eine Politikverdrossenheit, die oft jenen, die sich dennoch engagieren, »den letzten Funken Hoffnung rauben«. Sie ist seit zwei Monaten im Organisationsteam und sie will mit den Donnerstagsdemos »Menschen dazu ermuti­gen, ihre politische Meinung kundzutun und sich mit anderen darüber auszutauschen«. Sie ist sich sicher, dass viele Menschen bereits die Auswirkungen der Fehltritte der aktuellen Bundesregierung zu spüren bekommen und sie möchte, »dass diese Auswirkungen der Ausgangspunkt für einen kollektiven Reflexi­onsprozess sind.« Ihr persönlicher Grund bei den Donnerstagsdemos mitzumachen ist »die Kritik am gesamtgesellschaftlichen, kapitalis­tischen System und die sich zuspitzende Kli­makrise« sowie die mangelnden Ambitionen der Bundesregierung daran etwas zu ändern.

Auswirkungen dieser mangelnden Ambitio­nen und des Fehlverhaltens der Bundesregie­rung beobachtet auch Hannah Tomasi vom ÖH Referat für Frauen* und Gleichbehandlungs­fragen Klagenfurt. Besonderen Handlungsbe­darf sieht sie im frauenpolitischen Bereich. »Es gibt unbegründete Kürzungen, die nicht vertretbar sind. Trotz zahlreicher Belege der Nutzen von Frauen*organisationen, Gewalt­schutzzentren, Männer*zentren, werden die Gelder partiell gestrichen, was dazu führt, dass viele Menschen tendenziell mehr Gewalt und Diskriminierungen ausgesetzt sein wer­den, sich keinen Schutz mehr suchen kön­nen.« Deshalb und weil sie – wie alle anderen TeilnehmerInnen – ihre Unzufriedenheit mit der schwarz-blauen Regierung kundtun und für eine solidarische Gesellschaft eintreten will, ist sie bei jeder Donnerstagsdemo in Kärnten dabei.

Kontakt und Infos zu den Kärntner Donnerstagsdemos:

www.facebook.com/ DonnerstagK

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Überlegungen einer Kursleiterin, die in der IG DaZDaF­Basisbildung aktiv ist. Als Verfasserin bleibt sie hier lie­ber anonym, da ihre Kolleg*innen sich gerade für eine ÖIF-Zertifizierung entschieden haben – und der ÖIF hat sich bisher kritischen Stimmen gegenüber wenig offen gezeigt.

Rückblende

Es ist Juni 2017, die SPÖ-ÖVP-Koalition ist am Ende, die Diskussionen im Natio­nalrat scheinen chaotisch. Ich verfolge den Live-Ticker zur Sitzung des Nationalrats, da für diesen Tag eine Entscheidung über das Integrationsgesetz ansteht. Die Diskussion dazu muss ich wohl verpasst haben – am nächsten Morgen entdecke ich jedoch mit einer Mischung aus Wut und Resignation, dass das Integrationsgesetz in Kraft treten wird. Für Drittstaatsangehörige bedeutet dies, dass ihr Aufenthalt in Zukunft nur noch verlängert wird, wenn sie Nachweise über die erfolgreich abgelegte Integrations­prüfung vorlegen können. Dass Aufent­haltstitel und »gelungene Integration« an den Nachweis von Sprachkenntnissen gekoppelt werden, ist leider weder in Österreich noch sonst wo in der EU etwas Neues. Neu in Österreich ist, dass nun neben Sprachkenntnissen ein weiterer Prü­fungsteil »Werte und Orientierungswissen« abfragt wird.

Warum mich das betrifft?

Zunächst einmal betrifft die Frage, wie mit Menschen umgegangen wird, die – aus wel­chen Gründen auch immer – nach Öster­reich/Europa kommen, uns alle. Aber das ist ein anderes Thema, es soll hier spezi­fisch darum gehen, was die neue Gesetzge­bung für diejenigen bedeutet, die in der Erwachsenenbildung arbeiten.

Ich bin bereits seit einigen Jahren Kurs­leiterin in der Basisbildung, ich lerne gemeinsam mit Gruppen von acht bis zehn Frauen (Migrantinnen, geflüchtete Frauen) und orientiere mich dabei an den Prinzi­pien und Richtlinien für die Basisbildung der Initiative Erwachsenenbildung. Die Basisbildung folgt unter anderem Positio­nen der kritischen Pädagogik, der Migrati­onspädagogik und der postkolonialen Theorien. Dabei steht die Handlungsfähig­keit der Lernenden im Mittelpunkt. Lernen und Lehren geschehen im Prozess, im Dia­log mit den Lernenden. Basisbildung ver­steht Lernen als dialogisch und wechselsei­tig. Basisbildung ist wissenskritisch. Basis­bildung fördert die Autonomie von Lernen­den als Akteur*innen ihrer Lernprozesse und setzt daher nicht voraus, dass Teilneh­mer*innen nach einer bestimmten Zeit im Kurs eine Prüfung absolvieren müssen.

Basisbildung ist noch einiges andere mehr und natürlich nicht frei von Wider­sprüchen – Hierarchien, Paternalismus und prekäre Arbeitsbedingungen durch nicht ausreichende Fördergelder gibt es auch hier.

Dennoch steht die Basisbildung für eine Art Gegenentwurf zu dem, was nun in Folge des neuen Integrationsgesetzes durch den Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) implementiert wird: Teaching to the test, nur abprüfbares Wissen zählt, Ziel von Kur­sen ist das rasche Absolvieren einer Prü­fung, »Lernen« ist hier gleichgesetzt mit der Fähigkeit, ein Kreuzchen bei den richti­gen, vorher auswendig gelernten Antwor­ten zu machen. Und wer richtig ankreuzt, ist »integriert«???

Was hier passiert, ist nicht vereinbar mit den Erfahrungen, die ich und andere Kol­leg*innen in unserer Arbeit gemacht haben. Es widerspricht den genannten Prinzipien und Richtlinien der Basisbildung. Es wider­spricht ebenso aktuellen Theorien und For­schungen aus dem Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/DaZ) wie auch fundierten Grundsätzen der Politi­schen Bildung. Kritische Stimmen aus der Forschung und aus der Praxis wurden bereits lange vor der Entscheidung im Nationalrat eingebracht, vielstimmig, über Jahre, in Form von Stellungnahmen und Protesten – das Integrationsgesetz wurde dennoch verabschiedet. Denn all das geschieht in einem politischen Kontext, in dem ständig neue Maßnahmen gefordert werden, die den Druck auf Migrant*innen und Geflüchtete verschärfen: Strafen für diejenigen, die die Integrationsprüfungen nicht fristgerecht absolvieren, Kürzung von Sozialleistungen, »Asyl auf Zeit« und ver­mehrte Abschiebungen (nach Vorstellung von Innenminister Kickl gerne auch in »gewisse sichere Gebiete« Syriens). Das Integrationsgesetz ist Teil einer Politik, die auf Nationalismus und Populismus setzt, die Angst schürt und die das Thema »Inte­gration« nutzt, um zu polarisieren – und so das Feld der Bildungsarbeit und Beratung von/für/mit Migrant*innen und Geflüchte­ten massiv vereinnahmt und kontrolliert.

Viele private, profitorientierte Sprach­schulen haben die neuen Prüfungsformate sofort angeboten – ein neues Produkt im Sortiment, das sich auf Grund der hohen Nachfrage gut verkauft. Vereine, Bera­tungsstellen und NGOs, die im Feld arbei­ten, müssen sich früher oder später positio­nieren. Klar ist, dass für sehr viele Kursteil­nehmer*innen ein positiver Prüfungsab­schluss entscheidend ist. Klar ist auch, dass die Zusammenarbeit mit dem ÖIF Vorteile und Sicherheit bedeutet – denn der ÖIF ist durch das neue Integrationsgesetz zum großen Player geworden. Es ist zu erwar­ten, dass Projekte in Zukunft zunehmend (wenn nicht ausschließlich) über den ÖIF finanziert werden. Aber wer mit dem ÖIF zusammenarbeitet, wird auch die Bedin­gungen des ÖIF akzeptieren müssen. Und das bedeutet: Deutschkurse haben das Ziel, die Teilnehmer*innen auf die Integrations­prüfung vorzubereiten. Punkt. Da bleibt kein Raum mehr für Wechselseitigkeit, für Austausch und Dialog, für gemeinsames Lernen, für Autonomie, für Reflexion, für kritische, politische Bildungsarbeit. Wer sich die Prüfungsformate und Unterrichtsma­terialien des ÖIF anschaut, wird feststellen, dass all das auch gar nicht vorgesehen ist.

Der Druck auf alle – Kursleiter*innen, Bera­ter*innen, Projektleitungen und Teilnehmer* innen – ist immens. Immer mehr entschlie­ßen sich doch dazu, sich vom ÖIF zertifizie­ren zu lassen und die neuen Prüfungsfor­mate anzubieten. Von vielen Kolleg*innen höre ich den Satz »Ich bin ja auch gegen das alles, aber ...« gefolgt von dem Argument, dass es darum gehe, die Teilnehmer*innen möglichst gut zu unterstützen oder auch die Arbeitsplätze der Kolleg*innen in Zukunft sichern zu können. Beides ist auch mir wich­tig, aber ich frage mich: Welchen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen? Wer die Integra­tionsprüfung anbietet, trägt diese Politik mit – wenn auch unter Protest. Solange es noch Projekte gibt, die nicht über den ÖIF finan­ziert und kontrolliert werden, gibt es die Möglichkeit (und auch die Verantwortung), als Kursinstitut, Verein oder NGO bewusst Position zu beziehen. Wenn Widerstand und Proteste aus der Praxis, aus den Kursen, von Kursleiter*innen und Berater*innen laut, zahlreich, kollektiv, solidarisch und ent­schlossen gewesen wären, dann hätten wir dieses Gesetz vielleicht noch verhindern können. Und selbst jetzt könnten wir noch ein Zeichen setzten, wenn wir uns zusam­menschließen und diese Prüfung gemeinsam nicht anbieten. Natürlich müssen viele unse­rer Teilnehmer*innen die Prüfung ablegen – aber Prüfungen können schließlich auch unabhängig vom Kurs extern gemacht wer­den. Es schließt sich nicht gegenseitig aus, ein Zeichen zu setzen und die Teilnehmer*innen dennoch zu unterstützen. Beides scheint mir gleichermaßen wichtig und notwendig.

Vor ein paar Wochen habe ich bei einem Besuch im Haus der Geschichte eine Karte mit einem Zitat gezogen, das seitdem mein Nach­denken über die Frage der Positionierung begleitet. Es ist von Ruth Klüger und lautet: »Wo liegen die Grenzen der Feigheit, die man sich zumutet?« Ich würde mir wünschen, dass wir uns da, wo wir unter den gegebenen Bedingungen die Möglichkeit haben, etwas weniger Feigheit zumuten.

Für weitere Infos siehe: igdazdafbasisbildung.noblogs.org

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Die »Lex-Schüssel«: Im Jahr 2007 wurden durch die Einführung des Hausbetreu­ungsgesetzes und der Änderung der Gewer­beordnung die Grundlagen für die Legali­sierung der 24-Stunden-Betreuung geschaf­fen. Auslöser war der mediale Skandal um die »illegale Pflegerin« im elterlichen Haus­halt des damaligen Bundeskanzlers Wolf­gang Schüssel.

Der/die 24-Stunden-BetreuerIn zwischen Professionalität und Laientum

24-Stunden-BetreuerInnen wohnen wäh­rend ihres Turnus in den Häuslichkeiten ihrer KundInnen und leben deren Alltag mit. Im Idealfall wird ihnen ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestellt, im worst case verbringen sie die Nacht auf der Wohnzimmercouch oder auf Klappbetten neben den Betten ihrer KundInnen. Sie ste­hen tatsächliche 24 Stunden täglich unter dem Erwartungsdruck, ihre Tätigkeit mit der Aufopferung und Hingabe eines Famili­enmitgliedes zu verrichten. Die Möglichkei­ten des Rückzugs und der Distanzierung sind begrenzt, die ständige Verfügbarkeit gilt als berufliche und menschliche Selbst­verständlichkeit. Wenngleich die Tätigkeit der 24-Stunden-Betreuung offiziell als »Lai­entätigkeit« gilt und hierfür keinerlei Aus­bildungserfordernisse bestehen, wird von BetreuerInnen oftmals gefordert, komplexe Betreuungssituationen qualitativ auf dem Niveau eines/einer diplomierten Gesund­heits- und KrankenpflegerIn zu meistern. Das führt dazu, dass BetreuerInnen im Arbeitsalltag oft überfordert sind, ihnen pflegerische Fehler unterlaufen oder sie psychisch an ihre Grenzen stoßen. 24-Stun­den-BetreuerInnen sind de facto jedoch weder Familienmitglieder oder »Laien« noch professionelle »Diplomierte«, sondern ein eigener Berufsstand im Sozialbereich, welcher dringend einer umfassenden Pro­fessionalisierung und genauen arbeits­rechtlichen Regulierung bedarf. Nur so kann ein ausreichender Schutz aller betei­ligten Personen gewährleistet werden.

In Abhängigkeit der Vermittlungsagenturen

Derzeit existieren in Österreich knapp 800 Vermittlungsagenturen, deren Aufgabe es ist, Betreuungspersonal im Ausland zu organisieren und dieses an österreichische Haushalte zu vermitteln. Hierfür werden sowohl den betreuungsbedürftigen KundIn­nen als auch den 24-Stunden-BetreuerIn­nen Provisionen in Rechnung gestellt. Im Idealfall übernimmt die Vermittlungsagen­tur alle bürokratischen Angelegenheiten für den/die BetreuerIn und fungiert als Ansprechperson für sämtliche Fragen und Anliegen, in realiter befinden sich Betreue­rInnen jedoch oft in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zur Vermittlungs­agentur und versprochene Unterstützungs­leistungen bleiben aus. Aus der gewerbe­rechtlichen Selbstständigkeit wird eine Scheinselbstständigkeit: Details zur Tätig­keitsverrichtung werden vorgegeben, BetreuerInnen werden zur Nutzung des hauseigenen Taxidienstes zu überteuerten Preisen verpflichtet und Vorschriften zur Pausengestaltung und Vertretungsmodali­täten werden gemacht. Im Gegenzug wird von unkorrekt durchgeführten Ab- und Anmeldungen zur Sozialversicherung, feh­lender telefonischer Erreichbarkeit in Not­fällen und mangelnder Unterstützung bei ausartenden Konflikten in den vermittelten Haushalten berichtet – stets unter der Berufung auf die (gewerberechtliche) »Selbstständigkeit« der BetreuerInnen und der damit einhergehenden »Unzuständig­keit« der Vermittlungsagenturen.

Medial und politisch wird das System der 24-Stunden-Betreuung bereits seit lan­ger Zeit kritisiert, verändert hat sich bis dato jedoch nichts. Nur wenige Betreue­rInnen hatten bisher den Mut, mit konkre­ten Missständen an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Angst vor rechtlichen Konse­quenzen ist groß, das Geld für anwaltliche Vertretung knapp. Was bleibt ist das Ver­harren in prekären Arbeitsverhältnissen unter der Herrschaft der Vermittlungs­agenturen.

Nicht jedes Kind ist gleich viel wert – die Indexierung der Familienbeihilfe

Im Oktober wurde im Nationalrat die gesetzliche Grundlage für die Indexierung der Familienbeihilfe im EU- und EWR-Aus­land beschlossen, wonach sich ab 2019 die Höhe der ausbezahlten Familienbeihilfe nach der Kaufkraft im jeweiligen Land richtet. Betroffen sein werden davon knapp 125.000 osteuropäische Kinder, ein bulgarisches Volksschulkind erhält ab sofort eine Kürzung von ca. 121 Euro auf knapp 55 Euro monatlich, ein rumänisches Volksschulkind auf knapp 60 Euro monat­lich. Fakt ist, dass von der Indexierung der Familienbeihilfe zahlreiche 24-Stunden-BetreuerInnen betroffen sind. Für diese bedeutet die Kürzung der Familienbeihilfe einen deutlich spürbaren finanziellen Ver­lust im Gesamteinkommen. Für nicht wenige von Ihnen war die Auszahlung der Familienbeihilfe ausschlaggebendes Krite­rium dafür, einen Job anzunehmen, in wel­chem sie für die finanzielle Sicherheit ihrer Kinder den hohen Preis bezahlen müssen, wochenlang von ihnen getrennt zu sein.

Das Signal, welches mit dieser Maß­nahme gesendet wird, ist vor allem für 24-Stunden-BetreuerInnen aus den süd-ost-europäischen EU-Staaten eines, welches bei genauerer Betrachtung ad absurdum führt: Während sie auf Grund des Pflege­notstandes in Österreich dringend gebraucht werden, um eine Versorgungs­lücke in der österreichischen Pflegeland­schaft zu schließen und deshalb unter arbeitsrechtlich höchst fragwürdigen Bedingungen ihre Tätigkeit verrichten, wird ihnen im gleichen Atemzug ein Teil ihres »Gesamteinkommens« mit der Begründung gekürzt, ihre Kinder würden in Summe auch weniger kosten.

Was durch die Indexierung bewirkt wird, ist die gesellschaftliche Spaltung der Arbei­terInnen in Österreich nach dem Kriterium ihrer Herkunft. Pflegende und betreuende ArbeiterInnen aus den EU-Oststaaten wer­den dadurch zu ArbeiterInnen zweiter Klasse, ihre Kinder zu Kindern, welche weniger wert sind als österreichische Kin­der.

Der Pflegenotstand als gesamteuropäisches Problem

Eine weitere Problematik, die sich durch den Zukauf von Pflege- und Betreuungstä­tigkeiten aus den südost-europäischen Län­dern ergibt, ist jene der fehlenden »Next Generation« in den jeweiligen Ländern, oder in anderen Worten: »Wer kümmert sich in den Heimatländern der 24-Stunden-BetreuerInnen um die alternde Genera­tion?« Während in Österreich der beste­hende Pflegenotstand dadurch umgangen wird, dass österreichische Pflege- und Betreuungsbedürftige die notwendigen Dienstleistungen billig aus dem Ausland beziehen, leiden die süd-ost-europäischen Länder stark unter der Auswanderung jun­ger Menschen, denn diese fehlen wiederum in der Altersversorgung vor Ort. Der Pflege­notstand wird somit nicht dort bekämpft, wo er existiert, sondern durch Arbeitsmi­gration in Länder mit niedrigerer Kaufkraft verlagert. Das Wohlstandsgefälle wird dadurch immer größer, die Kluft zwischen Arm und Reich im europäischen Raum steigt. Im europäischen Diskurs wird die Problematik des übergreifenden Pflegenot­standes jedoch vollkommen ausgeklam­mert und der gesamteuropäische politische Wille nach Lösungen fehlt gänzlich.

Manuela Juric hat im Rahmen ihres Jus-Studiums den Schwerpunkt »Legal Gender Studies, Antidiskri­minierungsrecht & Diversity« absolviert und arbei­tet und forscht im Bereich des Pflege- und Medizin­rechts und der Grund- und Menschenrechte im Alten-, Behinderten-, Kinder- und Jugendbereich.

Im Fokus: Zur Aktualität der Abtreibungsfrage

Miriam Gertz beschäftigt sich in ihrer Masterarbeit mit den Erfahrungen von Frauen im Kontext von Schwangerschaftsabbrüchen und ist in feministischen Zusammenhängen aktiv. Sie schreibt, was wir schon immer zum Thema Schwangerschaftsabbruch wissen wollten.

Schwangerschaftsabbrüche sind in Österreich ein Tabu - und die Tabuisierung verschärft sich.

Seit die Frauenbewegung in den 70er Jahren zumindest den Kompromiss der Fristenlösung erkämpfte, hat die Politisierung und die Aufmerksamkeit für das Thema in Österreich (wie auch in Deutschland bis zur aktuellen Diskussion um den § 219a StGB) nachgelassen. Die meisten Menschen sind überzeugt, dass Schwangerschaftsabbrüche ohnehin legal sind, dass die, die es brauchen, problemlos zur Ärztin oder ins Spital gehen können, und die Lage also zufriedenstellend ist. Dem ist nicht so.

Die rechtliche Situation

Schwangerschaftsabbruch steht nach wie vor als Delikt im Strafgesetzbuch.

1975 wurde der seit 1803 bestehende § 144 StGB, der Kerkerstrafen für jegliche Abtreibungen vorsah, durch die §§ 96-97 StGB ersetzt.

In § 96 StGB ist geregelt, dass wer mit Einwilligung der Schwangeren deren Schwangerschaft abbricht, mit Geldstrafen oder bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe zu bestrafen ist und dass Frauen, die bei sich selbst eine Schwangerschaft abbrechen oder diesen Eingriff durch einen anderen vornehmen lassen, mit Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr zu bestrafen sind.

In § 97 StGB ist – im Sinne der Fristen- und Indikationenregelung – zwar festgehalten, dass die Tat unter bestimmten Voraussetzungen nicht strafbar ist, das ändert jedoch nichts daran, dass Abtreibung grundsätzlich als Straftat verhandelt wird. Schwangerschaftsabbrüche sind seit 1975 in Österreich somit nicht per se legal, sondern nur unter gewissen Bedingungen straffrei.

Zudem ist in § 97 festgehalten, dass Ärzt_innen und weiteres medizinisches Personal ihrem Gewissen nach selbst entscheiden können, ob sie an nicht notfallmedizinisch indizierten Abbrüchen mitwirken oder nicht.

Die Verweigerung aus Gewissensgründen ist ein menschenrechtliches Konzept aus dem vollkommen anderen, militärischen Kontext des Wehrdienstes. Die Übertragung auf den Bereich der medizinischen Versorgung bei ungewollten Schwangerschaften impliziert, dass es ein Menschenrecht auf die Verweigerung von kriegerischen Handlungen bzw. Gewaltausübung gegenüber anderen gibt, das 1) im Falle einer ungewollten Schwangerschaft auf den Embryo als »anderen« angewandt werden kann und 2) über dem Menschenrecht der Schwangeren auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung steht[1]. Ärzt_innen (einer patriarchal geprägten Medizin!) und Embryonen wird so mehr Subjektstatus zugeschrieben als schwangeren Frauen und Trans-Männern.

Die rechtliche Regelung ist also durch und durch ein Dokument gesellschaftlicher Ambivalenz, patriarchaler Hierarchie und wirkmächtiger katholischer Moral. Die Erkenntnis, dass sichere Rahmenbedingungen für Abtreibungen eine gesundheitspolitische Notwendigkeit darstellen, da sie de facto jederzeit gesellschaftliche Realität sind, hat sich zwar dank feministischer Kämpfe durchgesetzt. Es stimmt demnach Umfragen zufolge auch seit Jahrzehnten eine Mehrheit der österreichischen Bevölkerung für die Fristenregelung[2]. Auch realpolitisch orientierte Katholik_innen teilen diese Überzeugung; es ist schließlich nicht allzu lange her, dass in Österreich ungewollt Schwangere auf dem nicht nur sprichwörtlichen Küchentisch verblutet sind.

#trustwomen und die Folgen der Tabuisierung

Aber die Einsicht, dass unvermeidbare Abtreibungen sicher durchgeführt werden können müssen, bedeutet noch nicht, dass ungewollt Schwangeren tatsächlich vertraut wird. Vertraut werden sollte ihnen darin, selbst darüber entscheiden zu können, ob das Austragen einer Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt richtig oder absolut unpassend wäre; ihre Entscheidungen sollten als kompetente biographische Entscheidung wertgeschätzt werden.

Dafür braucht es jedoch nicht nur sicheren Zugang zu Abtreibung, sondern auch den Kampf für eine egalitäre Gesellschaft, in der Frauen sich ohne ökonomische Zwänge oder patriarchale Gewalt tatsächlich selbstbestimmt entscheiden können.

Wenn Abtreibung vollständig legalisiert wird, steigt die Abtreibungsrate jedenfalls nicht – das lässt sich am Beispiel Kanada belegen. Dort steht Schwangerschaftsabbruch seit 1988 nicht mehr im Strafgesetzbuch. Die Praxis hat sich dadurch nicht grundlegend verändert und die Zahlen verweisen im Vergleich zu den USA mit sehr restriktiver Gesetzgebung nur auf ein Drittel der Abbrüche pro Kopf[3].

Wer abtreiben will bzw. muss findet einen Weg, macht es aber auch nicht extra, nur weil es erlaubt ist.

Überhaupt sollte nicht Abtreibung als Problem gedacht werden, das behandelt werden muss – das liegt in der ungewollten Schwangerschaft, Abtreibung ist die Lösung.

Zur Senkung der Rate ungewollter Schwangerschaften wiederum bräuchte es mehr Prävention durch bessere flächendeckende Sexualpädagogik, kostenlose Verhütungsmittel, Bekämpfung patriarchaler Gewalt und wirksame Sozialpolitik.

Soweit ersichtlich wurde die letzte höchstgerichtliche Entscheidung zu § 96 StGB im Jahr 1983 gefällt – ein Hinweis darauf, dass der Paragraph seit den 80er Jahren kaum noch oder gar nicht zur Anwendung kommt. Dass er trotzdem erhalten wird, hat offensichtlich ideologisch-moralische Gründe.

So haben ungewollt Schwangere nun prinzipiell die Möglichkeit, einen Abbruch durchführen zu lassen – sie sind aber permanent mit der gesellschaftlichen Tabuisierung und moralischen Ablehnung dieser Entscheidung konfrontiert. Das daraus entstehende Schweigen über Schwangerschaftsabbruchserfahrungen, das gefühlte Misstrauen sowie die mangelhafte Versorgungslage sind als enorme Risikofaktoren für psychische Belastungen[4] zu verstehen.

Die konkrete Versorgungslage

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen der Fristen- und Indikationenregelung in Österreich straffrei sind und es – anders als in Deutschland – kein Informationsverbot für die durchführenden Ärzt_innen gibt, sind die Versorgungslage und Transparenz unzureichend. Das liegt neben der erlaubten Verweigerung aus Gewissensgründen an fehlenden Durchführungsbestimmungen, sodass betroffene Frauen keinen Anspruch auf die tatsächliche Durchführung eines – insbesondere wohnort-nahen – Abbruchs haben[5]. Politisch wäre es durchaus möglich, jede gynäkologische Abteilung eines öffentlichen Spitals dazu zu verpflichten.

Die Verhältnisse sind vor allem außerhalb Wiens prekär und weisen eine große klassenspezifische Zugangsungerechtigkeit auf.

Da es im Gegensatz zur Situation vieler anderer europäischer Länder keine Kostenübernahme durch die Krankenkassen gibt, liegt die Finanzierung eines Abbruchs (und damit die Verantwortungsübernahme) bei den ungewollt Schwangeren selbst. In Wien ist die Lage folgende: Je nach Einkommen können die Frauen sich einen schnellen Termin in einem Ambulatorium mit Methodenwahl leisten oder müssen auf einen der wenigen Plätze in einem öffentlichen Spital hoffen.

Im zweiten Fall sind sie den verschärften Bedingungen ausgesetzt, dass derzeit nur zwei öffentliche Spitäler des Krankenanstaltenverbunds (KAV) in Wien regulär Termine für Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen – die Semmelweis Frauenklinik und das Wilhelminenspital. Im Hanusch-Krankenhaus und in der Krankenanstalt Rudolfstiftung werden ebenfalls ab und zu Schwangerschaftsabbrüche gemäß § 97 gemacht, jedoch ohne öffentliche Terminvergabe und völlig intransparent.

Die Spitäler haben die Möglichkeit, intern selbst festzulegen, bis zu welcher (legalen) Frist sie den Abbruch vornehmen, sodass die Grenze in der Semmelweisklinik auf das Ende der zehnten Schwangerschaftswoche (SSW) statt auf drei Monate nach Einnistung gelegt wurde. Obwohl also Abbrüche bis zur 14. SSW straffrei sind, werden sie in der Semmelweisklinik ab der elften verweigert. Im Wilhelminenspital werden die Eingriffe bis zur 12. SSW durchgeführt. Bei einer durchschnittlichen Wartezeit von vier Wochen (manchmal auch sechs!) muss das Wissen über die ungewollte Schwangerschaft und die Entscheidung zum Abbruch demnach sehr früh feststehen, um noch einen Termin in einem öffentlichen Spital in Wien zu bekommen. Zusätzlich erschwerend müssen die Frauen, obwohl das gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, vor Anmeldung erst einen Schein aus der Familienplanungsberatung bekommen, auf deren offene Sprechzeiten teilweise mehrere Tage gewartet werden muss.

Auf der Homepage des Wiener KAV geht nicht klar hervor, in welchen Spitälern zu welchen Bedingungen Abbrüche durchgeführt werden – jede ungewollt Schwangere muss aufwändig recherchieren; Informationen werden hauptsächlich im obligatorischen Beratungsgespräch in der Familienplanungsstelle weitergegeben[6].

Wenige Ärzt_innen außerhalb der Spitäler führen außerdem Abtreibungen zu Sozialpreisen durch; die Infos dazu gibt es allerdings nirgendwo öffentlich - von den einschlägigen Beratungsstellen werden sie wegen knapper Kapazitäten nur mit Bedacht weitergegeben.

In Wien sowie auch in anderen Bundesländern ist es immerhin möglich, dass bei geringen finanziellen Einkünften die Kosten der gynäkologischen Behandlung einmalig (!) vom Sozialamt übernommen werden. Diese Kostenübernahme ist jedoch mit einigem bürokratischem Aufwand, Zeitverlust und dem Hörensagen nach immer wieder auch mit Erfahrungen der Schikane und Abwertung verbunden.

In den anderen Bundesländern ist die Versorgungslage sehr viel schlechter; viele Frauen müssen deshalb weite Strecken fahren oder in privaten Ordinationen enorme Summen zahlen. In Salzburg setztedie Landeshauptfrau Burgstaller 2005 geringe Kapazitäten für Schwangerschaftsabbrüche am LKH – die Ärzt_innen vor Ort verweigerten sich jedoch kollektiv, sodass bis heute der Wiener Gynäkologe Christian Fiala (Gynmed) am Wochenende nach Salzburg pendelt. Weitere öffentliche Spitäler, die Abbrüche im Rahmen der Fristenregelung durchführen, finden sich nur in Korneuburg und Linz. In Vorarlberg ist die Situation besonders gravierend – es gibt nur eine Ordination und die auch nur, weil ein deutscher Frauenarzt einen Zweitsitz in Bregenz eröffnete[7].

Die gesamte Situation ist also von Intransparenz, gewollter Kapazitätenverknappung, Geschlechter- und Klassenungerechtigkeit geprägt.

Bedrohung durch die schwarz-blaue Regierung und fundamentalistischen Aktivismus

Und die aktuelle Bundesregierung? Tut kaum überraschend nichts zur Verbesserung der ohnehin schon prekären Lage. Stattdessen stellt sie eine massive Bedrohung der ohnehin schon prekären Ist-Situation dar.

Christlich-fundamentalistisch motivierte Gegner_innen des Rechts auf reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung organisierten sich bereits seitdem für die Legalisierung von Abtreibungen gekämpft wird. 1975 realisierte die der Bischofskonferenz nahestehende Aktion Leben ein Volksbegehren gegen die Einführung der Fristenregelung und erreichte damals 895.665 Stimmen. 2014 startete Aktion Leben die Bürgerinitiative »Fakten helfen!« mit den Forderungen, die statistische Erfassung und Meldung von Schwangerschaftsabbrüchen für Ärzt_innen gesetzlich vorzuschreiben und regelmäßig die Gründe für Abtreibungen zu erforschen. Da Studien dieser Art bereits vorliegen und eine Statistik durch Übernahme der medizinischen Leistung durch die Krankenkassen automatisch erreicht werden würde, kann angenommen werden, dass in erster Linie Hürden für Ärzt_innen und Abschreckung von ungewollt Schwangeren angezielt wurden.

Unter Schwarz-Blau II bekommen die Anti-Choice-Aktivist_innen so kräftigen Rückenwind wie nie zuvor seit Inkrafttreten der Fristenlösung. Da sie sich auch in den Regierungsreihen selbst befinden, ist nicht verwunderlich, dass bereits das Regierungsprogramm einige Hinweise auf geplante Verschärfungen enthält:

Im Kapitel »Justiz« steht, dass geplante Maßnahmen Reformen im Strafrecht und dort u.a. die stärkere Gewichtung von negativen Auswirkungen »von Straftaten auf das Leben« betreffen sollen. Im Kapitel »Frauen« steht u.a., dass »Unterstützungsleistungen für Schwangere in Konflikt- oder Notsituationen durch Geld-, Sach- und Beratungsleistungen« forciert werden sollen. So wünschenswert eine tatkräftige Unterstützung von gewollt Schwangeren in materiellen Notsituationen ist ( - als Symptombekämpfung, denn eigentlich braucht es eine radikale, umverteilende Sozialpolitik - ), so sehr steht doch zu befürchten, dass es hier hauptsächlich darum geht, Schwangere dazu zu motivieren, sich im Konfliktfall nicht für einen Abbruch sondern für das Austragen der Schwangerschaft zu entscheiden. Der Verweis auf die Forcierung von Beratungsangeboten deutet darauf hin, dass eine verpflichtende Beratung mit gesetzlich verankerter Bedenkzeit wie in Deutschland angestrebt wird und die Beratung im Sinne des sogenannten »Schutzes des Ungeborenen« ausgerichtet sein soll. In Frankreich gab es sowohl Zwangsberatung als auch Bedenkzeit – beides wurde jedoch 2001 bzw. 2015 abgeschafft und also als nicht sinnvoll erkannt[8].

Familienplanungsberatungsstellen, Frauengesundheitszentren und sonstige psychosoziale Beratungsangebote, in denen freiwillig Klärungsgespräche im Konfliktfall in Anspruch genommen werden können, sind in Österreich bereits vorhanden – ihnen wurden jedoch zynischerweise Förderungen gekürzt. Wenn Beratungen also forciert werden sollen, geht es nicht um freiwillige, ergebnisoffene Angebote.

Weiterhin findet sich im Kapitel »Fairness und Gerechtigkeit« unter dem Punkt »Soziales und Konsumentenschutz« das Vorhaben, eine parlamentarische Enquete zum Thema der eugenischen Indikation und zur Verhinderung von Spätabtreibungen durchzuführen.

Dass diese Regierung umsetzt, was im Programm steht, hat sie bereits bewiesen. So ist anzunehmen, dass auch die das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung betreffenden Punkte nicht aus Jux vermerkt sind.

Aus Sicht der politisch aktiven Abtreibungsgegner_innen ist nun die Frage, wie sie das Thema geschickt in den Diskurs bekommen – für die Fristenregelung gibt es in der österreichischen Bevölkerung eine stabile Mehrheit und Frauen- bzw. Selbstbestimmungsrechte sind derzeit ein international viel diskutiertes und beachtetes Thema. An dieser Stelle kommt die im vorigen Jahr gestartete »Bürgerinitiative« #fairändern ins Spiel. Für die sehr professionell aufgezogene Kampagne wurden drei freundlich aussehende Frauen als repräsentative Gesichter gewählt. Das passt zur Tendenz der sogenannten »Lebensschutzbewegung«, junge Menschen und Frauen in den Vordergrund zu stellen und nach Möglichkeit – u.a. durch die Instrumentalisierung von Menschen mit Behinderungen – auf die Tränendrüse zu drücken. Impliziert wird, dass es nicht um patriarchale Einschränkungen im Recht auf Selbstbestimmung geht, sondern dass nächstenliebende Frauen sich für faire Bedingungen für Frauen bzw. werdende Mütter und ihre (behinderten) Kinder einsetzen wollen. Neben den Inhalten passt also auch das Framing hervorragend zum aktuellen Regierungsprogramm (siehe »Fairness und Gerechtigkeit«).

Die Vorsitzende ist Carina Eder, die als Sprecherin der »Jugend für das Leben« auch in Salzburg schon »Widerstand« gegen die Gynmed-Ambulanz anführte. (Nebenbei: auch in diesem Framing zeigt sich, wie Ärzt_innen, die den Eingriff als Gesundheitsdiensleistung anbieten, als Gewalttäter_innen dargestellt werden.) Die »Jugend für das Leben« organisiert regelmäßig die »Märsche für das Leben«, verbreitet auf ihrer Homepage u.a. Falschinformationen über psychische Folgen von Abtreibungen[9] und ist eng mit »Human Life International«, die Frauen vor Kliniken terrorisieren, vernetzt. Die 1. stellvertretende Vorsitzende von #fairändern, Petra Plonner, ist ebenfalls in diversen christlich-fundamentalistischen Organisationen aktiv und sogar Gründerin der evangelikalen LIFE Church in Leoben. Die 2. stellvertretende Vorsitze, Marie Louise Schütz, war Mitarbeiterin von Othmar Karas, der für die Volkspartei als Abgeordneter im Europaparlament sitzt und Mitglied verschiedener katholischer Männerbünde ist.

Auf der Homepage von #fairändern wird schnell deutlich: Einen seriösen psychosozialen, medizinischen oder wissenschaftlichen Background hat keine_r der öffentlichen Initiator_innen und Unterstützter_innen; ihre »Kompetenz« liegt ausschließlich in religiösen Einstellungen, die in der staatlichen Gesetzgebung keine Rolle spielen sollten. Unterstützt wird die Initiative dabei von machtvollen Kreisen: Abgeordneten der ÖVP und FPÖ sowie Vertretern der katholischen Kirche. Wie eine Recherche von fida zeigt, ist auch der Kartellverband (CV) als Unterstützer für die Kampagne nicht zu unterschätzen[10]. Aus den Regierungsparteien unterschrieben haben u.a. der Regierungskoordinator Norbert Hofer und der Familiensprecher des ÖVP-Klubs, Norbert Sieber. Letzterer hielt auch eine Rede beim »Marsch für das Leben« im November 2018 in Wien, wo er von der ebenfalls unterstützenden ÖVP-»Menschenrechts«sprecherin Gudrun Kugler begrüßt wurde. In seiner Rede freute er sich darüber, dass sich in der Politik etwas verändere und bereits »ein Paket« zum Thema verhandelt werde.

Rechte und Abtreibungsgegner_innen verbuchten den Marsch für das Leben 2018 als großen Sieg und bewerten die Situation als so gut zur politischen Umgestaltung wie nie seit Einführung der Straffreiheit; der Marsch hatte nach eigenen Angaben 1500, d.h. fast viermal so viele Teilnehmer_innen wie im Jahr zuvor. Das Unterschriften-Sammeln für #fairändern wurde bis Februar 2019 verlängert; über 55.000 konnten insgesamt erreicht werden. Eine Menge also, allerdings immer noch nur ein Bruchteil der Unterstützungsstimmen, die das Frauenvolksbegehren (FVB) erzielte (481.959), das u.a. die Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen und Durchführung der Eingriffe in allen öffentlichen Krankenanstalten forderte. Wurde das FVB jedoch von der Regierung abgewürgt, hat #fairändern ganz anderen Rückhalt.

Die Forderungen von #fairändern sind die Erhebung einer Statistik und Motivforschung zu Schwangerschaftsabbrüchen in Österreich, die Hinweispflicht auf Alternativen, eine verpflichtende Bedenkzeit und die Abschaffung der »eugenischen Indikation[11]«.

Eine Statistik wäre bei Kostenübernahme durch die Krankenkassen automatisch erreicht, realistische Zahlenschätzungen liegen außerdem bereits vor. Studien sowie Expert_innenwissen aus der Praxis zu den Ursachen ungewollter Schwangerschaften und den Motiven für die Entscheidung zur Abtreibung gibt es ebenfalls zu genüge. Eine Zwangsberatung zu Alternativen würde implizieren, dass Schwangerschaftsabbruch per se die (moralisch) schlechtere Option ist und ist abzulehnen. 98% der Frauen suchen sowieso erst dann einen Arzt auf, wenn sie sich bereits entschieden haben[12]. Eine gesetzliche »Bedenkzeit« ist dementsprechend als restriktive, patriarchale Bevormundung zu bewerten, die im schlimmsten Fall sogar dazu führen kann, die Frist zu verpassen. Viele Schwangere leiden außerdem an starken körperlichen Beschwerden wie Übelkeit und Kreislaufproblemen, die bei gesetzlicher »Bedenkfrist« sinnlos zwangsverlängert würden.

Das Thema der embryopathischen Indikation ist ein höchst komplexes, dessen problematische Aspekte unbedingt aus feministischer und anti-ableistischer[13] Perspektive mit Fokus auf gesellschaftliche und medizinische Entwicklungen im Neoliberalismus diskutiert werden müssen – ohne jedoch schwangeren Individuen bzw. Familien in Krisensituationen, denen zuvor Pränataldiagnostik nahegelegt wurde, die Verantwortung oder sogar Schuld für gesamtgesellschaftliche Selektionsentwicklungen aufzuladen. Die Instrumentalisierung von Menschen mit Behinderungen durch Rechte und Abtreibungs-Gegner_innen ist scharf zurückzuweisen – erst recht so lang sich der vermeintliche »Lebensschutz« hauptsächlich auf Embryonen und Föten in Uteri und nicht auf würdige Existenzbedingungen für bereits lebende Frauen, Familien, Menschen mit Behinderungen etc. bezieht. Dem Thema sollte sich über Diskussion der Pränataldiagnostik, sensible und freiwillige Beratungsangebote, Unterstützung von Familien mit beeinträchtigten Kindern sowie gesamtgesellschaftliche Inklusion und nicht über das Strafrecht genähert werden.

Wie bereits ausgeführt, ist zur Abschaffung der »eugenischen Indikation« die Abhaltung einer Enquete auch im Regierungsprogramm vorgesehen – das hier tatsächlich angesetzt wird, ist also mehr als realistisch. Einfaches Spiel ohne Gegenwind werden ÖVP und FPÖ dabei jedoch nicht haben; dass der Petitionsausschuss die Bürgerinitiative #fairändern am 13.2.2019 vertagt hat und die Anträge der Opposition auf Stellungnahmen von Amnesty International und der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung angenommen wurden, ist ein sehr gutes Zeichen.

Nichtsdestotrotz machen einige hochkarätige Abgeordnete und auch die außerparlamentarische Rechte (wie die sog. »Identitären«) derzeit gegen das reproduktive Selbstbestimmungsrecht mobil, sodass Verschärfungen über die Schiene des »Schutzes von Kindern mit Behinderungen« und des »Schutzes von Frauen vor sich selbst« jedenfalls denkbar sind.

Was können wir tun?

Klar ist: wir brauchen auch in Österreich dringend einen breiten Kampf für das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung und eine emanzipatorische Debatte über die aktuelle Lage!

Dabei haben wir als feministische Bewegung zwei Aufgaben: Erstens müssen wir die politischen Entwicklungen im Blick haben, Verschlechterungen möglichst abwehren und notfalls direkt für Aufmerksamkeit und Widerstand sorgen.

Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass der Kampf nicht die Wahrung, sondern die Überwindung des Status Quo als Ziel hat, der ein einziger, suboptimaler Kompromiss ist.

Dabei hilft es, im eigenen sozialen Umfeld persönlich und politisch über das Thema zu sprechen, vor manipulativen Homepages im Internet zu warnen und sich über Beratungsstellen zu informieren, bei Hashtag-Aktionen mitzumachen, zu Demos zu gehen, Aktionen zu organisieren, sich bei feministischen Organisationen nach Proteststrukturen zu erkundigen, wissenschaftlich zum Thema zu arbeiten u.v.m. Es muss jedenfalls darum gehen, das Tabu zu brechen und die prekäre Versorgungslage zu skandalisieren! Unter Schwarz-Blau werden Verbesserungen kaum durchzusetzen sein – hier heißt es, Rückschritte zu bekämpfen. Gleichzeitig müssen wir aber jetzt schon Bündnisse schmieden und darüber aufklären und diskutieren, was zur Erreichung tatsächlicher Selbstbestimmung fehlt!

Denn die (Haupt-)Forderungen bleiben:

-        Schwangerschaftsabbruch ist keine Straftat, sondern eine Gesundheitsleistung – darum RAUS AUS DEM STRAFGESETZBUCH!

-        Verbesserung der Versorgungslage; Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in jeder öffentlichen Krankenanstalt und Aufhebung der Gewissensklausel! Schluss mit der ideologisch motivierten Kapazitätenverknappung!

-        Kostenübernahme durch alle Krankenkassen!

Zum Weiterlesen:

-        Seriöse Informationen für den österreichischen Kontext gibt es auf http://abtreibung.at

-        Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hrsg.): Abtreibung. Diskurse und Tendenzen

-        Sarah Diehl (Hrsg.): Deproduktion

-        Elfie Mayer, Elsbeth Meyer & Marina Knopf: Traurig und befreit zugleich: psychische Folgen des Schwangerschaftsabbruchs.

-        Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm: Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung

-        Eike Sanders, Kirsten Achtelik & Ulli Jentsch: Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der >>Lebensschutz<<-Bewegung


[1] Zu den Auswirkungen und Hintergründen der Verweigerung aus Gewissensgründen ist der Film „Abandoned (Im Stich gelassen)“ sehr zu empfehlen (https://abandoned.film).

[2]Vgl. Tazi-Preve, I.M. & Kytir, J. (2001). Schwangerschaftsabbruch – gesellschaftspolitische Aspekte und empirische Befunde. SWS-Rundschau, 41(4), 435-458.

[3] Siehe http://de.muvs.org/topic/kanada-zeigt-es-vor-weniger-abbrueche-geringere-muettersterblichkeit/

[4] Zu psychischen Risikofaktoren s. z.B. Elfie Mayer, Elsbeth Meyer & Marina Knopf (1995). Traurig und befreit zugleich: psychische Folgen des Schwangerschaftsabbruchs. Reinbek: Rowohlt oder Rocca, C. et al. (2015). Decision Rightness and Emotional Responses to Abortion in the United States: A Longitudinal Study. In: PLOS ONE. DOI: 10.1371.

[5] Vgl. http://abtreibung.at/fur-fachkrafte/hintergrundinformationen/abbruch-in-osterreich/

[6]vgl. http://www.wienkav.at/kav/wil/ZeigeText.asp?ID=50610

[7] siehe http://abtreibung.at/fur-fachkrafte/hintergrundinformationen/abbruch-in-osterreich/ und https://vorarlberg.orf.at/news/stories/2693300/

[8] Vgl. https://www.svss-uspda.ch/frankreich/

[9] Es ist wissenschaftlich nicht belegt oder anerkannt, dass es ein sog. „Post Abortion Syndrom“ gäbe, wie von der Jugend für das Leben propagiert wird: https://jugendfuerdasleben.at/fakten-infos/das-leid-nach-abtreibung/symptome/. Siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Post-Abortion-Syndrom und u.a. folgende Studie: Rocca, C. et al. (2015). Decision Rightness and Emotional Responses to Abortion in the United States: A Longitudinal Study. In: PLOS ONE. DOI: 10.1371.

[10] fida-blog.info – Feministische Informations- und Dokumentations-Arbeit

[11] Dieser Begriff kommt so nicht im Gesetzestext vor und ist daher manipulativ gewählt.

[12] Zu diesem Punkt und der Bürgerinitiative „Fairändern“ im Allgemeinen s. auch diese Stellungnahme von DDr. Ch. Fiala und Mag.a P. Schweiger: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SBI/SBI_00075/imfname_736987.pdf

[13] Ableismus = Diskriminierung von Personen, die körperliche oder geistige Behinderungen haben bzw. denen Behinderungen oder Beeinträchtigungen zugeschrieben werden.

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PAUL SCHEIBELHOFER im Gespräch mit HEIDE HAMMER über »hegemoniale Männ­lichkeit« und »patriarchale Gewalt«.

Vor wenigen Wochen wurde in Frank­reich die »Ligue du LOL« öffentlich, eine ins Jahr 2009 zurückreichende Face­book-Gruppe junger, erfolgreicher Männer aus der Medienbranche. Sie bildeten eine Hetzmeute gegen aufstrebende Kollegin­nen, verfolgten diese mitunter über Jahre mit diffamierenden Postings, Emails und Anrufen. Eineinhalb Jahre nach #metoo ist das Thema sexueller Gewalt medial omni­präsent und zugleich wird gerade in Öster­reich diese Gewalt vorwiegend rassistisch interpretiert und mit härteren Strafen ent­gegnet. Wie interpretierst du diese Phäno­mene?

PAUL SCHEIBELHOFER: Es gibt in der öffent­lichen Diskussion über Gewalt gegen Frauen wiederkehrende Muster. Offensichtlich geht es dabei vor allem darum, das Bild einer guten und friedfertigen gesellschaftlichen Mitte zu erhalten. Gewalt wird hingegen im Außen lokalisiert, bei Migranten, Arbeitern, psy­chisch Kranken. Ein wichtiges Verdienst von #metoo ist es, diese Erzählung unterbrochen zu haben und den Fokus auf tatsächlich rele­vante Fragen rund um Männergewalt gegen Frauen gerichtet zu haben. Ein zentraler Aspekt sind dabei Machtungleichgewichte und Abhängigkeitsverhältnisse. So ist es kein Zufall, dass diese Übergriffe von oben nach unten stattgefunden haben, also von Vorge­setzten Männern an hierarchisch niedriger stehenden Frauen in der Filmindustrie, Kirche, im ÖSV oder EU-Parlament. Strukturelle Ungleichheit und Hierarchien sind zentral für Männergewalt an Frauen. Zudem weisen die aufgedeckten Übergriffe auf eine Ver­bindung von Sexualität und männlichem Entitlement hin. Mit Entitlement meine ich das Gefühl, einen Anspruch auf mehr zu haben, mehr Aufmerksamkeit, Entschei­dungsmacht, Geld, etc. Dieses Entitlement ist ein Bestandteil von dominanter Männ­lichkeit und in den #metoo Fällen zeigte sich, dass die Männer offensichtlich auch einen Anspruch auf weibliche Körper und Sexualität geltend gemacht haben.

Wie werden Frauen in diese männliche Herrschaft eingebunden?

PAUL SCHEIBELHOFER: Patriarchale Ver­hältnisse sind keine reinen Gewaltverhält­nisse, auch wenn ihnen Gewalt inhärent ist. Aber auch in einem System männlicher Herrschaft bzw. »hegemonialer Männlich­keit« gibt es Angebote an Frauen und Belohnungen für jene, die sie annehmen. Etwa das Angebot, sich als das empathische Geschlecht zu verstehen, das wie geschaf­fen ist für die Sorge um Kinder, Partner und Alte und diese Arbeit aus Liebe ver­richten soll. Die Geschichte der feministi­schen Kämpfe kann auch gesehen werden als Geschichte des Widerstands gegen die engen Rahmen, die diese Angebote stecken. Mit jedem feministischen Erfolg sind diese Rahmen ausgeweitet worden und musste sich auch Männlichkeit verändern.

Manches kommt uns heute noch reich­lich bekannt vor, der Männerbund von »Ligue du LOL« aus eher links-liberalen Kreisen bis zum konservativen Cartell­verband und den rechtsextremen Bur­schenschaften.

PAUL SCHEIBELHOFER: Für die Repro­duktion patriarchaler Männlichkeit sind Männerbünde zentral. Sie begegnen Män­nern schon in jungen Jahren als Buben­freundschaften und begleiten sie ein Leben lang. In der Jugend spielen sie eine wichtige Rolle für die Inkorporierung von Männlich­keitsnormen, da wird »richtige Männlich­keit« gemeinsam eingeübt und dargestellt. Später sind Männerbünde strategische Netzwerke, in denen Information und Res­sourcen ausgetauscht werden und man sich gegenseitig fördert. Sie sind aber auch oft geprägt von großer Nähe zwischen den Mitgliedern und Loyalität gegenüber der Gruppe. Gestützt ist das nicht selten durch gemeinsame Geheimnisse, die die Mitglieder von der Außenwelt abheben und durch die sie einander auch ausgeliefert sind, wie wird das etwa bei Mafia, Burschenschaften oder oft­mals der Polizei sehen.

Gleichzeitig dringen Frauen zunehmend in früher rein männliche Domänen ein und Männerbünde reagieren darauf. Manche lösen sich auf, andere verändern ihre Form bzw. agieren im Hintergrund und können so trotz Quotenregelungen weiter Macht aus­üben. Die Männer der »Ligue du LOL« bilde­ten so einen Männerbund im Kampf gegen Frauen. Junge, gut etablierte Medienmänner, die sich verbanden, um Frauen, die ihnen als Konkurrenz erschienen, zu zerstören und sie mundtot zu machen. Auch hier zeigt sich also: Männerbünde existieren auch heute und bil­den weiterhin das Rückgrat des Patriarchats. Aber es geht ihnen vielerorts an den Kragen und ihre ungestörte Reproduktion wird immer schwerer möglich.

Was hältst du von neuen Begriffskombina­tionen wie »toxische Männlichkeit«?

PAUL SCHEIBELHOFER: Die #metoo Debat­ten haben den Begriff breit bekannt gemacht. Das ist einerseits positiv, da dadurch Männ­lichkeit den Status des Unmarkierten verliert und kritisch in den Blick genommen wird. Andererseits verleitet die Zuschreibung »toxisch« zu Individualisierungen. Als ob das Problem lediglich das toxische Verhalten ein­zelner unguter, unsympathischer, sichtbar gewaltvoller Männer wäre. Aus dem Blick geraten können dabei die gesellschaftlichen Strukturen, die männliche Herrschaft repro­duzieren, insbesondere dort, wo sie einen sympathischen, bürgerlichen Schein vermit­teln.

Das »Toxische« verweist wiederum auf die Frage der Gewalt. Auch in Formen der Gewaltanwendung muss man sich einüben, nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen andere Männer und sich selbst. Was können wir dem entgegenhalten?

PAUL SCHEIBELHOFER: Männliche Herr­schaft reproduziert sich sowohl auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen als auch in per­sönlichen Fragen von Identität und sozialen Beziehungen. Um männliche Herrschaft zu überwinden, muss auch auf diesen unter­schiedlichen Ebenen angesetzt werden. Es geht darum, die Selbstverständlichkeiten dominanter Männlichkeit zu verlernen und andere Lebensentwürfe zu entwickeln. Neben anderem kann kritische Buben- und Männerarbeit hier bestimmt einiges bewir­ken. Es braucht aber auch einen Abbau der Strukturen, die Geschlechterungleichheit befördern sowie eine allgemeine Demokra­tisierung gesellschaftlicher Institutionen. Um Hierarchien abzubauen und die Bedin­gungen für das Entstehen von Männerbün­den zu erschweren.

Ohne Ablehnung hierarchischer Verhält­nisse kommen zwar mehr Frauen in Füh­rungspositionen, sie werden dort aber kaum mehr Lust an egalitären Beziehun­gen entwickeln.

PAUL SCHEIBELHOFER: Frauen, die in männerbündischen Organisationen reüssie­ren wollen, müssen dafür oftmals one of the boys werden. Sie eignen sich jene männli­chen Eigenschaften an, die in dem Feld positiv konnotiert sind, statt die Spielre­geln zu ändern. Während das Geschlecht der Männer unsichtbar bleibt, müssen diese Frauen darauf achten, nicht auf ihr »unpas­sendes« weibliches Geschlecht zurückge­worfen zu werden.

Das beantwortet auch die immer wieder gestellte Frage, warum so wenige Frauen andere Frauen fördern.

PAUL SCHEIBELHOFER: Genau. Während es für männliche Führungskräfte in män­nerbündischen Organisationen kein Pro­blem darstellt, sich mit Männern zu umge­ben, kann Frauen, die weibliche Mitarbeite­rinnen fördern, schnell nachgesagt werden, dass sie ohnehin nur Frauenförderung betreiben, statt auf Qualität zu achten. Für Frauen ist es also riskanter, Personen des eigenen Geschlechts zu fördern. Um die Spielregeln solcher Organisationen zu ändern, braucht es also auch Veränderun­gen auf struktureller Ebene, die nur kollek­tiv erreicht werden.

Paul Scheibelhofer arbeitet am Institut für Erzie­hungswissenschaft der Universität Innsbruck und beschäftigt sich dort mit Fragen von Geschlecht, Sexualität, Migration und Rassismus.

Seit 24. Jänner wird im Unteren Belve­dere die Ausstellung »Stadt der Frauen« mit rund 300 Werken von knapp 60 weitge­hend unbekannten Künstlerinnen der Moderne gezeigt – einer Epoche der Wiener Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die mit Gustav Klimt, Egon Schiele und ihren Zeitgenossen Inbegriff der Wiener Ausstel­lungspolitik geworden ist. Sie bestimmen sowohl Tourismus wie auch Standort- und Ausstellungspolitik von sich im ständigen Konkurrenzkampf befindlichen Kunstinsti­tutionen der Stadt.

Welche/e KuratorIn ist nicht bemüht, auf dem musealen Jahrmarkt der Eitelkeiten mit immer neuen Aspekten der Wiener Moderne zu punkten? Der Stolz des heimi­schen Kunstbetriebs über ihre Künstler-Stars verschweigt wohl wissentlich, dass viele der heute teuer gehandelten Künstler in ihrer Zeit höchst umstritten, geächtet und verfolgt waren, ihre Werke kurz darauf als »entartet« mit Acht und Bann belegt waren. Welche/r kunstaffine Städterei­sende besucht nicht das Schiele-Museum (eigentlich Leopold Museum) mit seiner gerühmten Schiele-Sammlung, wer wagt es, einen Besuch des Oberen Belvedere mit dem berühmtesten Kuss der Welt (von Gus­tav Klimt) zu versäumen, der schon in der Exit-Halle des Wiener Flughafens beworben wird?

Im Kontrast zu ortsüblichen Mega-Schauen nimmt sich die »Stadt der Frauen« als Ausstellung schlicht aus – und stellt doch nichts weniger als ein kunsthistori­sches Fanal dar, entreißt sie doch das Erbe der hier vertretenen Künstlerinnen, das jenem der weit bekannteren Männer kaum nachsteht, dem Vergessen. In dieser längst überfälligen Retrospektive wird der Kunst von Frauen ein monumentales Zeugnis aus­gestellt. Heute jedoch sind sie kaum mehr bekannt, auch wenn sie ein Stück Kunstge­schichte geschrieben haben. Ihnen, ihrer Kunst vor und nach dem Ersten Weltkrieg und ihrer emanzipatorischen Leistung ist die großartige Ausstellung, die Werke aller Disziplinen der bildenden Kunst umfasst – von Skulptur gleich im ersten Raum bis zu großformatiger Malerei, von Zeichnung zur Grafik und Collage – gewidmet. Gezeigt werden zum Teil wiederentdeckte oder gar erstmals präsentierte Werke von jenen Künstlerinnen, die zu ihrer Zeit angesehen waren und heute so gut wie unbekannt sind.

 

Helene Funke Akt in den Spiegel blickend

Die Künstlerinnen

Hier ist sie also zu sehen, die verschwie­gene, vergessene, verdrängte, wirklich »neu« wieder-zu-entdeckende Wiener Moderne! Einige Namen der vielen Künstle­rinnen, deren Werke hier gleichwertig nebeneinander ausgestellt sind und deren schiere Anzahl auf den ersten Blick über­wältigt, meint man zu kennen. Neben den bekannten Tina Blau und Broncia Koller-Pinell sind das u.a. Friedl Dicker, Marie Egner, Helene Funke, Greta Freist, Marga­rete Hamerschlag, Fanny Harlfinger- Zakucka, Hermine Heller-Ostersetzer, Elza Kövesházi-Kalmár, Teresa Feodorowna Ries, Mileva Roller, Ilse Twardowski-Conrat oder Franziska Zach.

Die Welt aus weiblicher Sicht!

Auf wenigen Quadratmetern offenbart sich ein unbekanntes Universum des Impressio­nismus, Kinetismus, Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit und, ja sogar von Dada und Surrealismus. Viele der vertretenen Malerinnen, Zeichnerinnen, Bildhauerin­nen, Grafikerinnen und Visionärinnen der Moderne arbeiteten damals bereits auf Augenhöhe mit Kollegen wie Gustav Klimt und Egon Schiele, sie stellten wie diese in der Secession, im Hagenbund, im Salon Pisko und in der Galerie Miethke aus. Hier vermischen sich gänzlich unorthodox topi­sche wie atopische Motive der Zeit, die von üppigen Landschaften bis zu sensiblen Selbstporträts, Skizzen von einfachen Men­schen aus Armenvierteln und Visionen einer fernen Zukunft befreiter Menschen reichen.

Helene von Taussig, Weiblicher Akt auf blauem Stuhl, 1920/30

Beim Gang durch die Räume, in denen wie einem Gespensterhaus entstiegen lange Verschwiegenes und Vergessenes ans Tageslicht tritt, beschleichen einen gemischte Gefühle, wenn man etwa liest, dass einige an den Kaffeehausrunden der berühmten Männer teilnahmen, dass Kolle­gen wie Klimt und Schiele sie in die Seces­sion einluden, dass in der legendären Kunstschau 1908 und 1909 ein Drittel der Werke von Frauen war, die in prominenten Wiener Galerien ausstellten und (in weni­gen Fällen) ebenso am Markt reüssierten. Festzuhalten ist jedenfalls, dass bis heute die Kunst dieser Frauen im Schatten der kanonischen Werke der Männer steht. Viele waren Jüdinnen und mussten später Öster­reich verlassen, einige wurden in Konzen­trationslagern ermordet, eine Künstlerin trat der NSDAP bei und arisierte u.a. den VBKÖ, einen bis heute aktiven Zusammen­schluss von Frauen in der Kunst aus dem Jahr 1910. Friedl Dicker-Brandeis, die u.a. bei Johannes Itten am Berliner Bauhaus stu­dierte, war österreichische Kommunistin und kam in Auschwitz zu Tode. (Frauen durften trotz Aufnahme ab 1868 in die Kunstgewerbeschule bis 1920 nicht an den Kunstakademien studieren und waren nicht zu männlich dominierten Künstlervereini­gungen wie dem Künstlerhaus oder der Secession zugelassen; sie schlossen sich also in separaten Vereinigungen zusammen).

Die Aufnahme

Es drängt sich vehement die Frage auf, wa­rum es 100 Jahre dauern musste, bis eine re­präsentative Schau wie diese organisiert wird, die als Offenbarung uneingeschränk­tes Lob in der Presse erntete (so titelten die Tageszeitungen »Gewichtiger Beitrag zur Moderne«; »Was für Frauen! Was für Kunst­geschichten!«; »Gerechtigkeit für die Mo­derne«). »Mit dem Zweiten Weltkrieg wur­den sie aus der Kunstgeschichte verdrängt«, heißt es lapidar in einer der Ankündigungen der Stadt Wien zur Ausstellung1, so als wäre das eine plausible Erklärung! So als hätte bloß ein Krieg dieses Versagen verursacht, als hätte nicht der Nationalsozialismus dazu geführt, dass die Werke so vieler Künstlerin­nen übergangen wurden und als wären nicht Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtau­sende verstrichen, in denen Frauen die Kreativität und die Fähigkeit, Kunst zu ma­chen, abgesprochen worden wäre! Ähnlich dünn fällt in dieser Hinsicht das inhaltlich-theoretische Gerüst der die Gemälde und Objekte begleitenden Texte aus, die wenig bis gar nicht zu diesem schockierenden Tat­bestand Stellung nehmen.

Gemeint ist der Kulturbruch, der dazu führte, dass es nach 1945 nicht gelang – ja gar nicht versucht wurde –, an die innovati­ven sozialen und kulturellen Errungenschaf­ten der enorm revolutionären Zeit der künstlerischen »Wiener Moderne« anzu­schließen und somit den nachfolgenden Generationen ein wesentlicher Teil der eigenen Kultur/Geschichte vorenthalten wurde und bis heute wird. Diesem Mangel, der ohnedies kaum wett zu machen ist, ent­schieden und auf der ansehnlichen Arena eines großen Museums entgegen zu wirken, ist das ungeheure Verdienst dieser Ausstel­lung, die in langwieriger Recherchearbeit und mit großer Sorgfalt von der Kuratorin Sabine Fellner ausgerichtet wurde. Es darf gehofft werden, dass im Ausstellungswesen Wiens ab dato nichts mehr am alten Platz sein wird.

Ausstellungsende: 19. Mai 2019 (www.belvedere.at/stadt_der_frauen)

Stadt der Frauen – Führung mit Petra Unger
Es war höchst an der Zeit und wir können sie gar nicht oft genug zu sehen bekommen: Die Künstlerinnen der Moderne!

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Ab 22. März 2019 gehen die Frauenspaziergänge ins Untere Belvedere.
Auch hier finden sich bereits Termine auf http://frauenspaziergaenge.at
1. TERMIN: 22. März 2019 von 18 bis 19:30 Uhr, 12 Euro
2. TERMIN: 23. März 2019 von 11 bis 12:30 Uhr, 12 Euro

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