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HEIDE HAMMER im Gespräch mit SHERI AVRAHAM über das israelische politische System und »Mizrachi-Futurismus«, eine antirassistische und Trans-ethnizitäts-Position aus dem akademisch-künstlerischen Diskurs, die aber politisch wirksam werden will.
Am 9. April sind Parlamentswahlen in Israel. Worin liegen für Dich die deutlichsten Unterschiede in den politischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Österreich?
SHERI AVRAHAM: Wenn ich in Österreich über die politische Situation in Israel spreche, muss ich immer weiter ausholen. Viele wähnen sich informiert, aber meist speist sich dieses Wissen aus kleinen Versatzstücken über die Shoah und der hiesigen Presseberichterstattung, das wird der Situation nicht gerecht. Die historische Linke – Havoda – war die dominante Partei von der Staatsgründung 1948 bis 1977. Ich möchte erwähnen, dass in diesen Jahren bestimmte Gemeinschaften systematisch diskriminiert und ausgebeutet wurden. Der erste, der viel über die Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen gesprochen hat, war Menachem Begin. Er gründete 1977 eine neue Partei – den Likud. Diese Partei veränderte die gesellschaftspolitische Karte in Israel. Eine der wichtigsten Änderungen war eine neue sozialstaatliche Verteilungspolitik. Ich denke, dass das neue Format der neoliberalen populistischen Partei von Benjamin Netanyahu immer noch die Ressentiments der verschiedenen Minderheiten sammelt und dem Programm des Likud folgt, obwohl die derzeitige Partei weiterhin die weißen Privilegien für sich behält. Das historische Versprechen, Diskriminierungen entlang von Herkunftsregion und Hautfarbe zu beenden, wurde von der Koalition des Likud mit anderen – im israelischen Spektrum – rechtsgerichteten Parteien nicht eingelöst.
Ein Vergleich der letzten Wahlen in Europa mit den aktuellen israelischen Wahlen zeigt, dass es auch in Israel Radikalisierungstendenzen der Rechten und Rechtsextremen gibt. Einer der Hauptunterschiede in Israel besteht darin, dass auch die Opposition gegen diese extrem rechten Parteien ist und sich selbst in der Mitte der politischen Landschaft positioniert und nicht, wie in Europa rezipiert, links. Seit Oslo 1993 wurde das Wort »links« zu einem abwertenden Begriff und Yitzhak Rabin war der erste, der es als solches verwendete. 1992 beschuldigte er während der Vorwahlen der Havoda-Partei seinen Gegner und Parteimitglied Shimon Peres, ein »Linker« zu sein. Im Gegensatz zu Europa unterscheiden sich in Israel die linken und die rechten Partei vor allem in der Frage der Staatsbürgerschaftsidentität: Jüdisch-Demokratisch oder Demokratisch-Jüdisch (ich beziehe mich auf die aktuelle Wahl). Das politische Spektrum zeigt drei großen Parteien, das ist sehr ähnlich: Left – Havoda, Center – Kachol-Lavan, Right – Likud. Dennoch ist das Rätsel, wie die Linke mit den Intifada-Aufständen nach dem Osloer Abkommen assoziiert wird, die Rechte aber von der 2. Evakuierung (Sinai 1982 und Gazastreifen 2005) und dem Friedensvertrag mit Ägypten 1979 abgekoppelt ist, noch unbeantwortet. Ich hoffe, dass mir ein übertriebener Pessimismus vorgeworfen wird, wenn es im Mai 2019 einen neuen Ministerpräsidenten geben wird.
Du beschäftigst Dich seit geraumer Zeit mit »Mizrachi-Futurismus«. Kannst Du uns den Begriff und die Bedeutung der Auseinandersetzung damit erklären?
SHERI AVRAHAM: Nun, der Ursprung des Wortes Mizrach(i_im) liegt im arabischen Mashriq. Es wurde verwendet, um den östlichen Teil des geopolitisch-kulturellen Raums Asiens im Gegensatz zum westlichen Maghreb zu beschreiben. Seit 1948 wurde der Begriff viel diskutiert und ständig neu formuliert. In diesem Begriffsuniversum spielen also Elemente wie »Orientalen«, »Sephardim«, »Arabische-Juden«, etc. eine gewichtige Rolle. Der Aspekt, der mich an diesem »Neu-Mizrachim«, am meisten beschäftigt, ist die Frage der kollektiven Identität einer minoritären oder subalternen Gruppe.
Mizrachi-Futurism bezieht sich auf den Afrofuturismus. Dieser gründet seine Kraft auf dem historischen Wissen – auf Mythologien und afrikanischen Symbolen. Diese miteinander verwobenen Elemente bieten neue Bilder für eine gleichberechtigte Gesellschaft. In Literatur, Musik und Filmen des Afrofuturismus sind Elemente von Science und Fiction, Techno-Kultur, historische Fiktion, Mythologie und Afrozentrik zu einem Kosmos verwoben, der eine positive alternative Zukunft bietet. Darüber hinaus wird der Afrofuturismus aber auch zu einer Quelle und einem Hinweis auf andere Minderheitengruppen, die für sich eine Zukunft ohne die Strukturen von Ausgrenzung und Diskriminierung darstellen wollen. Neben anderen zeitgenössischen futuristischen Künsten gibt es auch: Arab-Futurismus, Muslim-Futurismus, Roma-Futurismus, Techno-Orientalismus, etc.
Wie kommen diese Aspekte einer Kulturästhetik mit politischen Kämpfen zusammen?
SHERI AVRAHAM: Ich arbeite aus einer postkolonialen Sicht an einem neuen Identitätsdiskurs. Oder um mit Ruby Sircar zu sprechen, es geht – wie in ihrem gleichnamigen Buch Liquid Homelands ausgeführt, um die Suche nach einem imaginativen Raum, der durch Popkultur und Oral-History geschaffen wird. Liquid Homelands sind die Homelands von transnationalen, transethnischen und Migrationsgemeinschaften, die mit mehr als einem Raum, mit mehr als einer Geschichte verbunden sind. Es geht in Israel, obwohl ich Angehörige der zweiten resp. dritten Generation migrierter Familien bin, um die Frage der Nicht-Zugehörigkeit und zugleich um ein sich wie zu Hause fühlen, das aber sehr stark aus einer Verflechtung von Geschichten, Gerichten und musikalischen Einflüssen bestimmt wird.
In diesem Kontext des widerständigen und nach Gleichberechtigung strebenden, popkulturellen und gesellschaftspolitischen Kampfes gibt es eine vielstimmige Tradition, die in Formen der futuristischen Kunst oder generell dem Begriff des Afrofuturismus gefasst werden kann.
Welche Bedeutung hat heute die Dichotomie von Mizrachim und Ashkenazim? Welche Klassenzugehörigkeit und welche Ausschlüsse werden womit reproduziert?
SHERI AVRAHAM: Schon ein, zwei Generationen vor mir zeigten sich enttäuscht vom Konzept der Sabra, damit sind in Israel geborene Personen gemeint und stellten die etablierte Dichotomie von Ost- und Westjuden und -jüdinnen, also Mizrachim und Ashkenazim in Frage. Bereits 1971 organisierte sich eine Gruppe, um gegen Armut und ethnische Ungleichheit zu protestieren, die weit verbreitet und normalisiert waren. Mit Hilfe der Black Panther-Bewegung in den USA organisierten sie Proteste und Aktionen, die sich auf viele Teile des Staates ausbreiteten: »Nenn mich nicht Arbeiter, ich bin ein Panther.«1 Diese israelischen Black Panthers waren eine gesellschaftspolitisch revolutionäre Bewegung, die einen historischen Meilenstein in den sozial-ethnischen Kämpfen setzte. Sie sind auch Teil der parlamentarischen Arbeit mit der Chadasch Partei – Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung.
Meine Generation beschäftigt sich mit der Suche nach der Beantwortung der Frage: »Wie fühlt man sich als Problem?«, wie W.E.B. Du Bois es definiert hat. Wir erkennen die fluide Farblinie (Colour-Line) und die Ausgrenzung auf Grundlage der Ethnizität. Und davon ausgehend beschäftigen wir uns auch mit anderen Einflüssen, forschen zu anderen Begriffen und Geschichten. Die Shoah spielte sich nicht nur in Europa ab, Jüdinnen und Juden wurden im gesamten Maghreb diskriminiert, interniert und viele kämpften gegen Vichy-France in der Freien Französischen Armee. Wir beschäftigen uns auch mit jüdischen Gemeinschaften in Indien, dem Jemen oder dem Irak, mit den Herkunftszusammenhängen unserer Familien.
Angehörige dieser Trans-ethnizität-Generation sind voller Wut und haben das Ziel, das zu reparieren, was in den Generationen ihrer Vorfahren gebrochen wurde. Indem sie den Kanon der Geschichtsschreibung aus jeder möglichen Perspektive herausfordern, schaffen sie neue Bildungsprogramme an Schulen und Universitäten, in der Kunst, Literatur, im Kino und in den Massenmedien.
Wie zeigt sich nun der Einfluss einer Black Radical Tradition auf die Mizrachi Gemeinschaften? Gibt es dabei auch feministische Aspekte?
SHERI AVRAHAM: Dieser Einfluss ist in der gesamten Geschichte der Mizrachi Gemeinschaften zu finden. Wir können Prozesse der Übersetzung und Anpassung der Afrikanischen Diaspora Praxis, Theorie und Kultur in den israelischen Raum finden. Diese Übersetzungsprozesse sehen wir auch in der Etablierung der Bewegung der israelischen Black Panthers in den 70er Jahren, die sich von den Black Panthers Formen des Widerstands und ein neues Verständnis von Politischen Gemeinsamkeiten angeeignet hat. Auch die Mizrachi feministischen Bewegungen fanden ein Vokabular, um ihre Forderungen zu formulieren, indem sie sich auf die schwarzen feministischen Denker_innen und Aktivist_innen aus den USA bezogen. Frauen wie bell hooks haben nicht nur das Denken im Aktivismus verändert, sondern vielmehr hat die Analyse des Rassismus in der Populärkultur die Massenmedien in Israel grundlegend verändert.
In welchem Verhältnis steht auch deine jüdische Identität zu einem Entwurf von Trans-ethnizität? Die Frage der Staatsbürger_innenschaft und der damit verbundenen Rechte erstreckt sich alltagspraktisch weit über die Teilnahme an Wahlen.
SHERI AVRAHAM: Ich halte es in dieser Auseinandersetzung mit Meir Amor, er schreibt in einem sehr lesenswerten Sammelband2 zum Konzept der Staatsbürger_ innenschaft: »Ein politischer Standpunkt ist einer, der sich in der Frage der jüdischen Privilegien positioniert und behauptet, dass integrative und gemeinsame Staatsbürgerschaft nicht aus festen Monologen kultureller Identität hervorgeht. Die Staatsbürgerschaft kann durch transkulturelle Aktivitäten wachsen…«
»Mizrachim« ist dabei der Begriff, der den gemeinsamen Nenner bildet. Er umfasst eine Erfahrung des Kampfes gegen strukturellen Rassismus und alltägliche Diskriminierung, eine Erfahrung der globalen Diaspora- und Migrationsgemeinschaften. Diese Definition ist fließend und positiv, eine Erklärung von Strategien, Aktionen und Zielen. Sie kann Solidarität im Raum der Differenz schaffen, eine Grundlage für effektives politisches Handeln.
Sheri Avraham wurde 1979 in Beit Dagan geboren und lebt seit 2006 in Wien. Sie ist Künstlerin, Theatermacherin und Kuratorin, derzeit auch Vorsitzende der IG BILDENDE KUNST.
1 Said, Shalom (1971): Don’t call me a worker, I am a panther. In: about the black panther, (V1605), page 6.
2 G. Abutbul, L. Grinberg and P. Muzafi-Haler (editors). Mizrahi Voices: Toward a New Discourse on Israeli Society and Culture. Tel-Aviv: Masada. 2005 (Hebrew)
Ende letzten Jahres hatte ich Gelegenheit, auf Einladung von transform! europe Vilnius (Litauen) zu besuchen, um zunächst am dortigen Staatlichen Jugendtheater einen Vortrag über unsere experimentelle politische Theaterarbeit zu Bertolt Brecht in Wien (FLEISCHEREI_mobil 2018) zu halten, gefolgt von einem weiteren Vortrag an der Litauischen Musik- und Theaterakademie, und mich mit Künstler*innen und Intellektuellen zu treffen. Es war dies mein erster Besuch in dieser Kulturhauptstadt, der im Laufe ihrer Geschichte so viel Leid zugefügt wurde, sowohl durch die deutsche Besatzung, die russische Unterdrückung und – aktuell – die Vernachlässigung durch Europa und seine Institutionen. Zusätzlich zu den Vorträgen und den verschiedenen intensiven Gesprächen mit Theaterleuten und Kolleg*innen von der Linken, habe ich die Stadt besichtigt, u. a. den alten Bezirk im Rahmen einer speziellen Führung durch das jüdische Vilnius, die die einzige verbleibende Synagoge der Stadt umfasste. Vor dem Krieg hatte die Einwohner*innenschaft von Vilnius zu 40 % aus Jüd*innen bestanden. An die 200.000 sogenannte Litwak-Jüd*innen kamen im Holocaust um, eine unvorstellbare Anzahl für ein derart kleines Land. Heute jedoch sind Künstler*innen, Intellektuelle und Aktivist*innen wieder auf dem Vormarsch und stehen als Mitbegründer*innen von DEMOS im internationalen Austausch. Anlässlich meines Besuches führte ich das folgende Interview mit den beiden Begründer*innen von DEMOS, Andrius Bieleskis, einem Professor für politische Philosophie an der Mykolas Romeris Universität von Vilnius, und mit Jolanta Bilskiene, einer Politikwissenschaftlerin und politischen Aktivistin.
Eva Brenner: Wie kam es überhaupt zur Entstehung der Organisation DEMOS?
ANDRIUS BIELSKIS: Im Jahr 2006 kam ich von meinem Studium in Großbritannien zurück und stellte fest, dass es in meiner litauischen Heimat keinerlei nennenswerte linke Intelligenz gab. Wir begannen mit der Gründung der »Neuen Linken 95« und ich verfasste ein aus 45 Thesen bestehendes Manifest. Dessen wichtigster Gedanke war, dass wir, die linke Intelligenz, den liberalen Status quo satt hatten und es einer Organisationsstruktur für Treffen, Veranstaltungen und Diskussionen bedürfe. Von Anfang an beabsichtigten wir nicht die Gründung einer eigenen Partei, es sollte sich vielmehr um eine gesellschaftspolitische Bewegung handeln. Wir begannen damit, Menschen aus der Linken Litauens einzuladen, Künstler*innen, Intellektuelle, die meisten von ihnen hochgebildete Menschen, die im Ausland, zumeist in Westeuropa, studiert hatten. Ungefähr ein halbes Jahr lang trafen wir uns in verschiedenen Cafés in Vilnius, bevor wir schließlich so weit waren, das gemeinsame Manifest zu veröffentlichen. Am 1. Mai 2006 gaben wir die Gründung von »95« bekannt, in Anspielung auf Luthers 95 Thesen und die DOGMA 95-Bewegung zur Erneuerung des Films.
Habt ihr jemals daran gedacht bzw. überlegt, in Litauen eine neue Linkspartei zu gründen?
JOLANTA BIELSKIENE: Es wurde bald sehr modern, sich der Bewegung anzuschließen. Wir hielten Treffen ab, organisierten Lesegruppen und veröffentlichten Bücher. Eine äußerst emotional geführte Debatte entbrannte um die Frage: »Müssen wir eine Partei gründen?« Ich meine einerseits, dass dies von Erfolg gekrönt gewesen wäre, da eine Bewegung dahinter stand und wir politisch immer mehr nach links rückten. Aber die Mehrheit dachte, dass es besser sei, weiterhin ein Think Tank zu bleiben, der Diskurse anregen und die öffentliche Meinung beeinflussen könnte.
ANDRIUS BIELSKIS: Das ist es, was wir sind und von dem wir wissen, wie es zu tun ist! Eine unserer Hoffnungen war, eine alternative Universität zu errichten, um politische Führungskräfte aus der Basis auszubilden, jedoch hatten wir für ein solches Projekt niemals genug Geld. Zum Glück erhielten wir gelegentlich Unterstützung von der deutschen Rosa Luxemburg-Stiftung, allerdings nur für einzelne Veranstaltungen.
JOLANTA BIELSKIENE: Beinahe all unsere Aktivitäten passierten auf ehrenamtlicher Basis. Einige unserer Publikationen wurden Litauischen Kulturrat kofinanziert; wir veröffentlichten unsere Essays und Kommentare auch in den Mainstream-Medien. Unsere Veranstaltungen und Forschungskreise befassten sich mit sozialen und politischen Themen wie z. B. der Armut.
Wie haben die bestehenden Kräfte und die Regierung auf euch reagiert?
ANDRIUS BIELSKIS: DEMOS präsentierte eine scharfe Kritik am gesamten politischen Spektrum, von der Rechten bis zur SP (den Sozialdemokraten), in der sich heute die meisten aus der früheren KP (Kommunistischen Partei) wiederfinden. Die Reaktion auf uns war ambivalent, wir stellten das System in Frage. Aber manche fanden uns auch gut, als wir zu Auftritten im Fernsehen und Radio eingeladen waren.
JOLANTA BIELSKIENE: Diese Entwicklung war allerdings um 2014 zu Ende, als sich das politische Klima Richtung rechts wandelte.
Was ist passiert?
JOLANTA BIELSKIENE: Seit 2010 verzeichnen wir eine Zunahme des Nationalismus, der die Ängste der Menschen instrumentalisierte. Eine entscheidende Veränderung ist jedoch nach dem Krieg auf der Krim eingetreten. Antieuropäische Einstellungen nahmen ab, während historisch bedingte Ängste vor einer russischen Aggression zunahmen. Man darf ja nicht vergessen, dass zu unterschiedlichen Zeiten im Laufe der Geschichte der Großteil der litauischen Bevölkerung sehr unter der russischen Besatzung gelitten hat.
ANDRIUS BIELSKIS: Wir leisteten Widerstand gegen die Neonaziaufmärsche, auf denen wir riesige Schilder mit der Aufschrift »Stopp Faschismus!« trugen. 2009 und 2010 war hierzulande der Höhepunkt der Neo-Nazi-Bewegung. Gleichzeitig damit setzte eine Diskussion über den Holocaust ein, und zwar das erste Mal in Litauen seit 1945, eine Reaktion auf die rechtsgerichtete Propaganda mit Parolen wie »Litauen den Litauern!« Neonazis behaupteten, dass die Swastika ein heidnisches Symbol sei und deshalb zugelassen werden sollte.
JOLANTA BIELSKIENE: Ein weiteres Moment bestand darin, dass Mitglieder der Neuen Linken beschuldigt wurden, russische Agenten zu sein, obwohl und während wir gleichzeitig Putin als rechtsgerichtet kritisierten.
ANDRIUS BIELSKIS: Zum Beispiel ist es durchaus möglich (obwohl wir dessen natürlich nicht hundertprozentig sicher sein können), dass die DEMOS-Webseite vom staatlichen Geheimdienst gehackt worden ist; bis heute funktioniert sie nicht mehr richtig.
Worin bestehen heute die Aktivitäten von DEMOS? Und, zweite Frage: Seid ihr auch im Rest des Landes aktiv oder in erster Linie in Vilnius?
ANDRIUS BIELSKIS: Wir haben Mitglieder und Anhänger*innen in Klaipėda und Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, und auch in einigen kleineren Orten. Die meisten von uns unterrichten an Universitäten und verbreiten so die Neuigkeiten. Es gibt der Bildung gewidmete Veranstaltungen, Filmvorführungen, Lesekreise und die Distribution unserer Publikationen im ganzen Land. Allerdings finden inzwischen unsere Aktivitäten immer unregelmäßiger statt und ist es schwieriger geworden, sie aufrecht zu erhalten.
Würdet ihr sagen, dass ihr die »Arbeiter*innenklasse« erreicht?
ANDRIUS BIELSKIS: Ja, aber noch nicht in ausreichendem Maße! Wir erreichen die Klasse durch öffentliche Veranstaltungen und unsere Bücher, man findet uns in allen größeren und kleinen Bibliotheken, in Zeitungsartikeln, wir haben Kooperationen mit den Gewerkschaften und unterstützen deren Bildungsarbeit. Insgesamt ist die Verbreitung radikalen, kritischen Gedankenguts unser Geschäft.
JOLANTA BIELSKIENE: Wir erlebten die Grenzen, die einer Bewegung wie der unseren gesetzt sind. Das ist nur allzu verständlich, sind wir doch alle nur Menschen. Ich bin auch in unserer feministischen Bewegung aktiv, habe ein litauisches Sozialforum initiiert. In den letzten Jahren haben wir zahlreiche Straßenaktionen durchgeführt, sind in die Politik gegangen und haben versucht, die Sozialdemokratische Partei von innen heraus zu ver ändern. Eine Zeitlang war ich sogar deren Kandidatin, arbeitete als öffentliche Beraterin zu Bildungs- und Wissenschaftsthemen für den von der SP gestellten Ministerpräsidenten. Wir waren der Meinung, dass wir mit unserem kritischen Denken Einfluss dahingehend ausüben könnten, sie Richtung links zu verschieben. Es kam dann allerdings ein Punkt, an dem ich erkannte, dass ich sehr wenig bewirken konnte. Das stellte sich beinahe als eine »Mission impossible!« heraus.
Was waren eure Schlussfolgerungen daraus? Werdet ihr am Aufbau der Organisation von DEMOS weiterarbeiten?
JOLANTA BIELSKIENE: Seit ich alle meine Positionen in der SP aufgegeben und mich von der aktiven SP-Parteipolitik zurückgezogen habe, bin ich sehr kritisch geworden. Politik bedeutet Macht, und Macht hängt letzten Endes vom Geld ab und Geld korrumpiert die Menschen. Ich erkannte, dass ich andere Werte im Leben habe. Und ich glaube, dass DEMOS wieder lauter werden muss!
ANDRIUS BIELSKIS: In den letzten 15 bis 20 Jahren haben Aktivist*innen von DEMOS ihre Jobs verloren, viele haben ihre Karrieren eingebüßt. Momentan erleben wir eine große Fluktuation. Unter unserem Einfluss sind einige Mitglieder der SP nach Mitte-links gerückt, einige aus der jungen Führungsriege der SP kommen direkt aus der Linken. Wieder andere, die mit DEMOS weitermachen wollen, rufen jetzt nach einer neuen Linkspartei.
JOLANTA BIELSKIENE: Ich würde behaupten, dass etwas wie eine neue Kraft noch immer fehlt. Viele verlassen jetzt die Sozialdemokratische Partei, weil sie nicht links genug ist. Sie fühlen sich politisch im Stich gelassen und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen.
ANDRIUS BIELSKIS: Es braucht DEMOS und die Neue Linke dringend, vielleicht sogar mehr als je zuvor. Dabei ist die wichtige Frage, wie wir unsere Bewegung neu beleben können. Ich habe den Eindruck, dass gerade in der jüngeren Generation etwas Neues im Entstehen ist, in der Generation also, die in ihrer überwiegenden Mehrheit für eine neue Linkspartei ist. Sie sind es, die die notwendigen nächsten Schritte machen werden. Und ja, wir werden unsere Arbeit fortsetzen!
DEMOS – Institut für Kritisches Denken wurde 2008 als NGO gegründet, deren Mission darin besteht, eine einflussreiche Stimme beim Zustandekommen alternativer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in Litauen zu sein. Um diese Mission erfüllen zu können, hat DEMOS zehn Jahre lang seine Forschung gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Alternativen gewidmet, wobei ein besonderer Fokus auf die Arbeiter*innenbewegung und ihre Bedeutung für die Formulierung von Politik gelegt wurde.
DEMOS hat zahlreiche Aktivitäten zur Stärkung und Konsolidierung der Gewerkschaften in Litauen organisiert (wie z. B. den »Sklavenmarkt« vor dem Präsidentenpalast oder die Schaffung progressiver Vereinigungen der Lohnarbeitenden, wobei es die Bildungsarbeit für die Mitglieder übernommen hat).
Alljährlich führt das DEMOS-Institut Bildungsveranstaltungen, Seminare und Vorträge für politische und Gewerkschaftsaktivist* innen durch und verbreitet so seine Expertise. Außerdem betreibt DEMOS ein kleines alternatives Verlagshaus.
Neben dem belgischen Gewerkschafter Nico Cue ist Violeta Tomić die Spitzenkandidatin der Europäischen Linken (EL) für die Europawahl, genauer gesagt, für die Kommisionspräsidentschaft. Diese Funktion wird nach der EU-Wahl vom Europäischen Rat nominiert und letztlich durch das Parlament mit einfacher Mehrheit gewählt. Die Entscheidung der EL, Tomić und Cue aufzustellen, ist in erster Linie Ausdruck des gemeinsamen Bemühens der in der Europäischen Linken kooperierenden Parteien, eine Alternative zu den vom herrschenden Block in der EU bestellten »Regierungschef« sichtbar zu machen.
Violeta Tomić ist stellvertretende Koordinatorin der slowenischen Partei »Levica« (Linke). Geboren 1963 in Sarajevo, aufgewachsen in der Bela krajina im Südosten Sloweniens, lebt sie seit langem in Ljubljana. Neben Luka Mesec ist sie die in der slowenischen Bevölkerung bekannteste Levica-Repräsentantin; das hat auch mit ihrem – mittlerweile nicht mehr ausgeübten – Beruf als Schauspielerin zu tun. Nach der Absolvierung der Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen in Ljubljana im Jahre 1985 wurde sie 1987 vom Stadttheater Ljubljana engagiert, übernahm viele TV-Rollen und arbeitete ab 2002 als Selbständige mit allen slowenischen institutionellen und unabhängigen Theatern. Sie ist Trägerin einer Reihe von Schauspielpreisen. 2014 und erneut 2018 wurde sie als eine von neun Parlamentsabgeordneten auf der Liste der »Levica« in das slowenische Nationalparlament gewählt und bekleidet dort die Funktion der Vorsitzenden des parlamentarischen Kulturausschusses. Zudem ist sie Mitglied des parlamentarischen Landwirtschafts-Ausschusses und des Ausschusses für SlowenInnen im Ausland. Heuer wurde sie im Europarat zur Chef-Berichterstatterin für die Rechte der LGBTI-Bevölkerung ernannt.
Violeta Tomić hat auf bilateraler Ebene ebenso wie auf der Ebene des Interregionalen Forums der Europäischen Linkspartei in der Region Alpen-Adria immer wieder auch mit Österreich bzw. vor allem mit der KPÖ Kärnten/Koroška zu tun (die Volksstimme hat mehrmals darüber berichtet).
Warum heute so viele an der Zukunft Europas zweifeln? Ihre Antwort auf diese Frage: »Weil die Bevölkerungen Europas keinen Einfluss haben auf Schlüsselbereiche, die ihr Leben unmittelbar betreffen. Weil Europa undemokratisch ist. Sogar die MandatarInnen im Europäischen Parlament haben nur wenig mitzureden. Die EU wird derzeit von nicht gewählten BürokratInnen der Europäischen Kommission regiert, und das Tempo geben 80.000 LobbyistInnen vor, die sich in Brüssel festgesetzt haben. Wir glauben allerdings an ein anderes Europa. An eines, in dem die Interessen der Bevölkerungen ganz oben stehen. Ein solidarisches, soziales und umweltbewusstes Europa. Der Brexit beweist, dass die Rechte keinerlei Antworten auf die Krise in Europa hat. Die neoliberale Mitte hat die Verantwortung für den Aufschwung der extremen Rechten, die den sozialen Frust vieler Menschen auf ihre Mühlen lenkt.«
Österreichs erfolgreiche Politik-Orientierungshilfe wahlkabine.at will auch zur EU-Wahl online gehen. Doch dafür braucht es die Unterstützung der »Crowd«. Die Volksstimme sprach mit Redaktionsmitglied Dorian Sauper.
40 Mal stand die Wahlkabine den Wählern und Wählerinnen bereits zur Verfügung. Nun sammelt ihr über die Onlineplattform www.respekt. net erstmals Spenden, um auch zur kommenden EU-Wahl eine Orientierungshilfe anzubieten. Was hat euch zu diesem Schritt veranlasst?
DORIAN SAUPER: Wahlkabine.at war immer ein Projekt, mit dem wir Fakten und Sachpolitik statt Polarisierung und Personenwahlkampf in den Mittelpunkt stellen wollten. Das ist 2019 noch wichtiger als 2002, wo wir zum ersten Mal online gegangen sind. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, bei der Finanzierung auf die vielen NutzerInnen der Wahlkabine zu setzen, die das Tool als einen wichtigen Beitrag einer informierten Öffentlichkeit sehen. Crowdfunding ist auch ein demokratiepolitisches Mittel, das gut zum Selbstverständnis von Wahlkabine passt, genauso wie zum Selbstverständnis von unseren UnterstützerInnen als informierte WählerInnen.
Bei der letzten Nationalratswahl nutzten 1,2 Millionen Menschen die Wahlkabine zur zusätzlichen Orientierung. Offenbar gibt es also einen Informationsbedarf, den die klassische Medienlandschaft nicht abdeckt. Welche Lücken in der politischen Informationsvermittlung füllt ihr?
DORIAN SAUPER: Wahlkabine.at und klassische Medien übernehmen einfach unterschiedliche Aufgaben. Ich sehe uns da nicht die Zeitungen ablösen, sondern eher die Parteien selber in der Pflicht, die ihre Inhalte zunehmend hinter Kampagnen und Personenwahlkämpfen verschwinden lassen. Gleichzeitig decken wir ein breites Feld politischer Themen ab. Da gibt es wenig Raum für Schwammigkeit. Wir beziehen dabei viele Informationen aus den klassischen Medien ein, mit denen wir die Parteienantworten auf Richtigkeit überprüfen, und die InnenpolitikredakteurInnen wichtiger Zeitungen sitzen bei uns in der Redaktion. Das ist also eher eine Symbiose, würde ich sagen.
Auf eurer Homepage schreibt ihr, dass es schon immer schwierig war, öffentliche Unterstützung für das Projekt zu sichern. Welche öffentlichen Stellen haben euch bisher unterstützt?
DORIAN SAUPER: Es war immer ein schwieriges Unterfangen, die Finanzierung unseres Projekts zu gewährleisten, da wir auf einer Seite, wo so sensible, politische Daten eingegeben werden, keine personalisierte Werbung schalten werden. Wir waren also immer auf Unterstützung angewiesen. Wir konnten in den letzten Jahren schon immer wieder auch öffentliche Stellen für unser Vorhaben gewinnen, beispielsweise das Bundeskanzleramt oder auch Universitäten oder Forschungseinrichtungen; Diesmal aber müssen wir ohne diese öffentlichen Gelder auskommen.
Hat es auch einen gewissen Reiz, gänzlich unabhängig von öffentlicher Finanzierung zu sein? Quasi einen Service von WählerInnen für WählerInnen anbieten zu können.
DORIAN SAUPER: An sich wäre es uns lieber, wahlkabine.at immer und ohne breite Unterstützung anbieten zu können, als selbstverständlichen Teil jeder Wahl. Und das ist schon eine öffentliche Aufgabe, bei der die öffentliche Hand ein Interesse an der Finanzierung haben sollte. Dazu kommt, dass so eine Crowdfunding-Kampagne auch eine Menge Arbeit und für uns ganz etwas Neues ist. Spannend natürlich, aber auch anstrengend.
Das Crowdfunding läuft über die zivilgesellschaftliche Plattform www.respekt.net. Eine Umsetzung der Wahlkabine ist ab 5.000 Euro angesetzt. Wenn die Grenze überschritten wird, werden zusätzliche Informationsmaterialen und Unterrichtsmaterial für Erstwähler Innen produziert.
In der Kernzone von Graz liegt der sogenannte »Pfauengarten«. Ein Areal, das lange im Besitz der Stadt war und vor Jahren an einen privaten Investor verkauft wurde. Nach dem Bau von Luxuswohnungen will dieser nun auch Einfluss auf den öffentlichen Park vor dem Gebäude – den Grazer Stadtpark – nehmen, wie TRISTAN AMMERER, Bezirksvorsteher von Gries, für die Volksstimme berichtet.
Die Privatisierung öffentlicher Räume und das immer stärkere Auftreten von Investor*innen in Fragen städtischer Entwicklung werfen überall dort, wo sie stattfinden, eine zentrale Frage auf: Wem gehört die Stadt? Meist wird diese Frage von jenen gestellt, die den genannten Entwicklungen etwas entgegenzusetzen versuchen. Von jenen, die oft vergeblich gegen Gentrifizierungsdruck kämpfen oder erleben müssen, wie in Städten sämtliche Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, wenn Investor*innen ihre Projekte umsetzen.
In Graz haben wir eine solche Entwicklung an dem besonders anschaulichen Beispiel »Pfauengarten« erlebt. Der sogenannte »Pfauengarten« bildete eine eigenständige Grünfläche zwischen Karmeliterplatz und dem Grazer Stadtpark. Bei Bauarbeiten für eine Tiefgarage stellte sich heraus, dass der »Pfauengarten« über einer archäologischen Fundstätte ungeahnten Ausmaßes lag. Siedlungsreste, bis in die späte Hallstattzeit datiert, wurden dort entdeckt. Manch eine*r sprach vom entdeckten »Ur-Graz«.
Sittenbild einer Privatisierung
Der »Pfauengarten« befand sich schon lange in städtischem Besitz. Geraume Zeit stand die Frage im Raum, was mit dieser Grünfläche geschehen soll. So wurden Anstrengungen unternommen, das Gelände in ein mehrstöckiges Museum zu verwandeln, um die wahrscheinlich wichtigste archäologische Fundstätte in Graz öffentlich zugänglich zu machen. Diesen und anderen Bemühungen wurde vor mehr als zehn Jahren durch den überraschenden Verkauf des ganzen Geländes an einen Großinvestor ein jähes Ende gesetzt. Als wäre dies nicht genug, wurden dem Investor auch beinahe 200 Meter der historischen Stadtmauer, um den Symbolpreis von 1 Euro und das Versprechen, sie in Stand zu halten, verkauft.
Ganz entgegen den Auflagen von Stadt und Land kam es ganz anders. Gewinner eines Architekturwettbewerbs wurde 2008 ein Entwurf, der die Auflagen nicht frecher missachten kann. Weder bekam der Karmeliterplatz seinen städteplanerischen Abschluss, noch wurde die maximal zulässige Bebauungsdichte eingehalten. Auch vom ursprünglichen Grünraum soll nichts erhalten bleiben. Um die Missachtung der ursprünglich erteilen Auflagen zu legitimieren, mussten Ausnahmegenehmigungen her, die von der Stadt auch flugs erteilt wurden.
Schockierten Denkmalschützer*innen und Öffentlichkeit wurde derweil verlautbart, dass im »Pfauengarten« Luxus-Wohnungen und Luxushotels errichtet werden sollen. Dies alles in einem monumentalen Beton-Bau mit einer rostbraunen Metall-Außenverkleidung und dem Anschein, eine möglichst katastrophale Klimabilanz zu erzielen.
Vom »Pfauengarten« zum Stadtpark
Doch es blieb nicht beim »Pfauengarten«, mit dem Stadtpark war in Folge auch das Wohnzimmer der Grazer*innen selbst bedroht. Wer sich eine Weile in Graz aufgehalten hat weiß, dass der Grazer Stadtpark von nahezu der ganzen Stadt genutzt wird. An lauen Sommerabenden machen es sich auf den Wiesen, die rund um den Pfauengarten liegen, oft mehrere Tausend Menschen gemütlich.
Aus Befürchtung, dass Eigentümer*innen von Luxuswohnungen sich von den bis dato ungestört feiernden Grazer*innen vor ihrer Haustüre gestört fühlen könnten, begann eine breite Mobilisierung. Unter Parolen wie »Der Stadtpark ist nicht Vorgarten der Reichen!« wurde gegen das Projekt mobilisiert. Umgesetzt wurde es dennoch ohne Rücksicht auf die Proteste.
Viele Grazer*innen zogen daraus eine bittere Lehre: Die Stadt gehört den Bürger*innen nicht, sondern jenen, die fähig sind, sich diese zu kaufen. Das Projekt »Pfauengarten« wurde schließlich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren durchgesetzt, ohne dass auf Bedenken der Bevölkerung oder Proteste Rücksicht genommen worden wäre.
Größenwahn von Investor*innen gegen den Widerstand der Bevölkerung
Doch auch heute, 2019, ist das Projekt »Pfauengarten« noch nicht zur Ruhe gekommen. Die von Aktivist*innen geäußerten Befürchtungen, die Bezieher*innen der Luxuswohnungen würden gegen die Parkkultur vorgehen, haben sich als Prophezeiungen entpuppt. Mehrere Wohnungseigentümer*innen im »Pfauengarten« decken das gesamte nahe Umfeld mit Klagen und Anzeigen ein. Das betrifft zum einen die Event- und Clubkultur, reicht aber sogar bis zur Betreibergesellschaft der Tiefgarage am »Pfauengarten« selbst.
Die Lehre aus dem Projekt »Pfauengarten« ist, dass sich in Graz Investor*innen aufführen können, wie auch immer sie wollen, und dies mit Rückendeckung der Stadt. Blickt man in Berichte zur Grazer Stadtentwicklung, meint man sich in einen Themenpark verirrt zu haben: Murgondeln, Plabutschgondeln, Schlossberggondeln – keine noch so kleine Erhebung, für die die Stadt nicht schon Pläne für ein Gondelsystem verlautbart hätte. Sogar eine Schifffahrtsgesellschaft entlang der in Graz extrem schnell fließenden Mur ist im Gespräch. Dazu gesellen sich Projekte wie das Murkraftwerk, die sich gerade in Bau befindliche Augarten-Bucht, ein Verkehrskonzept, dass an den Grenzen des ersten Bezirks einfach aufhört, oder die zuletzt verlautbarte Idee einer gigantischen Bienenstock-Autogarage unter dem historischen Eisernen Tor in der Altstadt. Diesen Projekten gemein ist, dass sie gegen den hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden. Das ewige Lied in einer Stadt, die dem Größenwahn von Investor*innen und einem dafür nur allzu empfänglichen Bürgermeister verfallen ist.
Wachstum für wen und in welche Richtung?
Graz hat soeben Hamburg als am stärksten wachsende Stadt des deutschsprachigen Raums überholt. Die wirklich dringenden Fragen aber bleiben in Graz völlig unbeantwortet. Wie bewältigt die städtische Infrastruktur, deren Ausbau seit Jahrzehnten stagniert, den massiven Bevölkerungszuwachs? Wie gehen wir mit den mehr und gefährlicher werdenden Hitzetagen um? Und natürlich: Was wollen wir gegen die Luftverschmutzung unternehmen, die inzwischen weit im gesundheitsschädigenden Bereich liegt?
In diesen Fragen bleibt die Stadtregierung, insbesondere der Grazer Langzeit-Herrscher Siegfried Nagl bis heute jede Antwort schuldig. Die Investor*innen freuen sich zwischenzeitlich schon, mit dem Nord-Gries einen weiteren Bezirk als Spielwiese zur Gentrifizierung vorzufinden. Hauptsache der Rubel rollt. Der »Pfauengarten« lässt grüßen.
Die Regierung setzt auf »Othering« (Anders-Machung) und Fremdzuschreibungen statt auf Dialog und Respekt vor Diversität
Sattsam bekannt ist, dass die Bundesregierung Themen, die die Gesellschaft spalten, dazu benutzt, um von den wirklichen Sorgen, die sie uns tagtäglich mit ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik beschert, abzulenken. Auch ist es kein Geheimnis, dass es »der Islam« ist, an dem sie ihre Spaltungs- und Entsolidarisierungspolitik festmacht, auf dass muslimische Menschen ungeniert diskriminiert und ihre Lebenspraxis abgewertet werden darf.
Aktuell geht es wieder einmal um das Kopftuch. Soeben in Begutachtung befindet sich nämlich ein von FPÖ-Rosenkranz, Mölzer jr. u. a. eingebrachter Initiativantrag zur Änderung des §43a SchUG (Schulunterrichtsgesetzes). Dieser sieht ein Verbot des Tragens »weltanschaulich und religiös geprägter Kleidung« bis zum 10. Lebensjahr vor, was zur »sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Bräuchen« führen soll.
Bei Verstoß sind die Schulleiter*innen dazu verpflichtet, die betreffenden Eltern bei der Bildungsdirektion zu denunzieren. Die Eltern werden danach zu einem Gespräch in die Bildungsdirektion vorgeladen und »über ihre Verantwortung aufgeklärt«. Kommen sie dieser »Einladung« nicht nach oder wird neuerlich gegen die Regelung verstoßen, ist eine Strafe von 440 Euro bzw., bei Uneinbringlichkeit, eine Ersatzfreiheitsstrafe von bis zu vier Wochen fällig. In der Begründung heißt Es zählt, wie eine Bekleidung »von Abgesehen von der ungustiösen Bestrafungspolitik, der offenen Missachtung der Rechte muslimischer Eltern und der ungenierten Abwertung dessen, was als »fremd« wahrgenommen werden soll, basiert derlei Gesetzgebung auf plattesten Zuschreibungen. So gälte es, für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung muslimischer Mädchen zu sorgen, die als grundsätzlich von Unterdrückung bedroht imaginiert werden.
Aus meiner langjährigen Berufspraxis an öffentlichen Schulen weiß ich, dass es für das Selbstbewusstsein eines Mädchens egal ist, ob es Kopftuch trägt oder nicht bzw., ob sie Muslima ist oder nicht. Faktoren wie soziale Herkunft, Gewalt gegen Frauen, (finanzielle) Abhängigkeit der Mütter usw. spielen eine Rolle, wenn es darum geht, wie ein Mädchen in der Welt steht. Unterstellungen und Pauschalisierungen, wie sie mit dieser geplanten Gesetzesänderung in Stein gemeißelt werden sollen, ziehen Grenzen zwischen Menschen und errichten Mauern im Denken und in der Wahrnehmung. Viel sinnvoller wäre es, unsere Regierung würde sich um soziale Gerechtigkeit, antirassistische Gesetzgebung und Frauenrechte kümmern.
Es muss jeder Frau selbst überlassen sein, wieviel von ihrem Körper sie öffentlich zur Schau stellen will. Die Autonomie ihrer Entscheidung gilt es zu sichern und zu respektieren. Es kann nämlich durchaus sein, dass eine Frau die Verhüllung als Selbstschutz (vor männlichen Blicken und Übergriffen) empfindet. Auch dies muss (denk-)möglich sein. Wo steht geschrieben, dass die in der westlichen Kultur übliche frühzeitige Sexualisierung und Zurschaustellung des Frauenkörpers der beste Weg ist, für ein Mädchen in der Welt zu sein? y einem objektiven Betrachter« gesehen wird; dabei kommt es nicht auf die Absicht des Trägers an, sondern ist es entscheidend, wie diese »von Dritten rezipiert« wird. Deutlicher kann man einen monokulturellen Hegemonieanspruch kaum mehr festschreiben. Es zählt nur, was ich sehe und denke, deine Sicht bedeutet nichts, gar nichts.
»Inseeel, Donauinseeel«. Szenen wie diese sind dank Elizabeth T. Spira vielen Österreicher_innen ins Gedächtnis geschrieben. Mir ihren tiefgehenden Reportagen sowie ihren berührenden und aufrüttelnden Geschichten über den Alltag und die Liebe hat Spira Österreich nachhaltig geprägt. Es gehe ihr nicht ums Verändern, sondern darum zu verstehen, hat sie einmal gesagt. Ihr Vater kämpfte für einen politischen Wechsel in Spanien bei den Internationalen Brigaden, aus Österreich musste er als Jude und Kommunist vor den Nazis fliehen. Durch Glück bekam er, der als Decknamen »Toni« nutzte, ein Visum nach England. Dort lernte er die Mutter von Elizabeth kennen, die mit einem Kindertransport aus Österreich auf die britische Insel in Sicherheit gebracht worden war.
So kam Elizabeth Toni Spira in Glasgow auf die Welt. Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in England, bevor sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Österreich kam – in jenes Land, welches einen großen Teil ihrer Familie ermordet hatte. Von Geburt an umgeben von Personen, die in der Illegalität gekämpft haben, habe sie gewusst, sie könne keine Heldin werden. Sie sei dazu auserkoren, diese Geschichten zu erzählen. Spira wollte verstehen: Die Menschen und die Erlebnisse, die sie geformt haben – die guten sowie die schwierigen.
Denkmal des Alltags
Ihre journalistische Karriere startete Spira beim Nachrichtenmagazin »Profil«, wechselte dann aber schnell zum ORF. Dort konnte sie sich zu Beginn noch politischen Themen widmen: Über die Ortstafeldiskussion in Kärnten berichtete sie ebenso wie über das Bergwerk Fohnsdorf, sie widmete sich aber auch gesellschaftlich noch heißer umkämpften Themen wie Antisemitismus und Abtreibung. Nach einem Beitrag über die SPÖ im Burgenland, der heftige Kontroversen auslöste, wurde sie von der politischen Berichterstattung abgezogen und in die Kulturredaktion versetzt. Dort entwickelte Spira gemeinsam mit anderen die Idee zu den »Alltagsgeschichten«, die sie fortan gestaltete. Ihre lebenslange Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Umgang der Österreicher_innen damit kratzte ebenso am »rot-weiß-roten-Lack« wie die »Alltagsgeschichten« per se, die Menschen porträtierten, die nicht in das vom offiziellen Österreich gerne gezeichnete Bild der glücklichen Alpenrepublik passten. Sie verschaffte so jenen ein Erbe, welche in der Geschichtsschreibung sonst meist nur als Fälle in Statistiken festgehalten werden und schenkte ihnen ihre und unsere Aufmerksamkeit. Mit der Nähe zu den Menschen, einem großen Herz und scharfem Verstand hob sie das Alltägliche aus dem Verborgenen und konzentrierte sich auf das Wesentliche im Menschen, ohne Standesdünkel und ungefiltert. Als Chronistin Österreichs trug Elizabeth T. Spira maßgeblich zur Verständigung und Aufklärung in einem Land bei, das gerne den schönen Schein wahrt. Damit hat sie nicht nur diesen Menschen, sondern auch sich selbst ein immerwährendes Denkmal gesetzt.
Denise Beer lebt in Europa und arbeitet in Vorarlberg
Energiearmut ist ein Missstand, der immer mehr Bewohner_innen der EU-Staaten betrifft. Ein Verbot der üblichen Praxis, Menschen von der Strom- und Gasversorgung abzukoppeln, wurde sowohl vom Europaparlament als auch vom Europäischen Rat verhindert. Die ineffiziente und marktkonforme Energieversorgung gefährdet nicht nur das Leben der Armen, sondern letztlich von uns allen.
Von CORNELIA ERNST UND MANUELA KROPP
Immer mehr Menschen in der EU können ihre Rechnungen für Strom und Wärme nicht bezahlen und geraten in Gefahr, dass die Versorger ihnen die Lieferung von Strom und Wärme abstellen. Das heißt, sie müssen mit kaltem Wasser duschen, die Kälte kriecht durch die Wände, Elektrogeräte laufen nicht – kein Internet, kein Telefon, kein Licht, kein Bügeleisen. Und während einer Hitzewelle im Sommer: keine Klimaanlage. Dann geht der Kreislauf der Kosten erst richtig los: Es fallen zusätzliche Gebühren für die Menschen an, wenn der Strom bzw. die Wärmeversorgung wieder angestellt werden soll. Die Versorgung mit Strom und Wärme ist ein soziales Grundrecht und darf nicht aufgrund von unbezahlten Rechnungen angetastet werden. Die linke Fraktion GUE/NGL, die Sozialist_innen und die Grünen im Europaparlament haben sich bei den jüngsten Verhandlungen zum europäischen Strombinnenmarkt dafür eingesetzt, das Abklemmen von Strom- und Wärmeversorgung schlicht zu verbieten. Das wäre in der Richtlinie zum Strombinnenmarkt möglich gewesen. Außerdem hat die GUE/NGL gefordert, ein kostenloses Kontingent an Strom und Wärme anzubieten – egal wie stark die Menschen mit ihren Rechnungen im Rückstand sind. Leider haben die konservativ-liberale Mehrheit des Europaparlaments und große Teile des Rats, also der Mitgliedsstaaten, diese beiden Forderungen abgelehnt. Die Sozialist_innen unterstützten die Forderungen der linken Fraktion GUE/NGL zuerst, haben dann aber im Laufe der Verhandlungen mit dem Rat nachgegeben.
Die jüngsten Daten zeigen, dass es zwischen den Mitgliedsstaaten große Unterschiede gibt und die Menschen unterschiedlich stark von sogenannter »Energiearmut« betroffen sind. Energiearmut liegt vor, wenn Menschen Probleme haben, die Rechnungen für Strom und Wärme zu bezahlen.1 Im Jahr 2016 konnten 8,7 Prozent der Menschen in der EU ihren Wohnraum nicht angemessen beheizen. Ein Fünftel der Menschen in Portugal und Zypern, und mehr als ein Viertel der Menschen in Griechenland und Litauen sind von diesem Problem betroffen; die absolute Höchstzahl wird mit fast vierzig Prozent in Bulgarien erreicht.2 Zwischen 2006 und 2012 konnte ein Viertel der Haushalte in Spanien (7 Millionen Menschen) ihre Wohnungen in der Sommerhitze nicht ausreichend kühlen. In Spanien überstieg 2010 die Zahl der vorzeitigen Todesfälle aufgrund von Energiearmut jene aufgrund von Autounfällen.3 In einigen Mitgliedsstaaten ist die Lage besonders schwierig: in Bulgarien, wo die Winter sehr kalt und die Sommer sehr heiß sind, können viele Menschen ihre Wohnungen weder ausreichend heizen noch angemessen kühlen. In Portugal ist die Witterung zwar milder, aber da dort der Gebäudebestand schlechter isoliert ist, sieht die Lage ähnlich problematisch wie in Bulgarien aus.4
Strom abgedreht
Die europäische Linkspartei European Left hat im Rahmen ihres Europawahlkampfs eine Kampagne zu »Recht auf Energie« gestartet5, denn das Problem ist europaweit virulent. Auch in reicheren Mitgliedsstaaten geraten Menschen in diese Situation: In Österreich wird jedes Jahr ca. 28.000 Menschen der Strom abgedreht.6 In Deutschland wird jedes Jahr ca. 300.000 Haushalten der Strom, und ca. 60.000 Haushalten das Gas abgestellt.7 Als die Richtlinie zum Strombinnenmarkt verhandelt wurde, hat die linke Fraktion GUE/NGL im Europaparlament auch
1 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
2 Siehe: Flyer »Right to Energy« der European Left https://www.european-left.org/campaigns/right-to-energy/
3 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
4 Power to the people: Upholding the right to clean, affordable energy for all in the EU, Briefing von righttoenergy, March 2019 http://foeeurope.org/Majority-EU-countries-unable-keep-citizens-warm-this-winter-200219
5 https://www.european-left.org/campaigns/right-to-energy/
6 J. Pallinger, Wenn das Licht zu Hause ausgeht, Der Standard, 25. Januar 2018 https://derstandard.at/2000072951741/Energiearmut-Wenn-zu-Hause-das-Licht-ausgeht (abgerufen am 21.03.2019)
7 Stefan Schultz, Deutschland lehnt Messungen zu Energiearmut ab, Der Spiegel, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/strom-deutschland-blockiert-messung-von-energiearmut-in-eu-energieunion-a-1209705.html (abgerufen am 21.03.2019)
»Bitte zieht das Trojanische Pferd nicht in unser Waldviertel«, appellieren RegionalvertreterInnen des Verkehrs- und Regionalforums Waldviertel an die Vernunft der Politik.
VON BÄRBEL DANNEBERG
SYSTEMWANDEL
Die Vernunft ist enden wollend. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner präsentierte Mitte Jänner anlässlich einer VPNÖ-Arbeitstagung in Liebnitz/Gemeinde Raabs an der Thaya ihre Pläne für 1919: »Das Verkehrsprojekt Europaspange steht für eine bessere Anbindung des Wald- und Weinviertels an Ballungszentren und internationale Wirtschaftsräume. Der erste Schritt wurde bereits gesetzt, indem sich die Vertreter der Region bereits für die Europaspange ausgesprochen haben«, so Mikl-Leitner. Alle – bis auf die Grünen, sie haben im Landtag dagegen gestimmt. Mit Unterstützung des Nachbarn Tschechien möchte die Landeshauptfrau nun die zweijährige Prüfungsdauer des Projekts dafür nützen, auf EU-Ebene intensiv Werbung zu machen, »um die Europaspange auch in europäische Infrastruktur-Netze und -Projekte einzubinden«.
Das macht klar, dass die Planung einer Waldviertelautobahn nicht der Verbesserung des Wirtschafts- und Lebensraums im Waldviertel dient. Vielmehr geht es um eine Transitschneise Richtung großer Ballungszentren in Europa quer durch naturbelassenes und abwanderungsbedingt dünnbesiedeltes Gebiet, das zu den schönsten, aber ärmsten in Österreich gehört. Mit dieser wirtschafts- und regionalbedingten Hypothek wird Hoffnung gestreut. Durch eine Betonpiste quer durch die Äcker des Waldviertels würde »das regionale Wirtschaftsprodukt der Region mit den Verkehrsprojekten laut einer neuen Studie um eine Milliarde Euro steigen«, schrieben die »Bezirksblätter Zwettl« im Jänner.
Verrückter Luxus
Ich lebe teilzeitig im Waldviertel. Mein kleiner Ort nahe Horn ist ohne Auto nicht erreichbar, der Bahnhof ist zehn Kilometer entfernt. Insbesondere an den Wochenenden gibt es keine regionale Verkehrsanbindung. Mein Dorf hat weder einen Einkaufsladen noch ein Wirtshaus. Manche erhoffen sich, dass eine Autobahn Leben in die Region bringen würde. Wahrscheinlicher aber sind Lärm, Dreck, Gestank und, wie der Verkehrsexperte Herbert Knoflacher meinte, am ehesten bringe eine Autobahn noch Kriminalität: »Wenn man das Waldviertel massiv schädigen will, dann muss man sie bauen.«
Ich Freizeit-Waldviertlerin entkomme am Land der großstädtischen dicken Luft. Ich würde gerne auf mein Auto verzichten, das eine Geldvernichtungsmaschine ist. Es verstellt tagelang wie auch viele andere Autos unbenutzt den öffentlichen Raum in Wien, zusammen mit allen Autogebührenpflichten und Sprit ein teures Vergnügen, ein Parkplatz ist trotz Parkpickerl schwer zu haben. In Wien fahre ich mit den Öffis. Was ist das für eine verrückte Welt? Plattgewalzte Autowracks würden zusammen mit allen versiegelten Betonflächen und Flughafenpisten weltweit mehr Bodenfläche als ackerbauliche Nutzflächen einnehmen. Das Wissen um diese verrückten Umweltsünden verhindert nicht, dass ich rausmöchte aus der städtischen Hektik. Ohne Auto ist das für mich nicht zu haben. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer und der Luxus der Möglichkeiten verschärft Ungleichheiten. Auf Kosten der Umwelt kann ich zwischen Wien und Waldviertel wählen. Die alten Leute in meinem Dorf aber sind angewiesen, dass ihnen jemand was aus der goldenen Supereinkaufsmeile bei Horn (einer anderen Umweltsünde) mitbringt.
Die Wirtschaft schafft – was?
Das Verkehrs- und Regionalforum widerlegt die scheinheiligen Argumente der BefürworterInnen: Eine Autobahn erspart den WaldviertlerInnen weder Geld noch Reisezeit, sondern bringt LKW-Transitverkehr, Lärm und Umweltbelastung und vernichtet dauerhaft 2.000 ha wertvoller Agrarfläche. Die Nordwesteinfahrt von Wien kann zusätzlichen Verkehr nicht mehr aufnehmen und die durch Schnellfahren gewonnene Zeit geht im Stau wieder verloren. Der Beschäftigungseffekt ist beim Autobahnbau niedriger als bei fast allen anderen Arten um dasselbe Steuergeld. Nach einem Autobahnbau gehen Arbeitsplätze verloren (untersucht in der Schweiz, im Südburgenland und dem Lungau). Viele kleine und mittlere heimische Handwerks- und Gewerbebetriebe werden dem steigenden Konkurrenzdruck von Konzernen zum Opfer fallen. Die Milliarden, die eine Autobahn kostet, können im Waldviertel für Bildung, Klimaschutz, Energieautarkie, schnelle Bahnanbindung, Datenautobahn und Förderung von Gewerbe und Landwirtschaft viel besser eingesetzt werden. (www.verkehrsforumw4.at)
Mir erscheinen diese Argumente logisch und die regionale Wirtschaftsbelebung fraglich. Schon allein die Umfahrungen von Seitzersdorf-Wolfpassing und Ziersdorf haben viele örtliche Geschäfte und Bauern in den Ruin getrieben, weil die von Wien ins Waldviertel Fahrenden die Umfahrungen nicht für den Einkauf verlassen. Studien bestätigen, dass Betonpisten den (Schwer-)Verkehr wie ein Magnet an- statt abziehen.
Asphaltcowboys
Trojanische Pferdestärken werden von FPÖ-Verkehrsminister Norbert Hofer unterstützt. Er hat die Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnteststrecken damit argumentierte, dass man schließlich nicht Milliarden in den Autobahnausbau investiere, um dann die Möglichkeiten einer Verkehrsbeschleunigung durch Tempobeschränkungen einzuschränken. Die ASFINAG hat angekündigt, heuer 1,2 Milliarden Euro in Autobahnen zu investieren. Das freut die Beton- und Baulobby. Die mit medialem Politgetöse begleitete Tempobeschleunigung macht nichts schneller, weil beim Ein- und Ausfädeln schnellerer Abschnitte es sich erst wieder staut. Für die Strecke zwischen Vitis und Wien lautet die Berechnung des Verkehrs- und Regionalforums Waldviertel folgendermaßen:
»LKWs kostet die Autobahn geringfügig Zeit durch den Umweg, daher wird man auf der B2 ein LKW-Verbot brauchen, um Mautflucht zu vermeiden. PKWs bringt die Autobahn 12 min. nur dann, wenn man nicht bedenkt, dass eine Menge zusätzlichen Verkehrs (Deutschland-Rumänien) zu Stau vor allem auf der Donauuferautobahn, der Nordbrücke, dem Gürtel und der Südosttangente führt. Die Nordautobahn hat über 10.000 Fahrzeuge/Tag zusätzlich auf diese Strecke gebracht, jetzt ist sie am Limit – die Trassen können im Raum Wien nicht mehr verbreitert werden. Weitere ›Nadelöhre‹ und damit Folgekosten entstehen (z. B. Suchdol/Tschechien). Nimmt man an, dass bei noch mehr Verkehr auf der Donauuferautobahn und auf den Autobahnabschnitten bei Horn und Hollabrunn mittelfristig ein Feinstaubhunderter kommen muss (EU-Rechtsumsetzung), verliert der PKW 2 min Reisezeit, was erhebliche ›Mautflucht‹ zurück auf die B2 zwischen Horn und Stockerau (Abkürzen Hollabrunner Eck der Autobahn) auslösen wird.«
Das Verkehrs- und Regionalforum Waldviertel meint, dass »mit dem Geld, das eine Waldviertel-Spangenautobahn kostet, man 60 Jahre lang – also für ein Vielfaches der technischen Lebensdauer der Autobahnbauwerke – ein Jahresticket wie in Wien für den öffentlichen Verkehr anbieten könnte«. Aus sozialen und Klimagründen sollte der öffentliche Verkehr überhaupt weitgehend gratis oder sehr billig sein.