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Seit Jahrzehnten findet in Kärnten das mitt­lerweile vielleicht größte neofaschistische Treffen Europas statt – unter freundlicher Beobachtung der österreichischen Exekutive und vor den Augen ebenfalls jahrzehntelang ahnungslos sich gebender Regierungen, egal welcher Farbe oder Farbmischung. Seit aller­dings im vergangenen Jahr die Kärntner Ini­tiative »erinnern&handeln-spomin&dejanja« die erste Gegenkundgebung durchgeführt hat, regt sich zunehmende internationale Auf­merksamkeit und verstärkter Widerstand dagegen.

Anmerkungen von MIRKO MESSNER.

Es ist noch nicht lange her, da hatten einige Gemeindemandatare der Südkärntner Gemeinde Bleiburg/Pliberk nichts gegen das Ustaša-Treffen am nahegelegenen Loibacher Feld einzuwenden, denn immerhin würde, so ihre Hoffnung, die lokale Gastronomie einen schönen Batzen durch zusätzlichen Schnitzel­verkauf verdienen. Heute klingt es anders: Die Treffen am Loibacher Feld seien der Bevölke­rung »nicht mehr zuzumuten«, die Gemeinde komme in Verruf; ein Antrag des »Bleiburger Ehrenzugs« auf Umwidmung zusätzlicher, an das private Gedenkgelände angrenzender Flä­che wurde vom Gemeinderat einstimmig abge­lehnt.

Auch die katholische Kirche hatte jahrzehn­telang den Mantel des zustimmenden Schwei­gens über den Skandal gebreitet. Vor kurzem aber hat sie bzw. die Gurker Diözese von ihrer kirchenrechtlichen Befugnis Gebrauch gemacht und der kroatischen Bischofsmesse im Rahmen der Veranstaltung des »Bleiburger Ehrenzugs« ihre Zustimmung entzogen, um, wie mitgeteilt wurde, Distanz zu »faschisti­schem Gedankengut« zu signalisieren. Die rechten Medien und Kleriker in Kroatien sind außer sich. Eine Messe wird es am 18. Mai den­noch geben, gehalten eben von einem Vertre­ter niederen Ranges.

Alle Jahre wieder

Der österreichische FPÖ-Innenminister ist dem Beispiel der Kärntner Kirche allerdings nicht gefolgt und hat das alljährliche verfas­sungsfeindliche Ustaša-Treffen in Kärnten bis heute nicht untersagt. Und so wird auch in diesem Mai auf dem Loibacher Feld bei Bleiburg/Pliberk der Rechtsextremen-Event des sich so nennenden »Bleiburger Ehren­zugs« stattfinden. Gefeiert & angebetet wird die Ehre der Nazi-Kollaborationstruppen des Ustaša-Staates Nezavisna država Hrvatska (NDH), die sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs aus gutem bzw. schlech­tem Grund nach Österreich in die Arme der Briten – eben auf das Loibacher Feld – geflüchtet hatten, um der befürchteten Rache der jugoslawischen Volksbefreiungs­armee zu entgehen (die faschistischen Chefs mit Ante Pavelić an der Spitze hatten so wie unzählige Nazis ihr Ticket für die Rattenli­nie nach Südamerika in Anspruch genom­men). Auf dem Loibacher Feld wurden sie von den Briten allerdings entwaffnet, der jugoslawischen Armee ausgeliefert und von dieser auf jugoslawisches Territorium ver­bracht, wo ein großer Teil von ihnen erschossen wurde; auf dem Loibacher Feld selbst bzw. in Bleiburg fand kein Massaker statt; das hindert die Ustaša-Epigonen in keiner Weise an der Legendenbildung unter dem Titel »Massaker von Bleiburg«.

Nach der Gründung des »Bleiburger Ehrenzugs« in Österreich durch Ustaša-Veteranen aus halbseidenem Milieu düm­pelten die jährlichen Treffen ab 1955 ohne größere Resonanz dahin, was sich erst nach der Zerreißung Jugoslawiens schlagartig änderte; der Event am Loibacher Feld stieg in die erste Liga der europäischen Rechtsex­tremen-Treffen auf, mit Teilnehmerzahlen, die auch in die Zehntausende gehen können.

Dieser Aufstieg hatte neben dem Zerfall Jugoslawiens einige weitere Voraussetzun­gen:

Rechter Klerus, rechte Mitte und Herr Karl

Erstens, die Unterstützung durch den reak­tionären Teil des kroatischen katholischen Klerus. Den zentralen Teil der unter »Toten­gedenken« firmierenden Veranstaltung am Loibacher Feld bildet die katholische Messe im Zentrum der Gedenkanlage. 2018 wurde die Messe vom kroatischen Erzbischof Želi­mir Puljić gehalten, der drei Jahre zuvor ein Referendum für die Legalisierung des Ustaša-Grußes Za dom spremni (»Für die Heimat bereit«) innerhalb des Militärs vor­geschlagen hatte. Der von Puljić repräsen­tierte Teil der kroatischen Amtskirche setzt das Kroatische mit dem Katholischen gleich und bringt es gegen Liberalismus, Kommu­nismus, Atheismus usw. in Stellung. Auf diesem Umweg wird die historische Kolla­boration des klerofaschistischen Teils der kroatischen Kirche mit den Nazismus und den Ustaša legitimiert; Für jene kroatischen Katholiken sowie alle anderen, die sich im antifaschistischen nationalen Befreiungs­kampf engagiert und im Widerstand gegen die Nazis und die Ustaša Gesundheit und Leben riskiert oder verloren haben, ist somit kein Platz unter dem Schutzmantel der von Puljić und seinesgleichen repräsen­tierten kroatischen katholischen Kirche.

Zweitens, die Patronanz der kroatischen Regierung bzw. der heutigen neokonserva­tiven bzw. rechten Regierungspartei HDZ (Hrvatska demokratska zajednica, »Kroatische Demokratische Union«); diese macht nicht nur staatliche Gelder für den Event locker, sondern beehrt den Event am Loibacher Feld durch persönliche Präsenz von Vertre­tern bzw. Amtsträgern – 2016 war unter anderen ihr neofaschistischer Kulturminis­ter Zlatko Hasanbegović dabei –, so diese der Aufmerksamkeit internationaler Medien nicht ausweichen wollen wie die derzeitige Präsidentin Kolinda Grabar-Kita­rović, die eine stille Kranzniederlegung einige Tage vor dem Rummel vorzuziehen pflegt. Das Engagement der HDZ entwickelt sich vor dem Hintergrund eines nachhalti­gen reaktionären Wandels in der politi­schen Kultur Kroatiens; die Ustaša-Tradi­tion wird ausgegraben, geputzt und in die Mitte der Gesellschaft gesetzt, mit dem Zug zum Hegemonialen. Die Bleiburger Legende spielt in diesem Zusammenhang eine sicht­bare Rolle: unzählige Straßen in kroati­schen oder dalmatinischen Orten sind nach den »Bleiburger Opfern« benannt.

Und drittens: die jahrzehntelang gepflegte Toleranz der großkoalitionären oder kleinkoalitionären oder von einer Par­tei allein getragenen österreichischen Poli­tik gegenüber dem Ustaša-Treffen, wurzelnd zunächst in ihrer eigenen nationalso­zialistischen Befangenheit und zementiert durch den antikommunistischen Konsens zu Zeiten des Kalten Krieges bzw. in der österreichischen politischen Kultur. (Was auch erklärt, wie es möglich wurde, dass z. B. ein Redakteur der faschistischen Ustaša-Zeitung Hrvatski narod namens Stipe Tomičić, hierorts besser bekannt als Alfons Dalma, nach dem Krieg zuerst Chefredak­teur der Salzburger Nachrichten und dann Chefredakteur im staatlichen Österrei­chischen Rundfunk werden konnte, um dann 1969 mit dem Dr.-Karl-Renner-Publi­zistikpreis ausgezeichnet zu werden.) Heute würde ein Verbot der Veranstaltung des Bleiburger Ehrenzugs die ÖVP-Führung in Widerspruch zur HDZ bringen. Folge­richtig hat Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka am 9. April dem kroatischen Parla­mentspräsidenten Gordan Jandroković sein Verständnis für »die Position Kroatiens« bekundet. Sind ja beide, ÖVP und HDZ, Mit­glieder derselben EU-Fraktion (EVP – Euro­päische Volkspartei). Und indem über die FPÖ der lange Arm der Neofaschisten, deutschnationalen Burschenschaften und Identitären direkt in die Regierung hinein­reicht, käme regierungsamtliches Handeln im Sinne des antifaschistischen Auftrags der österreichischen Verfassung einem politischen Selbstmord nahe.

Warum der Krieg an seinem Ende beginnt

Der europaweite Diskurs, in den das Ustaša-Treffen eingebettet ist, ist der des Geschichtsrevisionismus und des »Totalita­rismus«, d. h., der Tendenz zur Gleichset­zung des Faschismus bzw. Nationalsozialis­mus mit dem Kommunismus und seiner »titoistischen« Variante. Der Ustaša-Auf­lauf geht allerdings über diese Gleichset­zung hinaus, indem seine Protagonisten Faschismus und Nationalsozialismus ein­fach ausblenden, gleichzeitig damit natür­lich auch die Kollaboration mit den Nazis, und indem sie die »kroatische Tragödie« mit dem Massaker an den Ustaša-Angehöri­gen zu Kriegsende beginnen lassen. Mit anderen Worten: die vorangegangenen Glieder der Kausalkette sollen aus der Erin­nerung gelöscht werden, weil diese auch die Erinnerung an die eigene Epigonenrolle bzw. an die Verbrechen des Ustaša-Terror­regimes einschließen. Und weil es nur so mög­lich ist, die Nazi-Kollaboration umzudichten in ein Anliegen zur Rettung der kroatischen Nation; also die Dinge auf den Kopf zu stellen, letztlich den antifaschistischen Charakter Jugoslawiens und den Kampf der jugoslawi­schen Partisanen und Partisaninnen zu dele­gitimieren – und mit ihm in einem Aufwa­schen überhaupt den Kampf der Alliierten gegen das Naziregime. So geht Geschichtsrevi­sionismus.

Das alljährliche Treffen des »Bleiburger Ehrenzugs« am Loibacher Feld ist nicht nur kein Totengedenken, sondern ein Raum der politischen Agitation nationalistischer und rechtsextremer Gruppierungen aus Kroatien auf österreichischem Staatsgebiet – aber nicht nur, denn was diesen Event kennzeichnet, ist das Einvernehmen kraotischer Ustaša-Epigo­nen mit reaktionärem Klerus und Neokonser­vativen. Eine Art europäisches Festival der Kollaboration der rechten bürgerlichen Mitte mit den Neofaschisten, ganz im Zeitgeist des Brückenbaus zwischen rechts und rechtsex­trem in einer zunehmenden Zahl europäischer Staaten inkl. Österreich. Deklarative Abgren­zung von unverhohlener nationalsozialisti­scher oder faschistischer Symbolik geht dabei einher mit der ungebrochenen Nutzung ent­sprechender Codes und Signale, wie derzeit von Identitären, FPÖ und Strache beispielhaft vorexerziert. Das Innenministerium hat, um den Druck öffentlicher Proteste abzufedern, unlängst mit einem neuen Abzeichengesetz das Tragen zweier Ustaša-Symbole verboten. Der Obmann des Ehrenzugs hat das begrüßt. No na. Eine Unzahl von Varianten dieser Sym­bole steht weiterhin zur freien Verfügung.

Die diesjährige Kundgebung der Kärntner Initiative »erinnern&handeln – spomin&dejanja« am 11. Mai in Bleiburg/Pli­berk ist einen wichtigen Schritt weitergekom­men bei der Internationalisierung ihres Anlie­gens. Nicht nur die nationalen antifaschisti­schen Verbände aus der Alpen-Adria-Region und aus Kroatien sind am 11. Mai dabei. Auch die europäische Föderation der Widerstands­verbände ist Mitveranstalterin. Der neofa­schistische Event am Loibacher Feld ist mitt­lerweile auf Beratungen in vielen europäi­schen Hauptstädten zum Thema geworden, zuletzt am 3. Mai beim FIR-Konvent in Buda­pest, auf dem auch der Sprecher der Kärntner Initiative Andrej Mohar zugegen war.

Links zum Thema:

www.erinnern- handeln.at

https://www.no-ustasa.

at/wp-content/themes/ understrap/pdf/ Mythos_Bleiburg.pdf

Zur Gefährlichkeit der Ideologie der ›Identitären‹

JUDITH GOETZ und ALEXANDER WINKLER*

Wenngleich die ›Identitären‹ seit ihrer Gründung darum bemüht waren, sich selbst als »gewaltfreie Aktivist_innen« zu inszenieren, zeichnete die aktivistische Praxis oftmals ein gänzlich anderes Bild. Die Gewaltdisposition spiegelt sich sowohl in ihrer (Bild-)Sprache wider, als auch in ihrer Ideologie, die Gewalt als scheinbar letzte Lösungsmöglichkeit der »letzten Generation, die den Großen Austausch noch aufhalten« könnte, präsentiert.

Bis vor wenigen Wochen hatten die ›Iden­titären‹ stark an politischer Relevanz verlo­ren und kaum noch Aufmerksamkeit bekommen. In Zeiten rechtsextremer Regierungsbeteiligung scheint auch der Bedarf nach außerparlamentarischen rechtsextremen Gruppen zu sinken. Im Nachgang des rechtsextrem motivierten terroristischen Attentates in Christchurch rückte die Gruppe – wegen der ideologi­schen Nähe zum Manifest des Attentäters und einer Spende des Attentäters an den Chef der österreichischen Gruppe – wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Obwohl die ›Identitären‹ aktuell mit terroristi­scher Gewalt in Verbindung gebracht werden, drehen sich Debatten mehr um personelle und räumliche Überschnei­dungen mit der FPÖ, als um die gewaltvolle Ideologie, die sie vertre­ten. So gelingt es ihr erneut, die unkriti­sche mediale Aufmerksamkeit für sich zu nutzen, um sich harmloser darzustellen und ihre politische menschenverachtende Propaganda weiter zu verbreiten.

Identitäre Kriegsschauplätze

Bereits das erste Youtube Video des franzö­sischen Vorbilds der ›Identitären‹, der Génération Identitaire, das auch im deutschsprachigen Raum weite Verbrei­tung fand, trug den Titel »Kriegserklä­rung«. Mit dem Verweis auf »Unser Land, unser Blut, unsere Identität«, die gegen eine »erzwungene Rassenmischung« zum Einsatz gebracht werden sollen, wird darin nicht nur unverhohlen Rassismus zum Aus­druck gebracht, sondern tatsächlich auch der Krieg erklärt: »Glaubt nicht, dies ist nur ein Manifest«, lautet die Botschaft im Video, »es ist eine Kriegserklärung!«

Auch das Erkennungssymbol der ›Identi­tären‹, der griechische Buchstabe Lambda, bezieht sich auf einen Kriegsschauplatz. Im Film 300 zierte es die Schilder der Sparta­ner, die trotz einer Überzahl an angreifen­den »fremden Horden« nicht zurückwei­chen und sich für ihr »Volk« auch bis zum Tod aufopfern. Diese Darstellung passt zum Selbstbild der ›Identitären‹, die sich als heldenhafter Ritter inszenieren, welche die Festung Europa gegenüber dem »Fremden­ansturm« verteidigen. Seit 2017 wird von den ›Identitären‹ anlässlich der Schlacht am Kahlenberg im Jahr 1683 zum »Gedenk­zug zur Erinnerung an die Befreiung Wiens und die Verteidigung Europas« mobilisiert. Hier sollte ein Mythos geschaffen werden, der eine scheinbar ungebrochene Linie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstehen lassen soll und die Teil­nehmenden auf den bevorstehenden Kampf einschwört. Als Teil eines schicksal­haften, überzeitlichen Kollektivs, gelte es auch heute die neue Bedrohung durch »Fremde« abzuwehren. Diese politischen Mythen, die hier im Rückgriff auf das Ver­gangene konstruiert werden, sind diskur­sive Gebilde, die eine Erzählung und Identi­tät vermitteln sollen und emotionale Affekte mobilisieren. Nicht ohne Grund ist der Mythos, das Irrationale, das Gegenteil von Aufklärung und hatte im Faschismus eine wichtige mobilisierende Funktion, die im Endeffekt auf eine »Apologie der Gewalt« (Georges Sorel) hinausläuft. Es geht um das Einschwören auf eine Grup­penidentität, deren prägende Merkmale Opferbereitschaft, Männlichkeit und Kampf sind.

Eine neue Sprache?

In einem weiteren Video der ›Identitären‹ mit dem Titel »Zukunft für Europa – Identi­täre Bewegung« heißt es »Unser Ziel ist keine Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, wir wollen nicht mitreden, sondern eine andere Sprache.« Deutlich wird die Forderung nach einer »neuen Sprache« vor allem in der relativ erfolgreichen Strategie der ›Identitären‹, eigene, von ihnen mit bestimmten Bedeu­tungsinhalten aufgeladene Begrifflichkei­ten in bestehenden politischen wie auch gesellschaftlichen Diskursen zu verankern und somit diese auch in ihrem Interesse zu verändern. Mitgemacht bei der Etablierung bestimmter Begrifflichkeiten im öffentli­chen Diskurs haben, wie sich beispielsweise anhand der Verwendung der Formulierung »der große Austausch« zeigt, jedoch leider auch bzw. vor allem die Medien.

Als die ›Identitären‹ in Wien im Juni 2015 einen »Aufmarsch« organisierten, der als ein Höhepunkt ihrer explizit rassistischen und tendenziell antisemitischen Kampagne »gegen den großen Austausch« fungieren sollte, übernahmen beinahe alle österrei­chischen Tageszeitungen unkritisch den Begriff und verhalfen ihm somit zu steigen­dem Bekanntheitsgrad im öffentlichen Dis­kurs. Die unkommentierte Reproduktion führte nicht nur zu einem Legitimations­vorschub, indem das Ziel, »den großen Aus­tausch stoppen zu wollen«, als scheinbar berechtigtes politisches Anliegen präsen­tiert wurde, sondern stand auch in unmit­telbarem Einklang mit der Kampagnen-Strategie der Gruppe, die der aktuell in allen Medien zitierte Führungskader 2015 folgendermaßen beschrieb: »Der erste Schritt ist, den Großen Austausch im gan­zen patriotischen Lager bekanntzumachen und in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen zu lassen. Mehr und mehr wird er dann auch in die mediale Debatte ein­dringen. Wir haben mit unseren Aktionen im letzten Monat bereits einige Medienmel­dungen provoziert, in denen unser Begriff übernommen wurde.«

Von der Umvolkung zum Austausch

Der Rückgriff auf die Begrifflichkeit des französischen Philosophen Renaud Camus »der große Austausch« (»Le grand rempla­cement«), die von den ›Identitären‹ durch stetige Verweise sowie einige medienwirk­same Aktionen popularisiert wurde, ermög­lichte der Gruppe über eine modernisierte Sprache ihr Anliegen in der Öffentlichkeit zu platzieren und wirksamen Einfluss auf damit verbundene Diskurse zu nehmen. Die eindeutig rechtsextremen Wörter »Umvol­kung«, »Volkstod« und »Überfremdung« werden an dieser Stelle durch den mindes­tens ebenso bedrohlichen, jedoch histo­risch weniger vorbelasteten Begriff »gro­ßer Austausch« ersetzt. Er beschreibe, so der erwähnte identitäre Führungskader, »in kommunizierbarer und doch eindringli­cher Weise das, was hinter Islamisierung, Überfremdung, Ausländergewalt etc. eigentlich« stünde und sei als »Feindbe­griff« »dazu prädestiniert, das Lager zu einen«. Seine Attraktivität reichte dabei weit über das einschlägige Spektrum hinaus. So ergibt sich die Gefährlichkeit der ›Identitären‹ bis heute nicht zuletzt dadurch, dass sie Spektren erreichen, die anderen Rechtsextremen bislang verschlos­sen geblieben sind. Dass die Formulierung inzwischen auch losgelöst von der Bericht­erstattung über die ›Identitären‹ von diver­sen Medien übernommen wurde, lässt den Grad der Normalisierung und der fort­schleichenden erfolgreichen Einflussnahme auf den Diskurs und das Denken sowie der Wirksamkeit identitärer Strategien ablesen.

Dass nun der Christchurch Attentä­ter ausgerechnet oder vielmehr gerade sein Manifest mit derselben Phrase »The Great Replacement« betitelte, kam auch nicht von ungefähr, gibt es doch auch über den Titel hinaus weitreichende ideologische Überschneidungen zwischen dem Attentäter und der Gruppierung. Wie die ›Identitären‹ beruft er sich auf das ras­sistische Konzept des Ethnopluralismus, das vorsieht, »ethnisches Überleben« mit­tels einer globalen Apartheid abzusichern, in der alle »Völker« klar voneinander abge­trennt leben sollen. Gemeinsamkeit gibt es auch in den ausgemachten Ursachen der imaginierten Untergangsbedrohung: nied­rige Geburtsraten der autochthonen Bevöl­kerung sowie die mangelnde Wehrhaftig­keit von Männern. Auch die ›Identitären‹ appellieren an eine virile, soldatische Männlichkeit, die durch Kampfsporttrai­nings u. ä. auch eingeübt wird. Gewalt wird diesem Gedankengang folgend als angeb­lich letzte Lösungsmöglichkeit des Pro­blems »der aufgezwungenen Vermi­schung«, als scheinbar legitime »Notwehr« präsentiert.

Krieg der Worte ermutigt auch zu Taten

Letztendlich ist das gesamte identitäre Pro­jekt auf den Erhalt und Ausbau von beste­henden Macht- und Herrschaftsverhältnis­sen ausgelegt und kann dadurch auch nicht ohne Gewalt auskommen, da die Unterdrü­ckung, Ausgrenzung und Diskriminierung vermeintlich »Anderer« in dieses Vorhaben immanent eingeschrieben ist. So bleibt die Ideologie der ›Identitären‹ menschenver­achtend und brandgefährlich, geht es ihnen ja um die Schaffung einer »ethnisch relativ homogenen Gemeinschaft«, die unter den Voraussetzungen einer durch Migration geprägten Gesellschaft nur mit massiver Gewalt durchzusetzen wäre. Hinzukommt, wer die Erhaltung seiner »ethnischen Iden­tität«, was im völkischen Denken immer auch Reinhaltung impliziert, als etwas Lebensnotwendiges begreift, der trägt die Bereitschaft zum Totschlag bereits mit sich, da vermeintlich Fremde in diesem Denken immer schon als existen­zielle Bedrohung gelten. Die Forderung nach »Identität« ist somit auch immer eine zur Auslöschung des Ande­ren, des Nicht-Identi­schen. In diesem Sinne lässt sich auch die von den ›Identi­tären‹ 2017 aufge­stellte Behauptung, »Unsere Waffen sind ausschließlich gute Argu­mente und deren Verbreitung« als falsch demaskieren, da sich hinter der radikali­sierten Sprache auch der implizite Aufruf zur Tat verbirgt.

Nicht ohne Grund sprechen Rechtsextre­mismus-Experten wie Andreas Peham bei den ›Identitären‹ von der »Generation Brei­vik«. Die Bereitschaft zuzuschlagen wird trainiert, denn der Ernstfall, der »Unter­gang Europas«, steht unmittelbar bevor. Und man lauert nur mehr bis man »vom Lagerplatz aus« in die »belagerten Regio­nen, in ihre besetzten Städte heimkehren und die Posten einnehmen« wird, wie Sell­ner 2015 in der Sezession paranoid-pro­grammatisch vorgab. Und weiter: »Sie [die Identitären] wollen sie nicht nur halten – sie wollen gewinnen. Sie wollen die Recon­quista.« Von dieser beschworenen »Kampf­bereitschaft« ist es nicht mehr weit bis zu politischen Morden und Attentaten, wie zuletzt in Christchurch – zumal sich offen auf die »Reconquista« bezogen wird, jener blutrünstigen Säuberungswelle, die sich neben Muslimen auch gegen Jüdinnen und Juden richtete.

*Judith Goetz und Alexander Winkler haben gemeinsam mit Joseph Maria Sedlacek den Sam­melband »Untergangster des Abendlandes. Ideolo­gie und Rezeption der rechtsextremen ›Identitä­ren‹« (https://www.facebook.com/untergangster/) herausgegeben.

USA: Bernie Sanders – ein sozial engagierter Präsidentschafts-kandidat

Laut Meinungsumfragen der letzten zwei Jahre ist Bernie Sanders der beliebteste Politi­ker der USA. Wenn er es schafft, sich gegen­über den bisher 14 weiteren Präsidentschafts­kandidaten1 aus der Demokratischen Partei durchzusetzen, wäre es nicht unmöglich, die Präsidentschaft im Jahr 2020 zu gewinnen. 2016 musste er im Vorwahlkampf gegenüber Hillary Clinton, der ersten weiblichen, aber kriegslüsternen Kandidatin in den US-Groß­parteien, eine Niederlage einstecken. Nun will er es noch einmal wissen.

Parteilos auf dem Ticket der Demokraten

Der 1941 in New York geborene parteilose Politiker wurde 1991 mit Unterstützung der National Rifle Association, der größten Waf­fenlobbyorganisation der USA, Mitglied des Repräsentantenhauses. Ab 2007 vertrat er als Senator in der Fraktion der Demokraten den Bundesstaat Vermont, in dessen größ­ter Stadt Burlington er ab 1981 insgesamt vier Mal zum Bürgermeister gewählt wor­den war. Er war dort so erfolgreich, dass ihn die New York Times zu den 20 besten Bürgermeistern der USA zählte. Bis heute sei die Stadt umweltfreundlich und lebens­wert, das Wohnen leistbar (trotz niedriger Vermögenssteuern) und die Arbeitslosig­keit niedrig, schreibt The Nation, die älteste Wochenzeitung der USA.2

Besonderen Rückhalt hat Sanders bei den Democratic Socialists of America (DSA), der gegenwärtig mit 50.000 Mitgliedern stärks­ten sozialistischen Organisation in den USA (zu Trumps Amtsantritt waren es nur 7.000), und ihrem inoffiziellen Organ, dem Magazin Jacobin3. Sanders im Originalton: »Es geht uns darum, Amerika zu verändern und eine Regierung zu schaffen, die auf den Prinzipien ökonomischer, sozialer, antiras­sistischer und umweltpolitischer Gerech­tigkeit fußt.«4 Er möchte den Einfluss des Finanzkapitals brechen und die Macht der privaten Krankenversicherungen, der Erdöl-, Gas- und Kohleindustrie, der Indus­trie der privaten Gefängnisse, der Pharma­industrie und des militärisch-industriellen Komplexes beschränken. Sein Ziel ist die Verbesserung der Lebensbedingungen für die weniger Wohnhabenden. Konkret schlägt er einen menschenwürdigen Min­destlohn und eine allgemeine staatliche Krankenversicherung vor. Es gehe nicht an, dass in den USA drei Milliardäre über mehr Reichtum verfügen als die Hälfte der US-AmerikanerInnen, und dass andererseits die Hälfte aller ArbeiterInnen keinerlei Ersparnisse hat. Die Besteuerung sollte

nicht wie bisher die Reichen begünstigen, sondern progressiv mit der Höhe der Ein­kommen steigen. Er spricht sich für effekti­vere Maßnahmen gegen den Klimawandel aus.

Zur Unterstützung seiner Wahl will San­ders eine grassroot-Bewegung im Umfang von einer Million Menschen auf die Beine stellen. Er verzichtet auf Spenden von Großkonzernen und hat bereits bei seinem ersten Anlauf 2016 mehr als 12 Millionen Dollar durch 400.000 Kleinspenden von je 31 Dollar eingeworben.5

Sanders linkes Auftreten mit dem Slogan »Nicht ich, sondern wir!« hat die Pro­gramme seiner KonkurrentInnen in der Demokratischen Partei beeinflusst, so dass er nicht mehr wie 2016 als einziger Kandi­dat mit fortschrittlichen Vorstellungen dasteht. Andere haben seine Forderungen aufgegriffen und auf lokaler Ebene Siege errungen, wie z. B. die Wirtschaftswissen­schaftlerin Alexandria Ocasio-Cortez (ihr Kürzel: AOC), die im Juni 2018 aus dem Stand mit Reichensteuern und einem bedingungslosen Grundeinkommen gegen einen altgedienten Demokraten Joseph Crowley im 14. Wahlbezirk New Yorks die Vorwahl gewann, oder Julia Salazar6 die zur Senatorin im 18. Bezirk gewählt wurde.

Ob Sanders diesmal die Vorwahlen gewinnen wird, ist ungewiss, aber nicht unmöglich. Manche seiner Gegner werfen ihm sein fortgeschrittenes Alter vor, andere sehen ihn eben deshalb als Identifi­kationsfigur für die Jüngeren. Sein unleug­bares soziales Engagement macht ihn für die ärmeren Schichten der Gesellschaft wählbar. Nicht von ungefähr polemisiert Trump gegen einen Kommunismus in den USA, der durch Sanders vertreten würde. Meinungsumfragen an der Universität Har­vard zufolge geben 43 Prozent der 18- bis 29-jährigen AmerikanerInnen kapitalisti­schen Verhältnissen den Vorzug, aber 31 Prozent sagen, der Sozialismus sei bes­ser. Den demokratischen Sozialismus unterstützen sogar 39 Prozent.7

Im Jacobin (Heft 32) loten VertreterInnen

der Demokratischen Sozialisten vorsichtig die Möglichkeiten aus, die ein Bernie Sanders als Präsident der Vereinigten Staaten hätte. Sie sehen zwei Szenarien voraus. Das erste könnte darin bestehen, dass sich die Regie­rungsbürokratie zwar der neuen politischen Realität an der Oberfläche beugt, aber die meisten der Forderungen des Präsidenten ins Leere laufen lässt. Dann wird die Demokrati­sche Partei ihren WählerInnen erklären, dass sie schon über die Brosamen froh sein müss­ten, mehr wäre eben nicht drinnen. Das opti­mistischere Szenario hingegen setzt eine ArbeiterInnenbewegung voraus, die sich auf harte Auseinandersetzungen mit dem Kon­gress, dem Obersten Gerichtshof und den ihr feindlichen Gesetzen einlässt. Dabei sind nicht nur die Widerstände der Republikaner zu überwinden, sondern auch großer Teile der Demokraten. Der ArbeiterInnenbewegung gehe es ja um mehr als eine bloße Mehrheit im Parlament oder einen einzelnen Sieg. Es müsse alles getan werden, um nicht auf dem Niveau der Sozialdemokratie steckenzublei­ben. Dem Kapital dürfe keine Zeit gegeben werden, sich neu aufzustellen. Gleichzeitig gehe es um längerfristige Weichenstellungen. Es müssten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, wie der Weg zum Sozialismus durch eine veränderte Gesetzgebung erleichtert werden kann. Wichtige Meilensteine stellen nach Jacobin erweiterte gesetzliche Grundla­gen zur Ausweitung von Eigentum in Arbeite­rInnenhand und die Arbeiterkontrolle der größeren Unternehmen dar.

Was tun?

Trump habe gezeigt, wie schnell die Politik seiner Vorgänger im Amt rückgängig gemacht werden kann. Sanders müsse das­selbe tun, aber mit entgegengesetzter Stoß­richtung. Es wären kurzfristig wichtige Pos­ten zu besetzen, wodurch umgekehrt die Aktivitäten der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen gestärkt werden. Er müsse so rasch wie möglich arbeiterfreundli­che VertreterInnen in das Arbeitsministe­rium, in den »Bundesausschuss zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern« (National Labor Relations Board) und engagierte UmweltschützerInnen in die entsprechenden Gremien entsenden sowie den Status irregulärer ImmigrantInnen legalisieren.

Dekrete des Präsidenten Ein wichti­ges Werkzeug für einen US-Präsidenten sind die Dekrete (executive orders). Präsi­dent Trump nützt sie beinahe täglich und unterschreibt sie medienwirksam vor lau­fender Kamera. Schon seit 1789 haben US-amerikanische Präsidenten solche Dekrete erlassen, Präsident Roosevelt sogar 3721 davon. Sie bedürfen früher oder später einer parlamentarischen Ermächtigung. Ohne diese haben sie keine lange Lebens­dauer.

Immerhin könnten Dekrete des Präsi­denten die Phantasie der Massen beflü­geln. Politische Konzepte, die vorher undurchführbar schienen, könnten durch Dekrete legitimiert werden. Jacobin hat einige mögliche Dekrete aufgezählt, die für den zukünftigen Präsidenten in Reichweite wären, die neue politische Möglichkeiten schaffen, in diesem Fall für die Vielen und nicht – wie bisher – für die Wenigen. Ich biete eine Auswahl davon.

Umwelt Per Dekret könnte ein Präsi­dent den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen rückgängig machen und Ziele zur effektiven Reduk­tion von Treibhausgasen und zur Ein­schränkung des Energieverbrauchs im Bereich der Bundesregierung vorschrei­ben. Darunter ist das Militär von besonde­rer Bedeutung (das US-Verteidigungsmi­nisterium ist mit seinen Luft-, See- und Landstreitkräften einer der größten Umweltverschmutzer der Welt). Er könnte allen US-Agenturen, z.B. der Agentur für Umweltschutz, dem Innenministerium oder dem Ingenieurkorps der Armee vor­schreiben, keine Projekte mehr zu fördern, die das Klima belasten, besonders jene, die für Farbige und Arme besonders schädlich sind.

Außenpolitik Die Vereinigten Staa­ten von Amerika verfügen über die größte Militärpräsenz in der Geschichte unseres Planeten. Ein Präsident Sanders könnte Truppen aus allen Teilen der Welt zurück­beordern, besonders dort, wo sie Morde begehen – so genannte Anti-Terror-Aktio­nen, die tatsächlich internationales Recht verletzen und weder die USA noch die Menschen in anderen Ländern sicherer machen. Er könnte die »Todeslisten« des Pentagons abschaffen, die Namen von Per­sonen enthalten, die zu verhaften oder zu ermorden wären.

Strafrecht Ein Präsident könnte den massenhaften Gefängnisstrafen in den USA die Grundlage entziehen. Er könnte dem Justiz- und dem Sicherheitsministerium (Department of Homeland Security) die Weisung erteilen, die privaten Bundesge­fängnisse oder private Auffanglager für MigrantInnen zu schließen und alle Ver­träge mit privaten Gefängnisunternehmen zu beenden. Derzeit befinden sich pro Kopf der Bevölkerung vier Mal mehr Menschen in US-Gefängnissen als in China!

Wirtschaftspolitik Die so genannte Volcker-Regel wurde 2010 als Bestandteil des Dodd-Frank-Gesetzes eingeführt, um die Banken zu zwingen, das Geld der Einle­gerInnen nicht mehr für Finanzspekulatio­nen auszugeben (die 2008 zur finanzwirt­schaftlichen Krise geführt hatten). Unter der Präsidentschaft von Trump wurden Versuche unternommen, die Volcker-Regel aufzuweichen. Sanders könnte sie wieder in Kraft setzen. Ferner sollte der Mindestlohn für Bundesbedienstete hinaufgesetzt wer­den, da die 10,10 Dollar, die Obama festge­legt hatte, um vier Dollar niedriger als die vom MIT berechneten Lebenshaltungskos­ten liegen.

Studierende Eine für die USA wichtige Frage ist die 1.500 Milliarden Dollar schwere Verschuldung von Studierenden. Sanders könnte diese Schulden per Dekret tilgen. Diese Entschuldung würde die Kon­sumausgaben steigern, die Arbeitslosigkeit um 0,3 Prozent verringern und das Brutto-Inlandsprodukt um etwa 1.000 Milliarden Dollar innerhalb der nächsten zehn Jahre erhöhen.

Es wäre für die ganze Welt erfreulich, wenn ein Linker wie Sanders Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird.

1 https://www.bbc.com/news/world-us-canada-46954566

2 https://www.thenation.com/article/bernies-burlington-city-sustainable-future/

3 https://jacobinmag.com/

4 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/usa-praesiden­tenwahl-2020-bernie-sanders-will-es-nochmal-wissen-16050415.html

5 https://www.welt.de/politik/ausland/article145595192/Der-linke-Trump-macht-Hillary-Clinton-Angst.html

6 https://en.wikipedia.org/wiki/Julia_Salazar

7 https://derstandard.at/2000100604333/Kampf-gegen-Ungleichheit-Ocasio-Cortez-treibt-alle-vor-sich-her

Jean Ziegler in Wien. Eine Beobachtung von EVA BRENNER.

»Ich glaube, Satre hatte Recht: Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.« Jean Ziegler

Dass wir mit dem Kapitalismus nicht in der besten aller Welten leben, hat Jean Ziegler, Schweizer Soziologe, Aktivist und Revolutionär, der zu den international schärfsten Globalisierungskritikern zählt, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstat­ter für das Recht auf Nahrung war und der­zeit Mitglied des UN-Menschenrechtsrates ist, immer wieder deutlich gemacht. Dieser Tage war Ziegler, der am 19. April seinen 85. Geburtstag feierte, in Wien, wo er u. a. sein neues Buch »Was ist so schlimm am Kapitalismus?« vorstellte, in dem er »Ant­worten auf die Fragen meiner Enkelin« gibt. In einer Wiener Vorlesung stellte er sich am 1. April den Fragen eines Publi­kums von über 1.400 Interessierten; tags darauf sprach der Star der unorthodoxen Linken im voll besetzten Kardinal-König Haus auf Einladung der SPÖ und nahm die Otto-Bauer-Plakette für Verdienste im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Faschismus entgegen (verliehen vom Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer).

In seinen scharf geschliffenen, politisch radikalen Ausführungen legte Ziegler dar, welchen unmenschlichen Preis wir alle tagtäglich für die »kannibalische Weltord­nung« namens Kapitalismus zahlen, der in seinen Augen »radikal zerstört« werden müsse. Für Ziegler steht viel auf dem Spiel, stellt die Abschaffung des Kapitalismus doch eine unhintergehbare Utopie dar, an deren Verwirklichung bereits Millionen von Menschen in weltweit wachsenden Widerstandsfronten arbeiten. Mit dem zusehenden Erstarken der aktivistischen Zivilgesellschaft ziehe eine neue, kraftvolle Antwort auf die Geschichte der Ausbeutung herauf.

Ich kenne Jean Zieglers Bücher über das Skandalon des Kapitalismus: den künstlich produzierten Hunger in Ländern der Drit­ten Welt, den skandalösen Reichtum mäch­tiger Konzerne und Oligarchen, die »Herr­scher dieser Welt«, und die notwendige Wut der globalen Zivilgesellschaft, die sich in kommenden, berechtigten »Aufständen« Luft verschaffen werde. Zieglers Analysen, Einsichten und Prämissen verdanke ich unentbehrliche Informationen über den prekären Zustand dieser krisengeschüttel­ten Welt. So hat sein eindringliches Pam­phlet Der Aufstand des Gewissens – Die nicht-gehaltene Festspielrede 2011, das Ziegler für die Eröffnung der Salzburger Festspiele verfasste und ob seines provokanten Inhalts von der Festspielleitung zensuriert bzw. Ziegler umgehend wieder ausgeladen wurde, den Grundstein für eine politische Theaterperformance desselben Titels gelegt.1

Was ist so schlimm am Kapitalismus?

Die dramaturgische Volte des neuesten Ziegler-Buch besticht: Mit erstaunlicher Leichtigkeit gelingt es dem Bestsellerautor, den Spannungsbogen eines auf den ersten Blick naiv wirkenden Dialogs zwischen der Enkelin Zohra, die als Synonym für alle (noch) Uninformierten steht, und seinem avancierten Wissen über Wesen und Wir­kungsweise des Kapitalismus aufrecht zu halten. In kurzen, prägnanten Antworten auf die sinnfälligen Fragen des Kindes bie­tet der kritische Denker ein verheerendes Fazit des kapitalistischen Systems, das heute die gesamte Weltbevölkerung ausrei­chend ernähren könnte, jedoch tagtäglich Mangel, Zerstörung und Ungleichheit her­vorbringt. Ist es doch Tatsache, dass der Großteil der Weltbevölkerung weder über ausreichende Nahrung, Behausung, Bil­dung, Entwicklungs- und Zukunftschancen verfügt. Desgleiche fehlt es den meisten Menschen auch in der sogenannten entwi­ckelten Welt an dem nötigen Wissen, das Voraussetzung wäre, um eine substantielle Veränderung des Systems herbei zu führen. Umso mehr verstörten Reaktionen man­cher links/liberaler BerichterstatterInnen, wie beispielsweise eine Kolumne von Haus Rauscher im Standard, der den verdienst­vollen Globalisierungskritiker als »längst politisch verrannt« bezeichnet und hinzu­fügt: »Schon seit ziemlich langer Zeit ist er in ein autoritär-linkes Sektierertum abge­glitten, wohin ihm aufgeklärte Linke und Liberale nicht folgen sollten.« Rauscher zitiert Zieglers Aussage, dass ein gesell­schaftlicher Umsturz »ohne Gewalt ….nicht gehen« wird und nennt diese Ansicht »pseudorevolutionären Unsinn«.2

Ziegler bemüht für seine Streitschrift das performative Prinzip des Dialogs, um dieses grundlegende Wissen, das sich seit Karl Marx’ Zeiten in nachgerade unüberschau­barer Weise angesammelt und ausdifferen­ziert hat, unter die Leute zu bringen. So schafft es der charismatische Volksbildner, auch Menschen zu erreichen, die sicher keine »MarxistInnen« sind, keine werden wollen, die weder sehr politisch sind noch linke Parteien wählen. Indem er als Gesprächspartnerin ein Kind wählt und komplexe Zusammenhänge in so einfach verständliche wie elegante Worte zu klei­den versteht, baut er Berührungsängste ab und berührt die Neugier auch jener, die von linken Parteien und Bewegungen traditio­nell vernachlässigt, wenn nicht verachtet werden. Diese nämlich gilt es zu gewinnen, wenn es zu der anvisierten Systemverände­rung kommen soll, um das Rad der Geschichte zugunsten der Mehrheit umzu­drehen – noch bevor sich eine international hochgerüstete Rechte mit ihren konservati­ven PartnerInnen endgültig konsolidiert hat.

Die kindlichen Fragen kennt jede/r aus dem eigenen Leben, selten werden sie jedoch offen geäußert, sei es aus Scham, als ungebildet zu gelten, sei es in der irrigen Annahme, die Antworten bereits zu ken­nen. Sich dem Sprachduktus des Kindes anpassend, schafft er es mühelos, die ver­heerenden Raubzügen und die Folgen von Neo/Kolonialismus zu erklären, um letzt­endlich bei der fantastischen Geschichte der historischen Revolutionen mit ihrer Utopie einer besseren Zukunft zu landen. Der neuerliche Aufruf nach einem neuen Sozialismus als Alternative zur »kannibali­schen Weltordnung« des Kapitalismus eröffnet für Ziegler ein populär wirksames Forum, um die gesellschaftspolitische Wir­kungsweisen des Kapitalismus, die primi­tive Akkumulation, die Verdienste des Marxschen Kapitals sowie die Entstehung der systemisch produzierten Verwerfungen von Armut, Krieg und Hunger anschaulich zu machen. Bisweilen überfällt den/die Leser/in Wehmut, hätten sich doch viele von uns, die wir uns dieses Wissen in jahr­zehntelanger außerschulischer Bildungsar­beit mühsam aneignen mussten, nach sol­chen Eltern, Großeltern, LehrmeisterInnen gesehnt!

Bleibt ein einziger Wermutstropfen: der Dialog mit der Enkelin wirkt streckenweise merkwürdig schematisch! Wie schön wäre es gewesen, hätte es sich der radikale Visio­när und phänomenale Erzähler Ziegler gestattet, bisweilen das Kind au­­­s der eige­nen (Schweizer) Erlebniswelt von Schule, Familie, Freundeskreis sprechen zu lassen. Es hätte den hochkarätigen, ästhetischen Kontrapunkt zum Erzählwerk gesetzt und der ansonsten sachlichen Berichterstat­tung, für die das Kind die Stichworte lie­fert, ein pointiertes Schlaglicht auf unsere heutige zerrissene Wirklichkeit geworfen.

Aufgrund von Jean Zieglers Wien-Aufritt stellte kürzlich die FPÖ eine dringliche Anfrage im Österreichischen Parlament, um den anerkannten Soziologen, Autor und Pädagogen als »Terroristen« an den Pran­ger zu stellen. So hetzte die FPÖ-Politikerin Ursula Stenzel, die SPÖ wolle sich vom linksextremen Jean Ziegler nicht distanzie­ren: Laut Heute fragte die FPÖ-Stadträtin Ursula Stenzel die SPÖ-Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, wie es zu der Verlei­hung der Otto Bauer-Medaille an »den überzeugten Kommunisten Jean Ziegler gekommen sei.« Sie fragte, ob die Verlei­hung ausgerechnet dieser Medaille an einen »bekennenden Befürworter von Gewalt, der sich Che Guevara andienen wollte, Kaup-Haslers Wohlwollen fände«.3

Dem Intellektuellen und Globalisierungs­gegner Ziegler gelingt es mühelos, größere Massen nicht nur Linker oder links-beweg­ter Menschen zu begeistern. »Die größten transnationalen Konzerne haben eine Welt­diktatur errichtet, deren einzige Strategie die Gewinnmaximierung ist«, sagt Ziegler und zitiert zwischendurch Immanuel Kant, Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre und Che Guevara. Mit Letzterem verbindet ihn eine besondere Erinnerung, war er doch einst als junger Mann sein Chauffeur bei einem offiziellen Genf Besuch. Mit Worten Ches – »die stärksten Mauern fallen durch Risse« – unterstützt er die internationalen Widerstands-, StudentInnen-, Gelbwesten und Klimaprotestbewegungen. Seine Hoff­nung auf die weltweite Zivilgesellschaft, in deren Händen in seinen Augen die Zukunft liegt, hat er nicht verloren: »Ich hoffe, dass ich auch noch das Ende des Kapitalismus erleben werde«, sagt er abschließend, ohne voraussagen zu können, was aus den Rui­nen entstehe, wenn die Allmacht einstmals gebrochen sein wird.

1 s. www. experimentaltheater.com, Archiv FLEISCHEREI_mobil 2013

2 Siehe H. Rauscher, 5.4.2019, derstandard.at/ 2000100913985/Das-Problem-mit-Jean-Ziegler

3 www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190409_OTS0193/fp-stenzel-spoe-will-sich-von-linksextremem-jean-ziegler-nicht-distanzieren

Jean Ziegler ist Soziologe, emeritierter Professor der Universität Genf und bis 1999 Nationalrat im Eidgenössischen Parlament. Von 20002–2008 war er UN-Sonderberater für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des Beratenden Aus­schusses des UNO-Menschenrechtsrats und Träger verschiedener Ehrendoktorate und Preise. Zahl­reiche Buchpublikationen, zuletzt Warum wir weiter kämpfen müssen (2018).

Wir schreiben das Jahr 2021. Eine ÖH-Wahl steht an, doch diesmal ist alles anders: Kein absurdes Getümmel vor dem Audimax-Eingang, kein Wald aus Plakat­ständern, größere Demonstrationen und Proteste sind zuletzt ausgeblieben. Zuvor hat die Regierung Zugangsbeschränkungen in allen Fächern eingeführt, die Studienge­bühren sind kaum noch leistbar und die ÖH hat ihr allgemeinpolitisches Mandat verlo­ren. Während draußen das Betteln verbo­ten ist, diskutiert die Regierung drinnen die Einführung einer allgemeinen Schwei­nefleisch-Pflicht.

Im ÖH-Wahlkampf: Debatten darüber, wie effektivere Zugangsbeschränkungen eingeführt werden können, wie viel Klopa­pier am Juridikum verfügbar ist und die größte Kontroverse unter den verbliebenen »Service«-Fraktionen ist, wer das glaub­würdigste Bild einer vermeintlichen »Elite« auf Social Media abgibt.

Der Weg in die Dystopie

Als Schwarz-Blau 2017 an die Macht kommt, ist bald klar, dass nicht die Kleinig­keiten oberste Priorität haben: 12-Stunden-Arbeitstag, 60-Stunden-Arbeitswoche, Angriff auf die Verankerung der Arbeiter_innen-Interessen in Sozial- und Krankenversicherung und nicht zuletzt die gesetzliche und politische Infragestellung menschenrechtlicher und demokratischer Mindeststandards. Gemeinsam mit den rechtsextremen Kamerad_innen in immer größer werdenden Teilen der EU, denen der bereits vorherrschende rassistische und letztlich mörderische Normalzustand noch nicht weit genug geht.

Salami-Taktik

Im Schatten medialer Schein- und Ablen­kungskampagnen steigt im Vorfeld der diesjährigen ÖH-Wahlen der Druck auf die gesetzlichen Studierendenvertreter_innen. Diese sind denselben ökonomischen Bedin­gungen und dem gleichen Leistungszwang unterworfen, wie die allermeisten Studie­renden. Das heißt letztlich: Kaum ein Stu­dierender, kaum eine Studierende kann ohne eine zusätzliche Lohnarbeit das Leben bestreiten, zumeist unter äußerst prekären Bedingungen. Politische Tätigkeiten im Rahmen der ÖH – gleich auf welcher Ebene – sind hiervon nicht ausgenommen. Was gesetzlich als »Aufwandsentschädigung« für die Tätigkeit als Studierendenvertre­ter_in definiert ist, bedeutet in manchen ÖH-Funktionen einen Stundenlohn, der den Vorstellungen des Innenministers für die »Entlohnung« von zur Arbeit gezwungenen geflüchteten Menschen entspricht. In bei­den Fällen: Es wirkt, als ob die gesellschaft­liche Verrohung und Kommerzialisierung jedes Lebensbereiches die Sensibilität und lautstarke kollektive Empörung schwinden lässt. Im ÖH-Kontext herrscht vorsichtiges Abwarten (bis masochistisches Entgegen­kommen) angesichts der durch Regierungs­kreise forcierten massiven Kürzung der Aufwandsentschädigungen. Die Sorge vor dem Spin verstellt den Blick auf den nächs­ten Schritt, die Abschaffung der Pflichtmit­gliedschaft und des allgemeinpolitischen Mandats der ÖH. Die Folge wäre eine geschrumpfte und zahnlose, von Standes­dünkel geprägte Institution – innerhalb derer das Eintreten für Menschlichkeit, die Förderung der Zivilgesellschaft und letzt­lich auch die Kritik des Wissenschaftsbe­triebes zum juristischen und finanziellen Risiko werden.

Europäischer Klimawandel

Im Jahr 2000, als die erste schwarz-blaue Regierung angelobt wurde, war die interna­tionale Entrüstung über den Tabubruch der Konservativen noch unübersehbar. Die rechtsextrem durchsetzte Regierung in Wien wurde im diplomatischen Kontext gemieden, das sich mehrheitlich selbst als irgendwie liberal verstehende EU-Ausland distanzierte sich scharf. 2019 ist das Modell des damaligen Schandflecks zum Normal­zustand geworden. Ungarn, Italien, Polen und Österreich sind die Stützpfeiler einer immer stärker werdenden Achse, die die frühere Doktrin eines möglichen EU-Aus­tritts im nationalen Sinne durch ein ande­res Projekt ersetzt hat: Der Erlangung einer autoritär-neoliberalen und immer rassisti­scheren Hegemonie innerhalb der EU-Insti­tutionen. Dabei haben diese Einrichtungen bereits unter konservativ-sozialdemokrati­scher Führung erste Testläufe der Austeri­tätspolitik erfolgreich abgewickelt. Selbst in Spanien regt sich nur wenige Jahre nach leidvollen Erfahrungen in manchen Parla­menten wieder der Faschismus. Die Sparpo­litik hat die Gefahr derartiger Entwicklun­gen deutlich gesteigert. Ähnlich, wenn auch auf völlig anderer Ebene, verhält es sich mit den Studienbedingungen und dem politischen Engagement an den Unis.

Donnerstag und Freitag

In einem Umfeld, in dem die Studien- und Lebensumstände sich für den allergrößten Teil der Studierenden immer weiter ver­schlechtern, ist es nicht überraschend, dass der Raum für eine Kritik der Verhältnisse und für politisches Handeln enger wird. Auch in anderen gesellschaftlichen Berei­chen vollzieht sich diese autoritär-neolibe­rale Wende mit immer größerer Wucht. Doch die Konsequenzen sind an den Hoch­schulen – die in der Vergangenheit als Labore gesellschaftlicher Veränderung einen größeren Freiraum genossen – stär­ker zu spüren. Ungeachtet dessen gibt es Widerstand, sei es auf den Straßen oder in der ÖH. Dass jede Woche am Donnerstag ein bunter und vielfältiger Demonstrations­zug durch Wien zieht und dass sich Schü­ler_innen gegen die Folgen der kapitalisti­schen Zustände für die Umwelt wehren, ist ein Ausdruck und deutlich wahrnehmbares Zeichen eines notwendigen emanzipatori­schen Aufbegehrens. Damit diese und andere Formen des Protests möglich sind, benötigt es neben der politischen Aktivität von Einzelnen jedoch auch institutioneller Unterstützung. Der maßgebliche Anteil davon kam in den vergangenen Jahren – und mittlerweile Jahrzehnten – von der ÖH bzw. vor allem von der ÖH Uni Wien, deren Politik von einer Zusammenarbeit von VSStÖ, GRAS, KSV-LiLi und den linken Basisgruppen geprägt ist.

Keine Angst für niemand

Die Fortsetzung der Unterstützung zivilge­sellschaftlicher Proteste einerseits und die Verteidigung der Handlungsmöglichkeiten der ÖH andererseits hängen also letztlich zentral vom Ausgang der ÖH-Wahlen im Mai ab. Dabei gilt es, sich von der ausufern­den gesellschaftlichen Angst angesichts des Verwertungsdrucks, der menschenverach­tenden Politik der Regierung und der Kom­merzialisierung aller Lebensbereiche nicht lähmen zu lassen.

Ankündigen, Beschließen, Durchziehen: Das Tempo, das die österreichische Bundesregierung vorlegt, ist doch beachtlich. Den Sound macht es zweifellos.

VON FRANZ SCHANDL

Die Sprachregelungen sind eingeübt und werden bis zum Erbrechen reprodu­ziert. So etwa der Satz, dass die, die arbei­ten, nicht die Dummen sein dürfen. Damit ist nicht gemeint, dass diese zu wenig ver­dienen, sondern dass Arbeitslosen, Sozial­hilfeempfängerInnen und AsylwerberInnen zu viel Geld zugesteckt wird. Erhalten die weniger, geht es den NiedriglöhnerInnen gleich besser, so die frappante Logik, die leider verfängt, gerade auch bei den Betrof­fenen. Gerechtigkeit nennt das die Front­propaganda. Redlich müht sich die Regie­rung, asoziale Desperados zu erzeugen. Ist doch geil wie die, bei denen reingeschnit­ten werden soll, bei ihresgleichen rein­schneiden wollen.

Stets wird die vorletzte Liga gegen die letzte in Stellung gebracht. Underdogs gegen Underdogs, das genau ist die Schlacht, die die rechts-rechte Regierung wünscht und auch bekommt. Die Zustim­mung ist groß. Jene lassen es sich nicht nur gefallen, es gefällt ihnen mitunter sogar. Mit 150 Euro im Monat könne man (falls die Wohnung anderweitig finanziert werde) schon durchkommen, ließ Beate Hartinger-Klein, die amtierende Sozialministerin der FPÖ wissen. Man staune über Unerschro­ckenheit und Kälte, aber das Entsetzen blieb aus. Die größte Leistung der Koalition besteht darin, dass sie die Bevölkerung ver­höhnt, aber diese sich nicht verhöhnt fühlt, zumindest trifft das auf jene zu, die noch wählen gehen. Das Verhältnis zwischen Regierung und Publikum ähnelt einem sadomasochistischen Treiben.

Die tun was!, sagt der Volksmund. Die arbeiten jetzt wirklich. Da geht was weiter. Das schreien auch jene, deren Leistungen beschnitten, deren Perspektiven eingeengt, die fortwährend unter die Räder zu kom­men drohen. Vorsichtiges Taktieren ist rücksichtslosem Traktieren gewichen. Die Exekutive strotzt vor wilder Entschlossen­heit. Ankündigen, Beschließen, Durchzie­hen, so macht man das.

Tempo als Taktik

Lizitieren bestimmt die Taktik. Rauf oder runter, je nach Bedarf. Soll eine Leistung halbiert werden, begegnet man jeder Kritik daran sinngemäß so, dass man sie ja auch ganz streichen könnte. Euch werden wir es zeigen. Die Kunst besteht in der Kunst des Nachlegens: Noch eins drauf. Noch eins drüber. Noch was kürzen. Da werden die anderen aber schauen. Tatsächlich, sie schauen nicht nur, sie starren gleich Kanin­chen. Nachfragen geht im Nachlegen unter. Ablenkung verschiebt die Aufmerksamkeit.

Gas geben! Das Tempo macht den Sound. »Speed kills« nannte das Andreas Khol, der ehemalige Parlamentspräsident der ÖVP, einer der Konstrukteure der ersten schwarz-blauen Koalition unter Wolfgang Schüssel (2000–2006). Die Dynamik der Paa­rung Kurz-Strache unterscheidet sich jedoch von Schüssel-Haider, einem Projekt, das zwar nicht politisch, aber mental zum Scheitern verurteilt gewesen ist. Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache hingegen verstehen sich prächtig. Da stimmt die Che­mie. Die FPÖ darf vorpreschen, damit der Kanzler dann stets eine Light-Version der freiheitlichen Vorschläge präsentieren kann, auf die man sich gütlich geeinigt hat. Kurz moderiert und die ÖVP bringt durch, was sie will. Machen die einen auf »High noon«, so die anderen auf »Honey moon«.

Das Tempo erhöht auch Norbert Gerwald Hofer, der ehemalige Präsidentschaftskan­didat und nunmehr Infrastrukturminister der FPÖ. Auf den Autobahnen soll schneller gefahren werden. Vorerst überlegt man eine Anhebung von 130 auf 140 km/h. Als Kritik an seiner Maßnahme laut wird, rea­giert er mit der Ausweitung der Teststre­cken, ja lässt süffisant wissen, dass er über eine Höchstgeschwindigkeit von 160 noch nicht nachdenke. So geht das. Österreich muss auf die Überholspur. Auch die Deut­schen dürfen so schnell fahren wie sie wol­len. Freie Fahrt für freie Bürger!

Vorpreschen und noch einmal vorpre­schen. Nachladen. Zielen. Schießen. Es herrscht eine Politik der Vorgaben. Es dominiert das Dekret. Das funktioniert blendend. Blendend ist genau das richtige Wort, die Methode fasziniert. Es brodelt und es jodelt der Boulevard: »Basti Fan­tasti!« Herwig Hösele, der ehemalige Bun­desratspräsident der ÖVP, beschreibt das gar als »vitalisierte Demokratie«.

Türkis-Blau hat jedenfalls den Modus gewechselt. Strategisch ist man von der Defensive zur Offensive übergegangen. Angriff ist die beste Verteidigung. Der Stel­lungskrieg ist dem Bewegungskrieg gewi­chen. Andauernd wird nach vorne gestürmt. Nur nicht lang fackeln, lautet die Devise. Die Opposition soll nicht einmal zum Verschnaufen kommen. Zur Zeit ist niemand in Sicht, der der Regierungskoali­tion die Initiative entwinden könnte. Kalt­schnäuzigkeit brilliert. Der Gestus der Macht ist offensichtlich: Nicht »Wir haben was zu sagen«, heißt die Botschaft, sondern »Wir haben hier das Sagen«.

Weitgehend synchronisiert ist die rechts-rechte Regierung mit den Stimmungen in der Republik. Das mag man nicht sympa­thisch finden, aber dem ist so. Ein chroni­sches Problem der Sozialdemokratie besteht darin, dass sie nicht wesentlich anders tickt, wie diverse ProponentInnen auch immer wieder demonstrieren. Wie gegen die geplante Sicherungshaft für potenzielle GefährderInnen sein, wo doch die eigene Basis dafür ist? Das prophylakti­sche Wegsperren findet überhaupt eine satte Unterstützung im Land, da mögen fast alle RechtsexpertInnen noch so kenntnis­reich dagegen argumentieren. Die Präven­tivhaft wird wohl gelitten.

The winner of the shooting is...

Sebastian hat das Shooting gewonnen, daher ist er ein Star. Shooting Star nennt sich das. Und er bewegt sich auch so. Kurz ist weniger Kanzler als Illustrator eines Regierungschefs. Am liebsten jettet er über den Planeten – Kairo, Peking, Washington, Bukarest –, um seine Wichtigkeit zu demonstrieren. Das mag der Welt nicht auf­fallen, hierzulande läuft es täglich aus diversen medialen Konserven. Die Eindrü­cke kommen an. Da ist nichts originell, aber alles professionell, da ist nichts neu, aber alles wirkt geschliffen. Wörter, ganz leer, funkeln televisionär. Likes und Followers gehen durch die Decke. Jedes Auftreten ein Auftritt. Das Stück ist schlecht, aber die Regie ist ausgezeichnet. Seht her, da ist der Mann, der die Balkanroute verstopft hat, sagen die PolitdesignerInnen. Der Kanzler selbst ist nicht Teil der Schlacht, sondern über sie erhaben wie erhoben. Er lässt schlagen.

Das gegenwärtige Surplus der Volkspar­tei resultiert auch aus dieser taktischen Überlegenheit. Choreographie und Insze­nierung sind dabei ganz wichtig. Von der Sprache bis zur Körperhaltung herrscht ein Verhaltenskodex. Die Uniformierung des Vokabulars ist signifikant. Auf diesem Sprechblasenkomplott gedeihen die ent­geistigten und fehlemotionalisierten Hal­tungen. Was intellektuell begreifbar ist, ist mental alles andere als greifbar. Auf jeden Fall gelingt es, Zorn und das Unbehagen stets Richtung Ressentiment und Vorurteil umzuleiten. Das türkise Projekt funktio­niert als Vexierbild einer Start-Up-Projek­tion. Dass der aufgestiegene Sebastian Kurz ungefähr gerade so viel Zuspruch hat wie die abgestiegene Angela Merkel, fällt gar nicht erst auf. Auf europäischer Ebene wird er als der kommende Mann gehandelt.

Kurz-Publikum und der Kurz-Typus bil­den aber keine neue Identität, so sehr sie aufeinander auch bezogen sein mögen. WählerInnenschaft und Typus korrespon­dieren nicht. Erstere wählen ihn nicht, weil sie so sind wie er, sondern weil sie es toll finden, wie er wirkt. Sie abstrahieren von ihren Interessen um sich instinktiv wie paradigmatisch den Erscheinungen hinzu­geben. Kommunikation wird dabei auf ein Anhängen, Anhimmeln und Aufschauen konzentriert. Fan und Star treffen sich in diesem autoritären Verhältnis.

Und doch ist nicht alles eitel Wonne für Kanzler und Kanzlerpartei. Ein Drittel der WählerInnen sind nämlich zugeflogene Stimmen, volatil nennt das die Business­sprache. Diese Zugewinne bauen auf Zugvö­geln. Was aber auch umgekehrt heißt, dass zwei Drittel, sagen wir 22 der 33 Prozent der GesamtwählerInnenschaft, die ÖVP auch ohne Kurz unterstützen würden oder sogar trotz ihm. Das aktuelle Reservoir der ÖVP besteht so aus zwei großen Gruppen: Da ist die erodierende StammwählerInnen­schaft und da ist die fluktuierende Wech­selwählerInnenschaft, das spezifische Kurz-Publikum. Wahlerfolge halten diese Allianz zusammen. Erstere ist bereits seit 30 Jahren in Auflösung begriffen, die zweite Gruppe aber war nie stabil und wird es auch nie werden. Es ist auch fragwürdig, ob dieses Segment noch viel wird zulegen können.

Ein Problem ist, dass Kurz zwar die Mehr­heit sichert, aber selbst in der Partei keine Mehrheit hat. Über diese »verfügen« wei­terhin die alten Großkoalitionäre, vor allem die mächtigen Bundesländerfürsten. Der Apparat macht insgesamt gute Miene, hat aber zur Kurz-Partie ein reserviertes und taktisches Verhältnis. Der Kanzler ist der Bevölkerung bekömmlicher als seiner Par­tei. Zugute kommt ihm, dass er die Natio­nalratswahl gewonnen und die Partei nach außen geeint hat. Türkis ist nicht schwarz, heißt es. Tatsächlich, Türkis ist ein Black Out sui generis.

Indes ist die ÖVP nach wie vor – ähnlich der SPÖ – in einer veritablen Krise, die jedoch völlig zugedeckt wird. Das fällt aber nicht auf und wird daher auch nicht thema­tisiert. Solange die Ergebnisse stimmen, herrscht das Black Out. Sobald hier Schwä­chen auftreten, wird das System Kurz implodieren.

Es hat schon was Usurpatorisches. Viel grob, wenig robust. Der Erfolg baut auf Sand, aber zweifellos, visuell und virtuell ist jede Menge Sand vorhanden. Ganze Dünen türmen sich da auf.

Von ELKE DANGELEIT

Die Hohe Wahlkommission (YSK) hat nach der Kommunalwahl am 31. März die schwierige Aufgabe, die Niederlage der AKP in sechs wichtigen Großstädten zugunsten der kemalistischen CHP und die Rückeroberung vieler kurdischer Kommunen im Südosten der Türkei durch die linke HDP irgendwie als Erfolg hinzubiegen. Das braucht Phantasie und Fingerspitzengefühl, denn einerseits darf die von Erdogan persönlich eingesetzte YSK den Chef nicht verärgern, andererseits darf sie auch nicht zu offensichtlich schummeln.

Schon kurz vor der Wahl heizte der türki­sche Innenminister Soylu die Stimmung mit dem Satz weiter an: »Es gibt keine politische Partei namens HDP. Es gibt die PKK. Diese Abgeordneten sind keine Parlamentsabgeord­neten. Es sind die Abgeordneten der PKK, des Terrors.« Der Außenminister Çavusoglu sagte, alle Kandidaten der HDP seien »zu hundert Prozent PKKler«. Der Vorsitzende Devlet Bah­çeli der ultranationalistischen Partei MHP meinte gar, alle, die ihre Stimme nicht dem AKP/MHP-Bündnis geben würden, unterstüt­zen Terrororganisationen – womit er vor allem die Kurdische Arbeiterpartei meinte. Nach dieser Logik haben sich am 31. März bei den Kommunalwahlen Millionen Menschen der Terrorunterstützung schuldig gemacht. Erdogan persönlich drohte im Vorfeld der Wahlen, dass er denjenigen Kommunen, die nicht von der AKP regiert werden, den Geld­hahn zudrehen will: »Selbst wenn sie Bürger­meisterposten gewinnen, sind sie nicht in der Lage, das Personal zu bezahlen. Wundert euch nicht, wenn die Banken die Einkommen der Kommunen konfiszieren.«1

Wahlmanipulationen

Im Vorfeld der Kommunalwahl gab es zahlrei­che Hinweise auf Wahlmanipulationen: In Siirt trafen Dutzende Busse mit »Geisterwählern« ein, die von gepanzerten Fahrzeugen begleitet wurden. Im Vorfeld der Kommunalwahlen hatte sich herausgestellt, dass 6.488 Wahlbe­rechtigte nicht im Wahlregister aufgeführt sind. Stattdessen fanden sich in dem Verzeich­nis tausende Wahlberechtigte, die in öffentli­chen Gebäuden oder unbewohnten Baustellen gemeldet sind. »Geisterwähler«, die in Polizei­fahrzeugen in die Städte gebracht wurden, wurden auch aus Mersin, Adana, Antalya und Konya gemeldet.

Siege der Opposition

Trotz massiver Wahlbehinderung gewann die HDP in den überwiegend kurdischen Gebieten mit ihren Bürgermeisterkandida­tInnen. Verschiedentlich näherte sie sich gar einer Zwei-Drittel-Mehrheit wie in Diy­arbakir mit 63,47 und Batmann mit 65,72 Prozent.

Die andere Oppositionspartei, CHP, löst in der Hauptstadt Ankara nach 20 Jahren die AKP ab. Der CHP-Kandidat, Ekrem İma­moğlu, konnte sich in Istanbul gegen den AKP Kandidaten Binali Yildirim durchset­zen. In allen Küstenstädten in der West-Türkei stellt die CHP nun den Bürgermeis­ter. Die HDP trat zugunsten der CHP nicht in diesen Großstädten an.

Denkzettel für die AKP: Verlust von Istanbul

Der Verlust von wichtigen Großstädten in der Westtürkei ist ein heftiger Denkzettel für Erdogan und beweist, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung ganz und gar nicht mit Erdogans autokratischer, natio­nalistisch-islamistischer Politik einverstan­den ist. Trotzdem ist die AKP landesweit als stärkste Partei aus den Wahlen hervorge­gangen.

Erdogan, der nicht nur Präsident und Regierungschef, sondern auch Parteichef ist, feierte zwar schon den Sieg seiner Par­tei, musste aber auch einräumen, dass sich die AKP nicht überall durchsetzen konnte. »Wir haben einige Städte verloren. Das gehört zur Demokratie dazu.« Dennoch erklärte er die Regierungspartei AKP zum Gewinner der Kommunalwahl.

Allerdings will er das Wahlergebnis in Istanbul nicht anerkennen, denn im Wahl­kampf versuchte er – in Anlehnung an sei­nen Werdegang als ehemaliger Istanbuler Bürgermeister – mit dem Slogan »Wer in Istanbul die Wahl gewinnt, regiert die Tür­kei«,2 auf Stimmenfang zu gehen. Eine Nie­derlage der AKP in Istanbul könnte dem­nach von der Bevölkerung als der Anfang vom Fall Erdogans interpretiert werden. Also beantragte er die Neuauszählung der Stimmen, die aber den knappen Sieg von İmamoğlu bestätigte. Nun soll in Istanbul nach Erdogans Willen neu gewählt werden.3 Denn seine Familie hat ganz eigene Interes­sen in Istanbul, die gesichert werden wollen: Seit 25 Jahren steht die Kommunalverwal­tung von Istanbul mit einem Jahresbudget von beinahe fünf Milliarden Euro unter Erdo­gans Obhut. Davon flossen im Jahr 2018 fast 135 Millionen Euro Spenden an islamistische Stiftungen. Am meisten floss an vier Stiftun­gen, denen Erdogans Sohn Bilal vorsitzt, gefolgt von einer von Erdogans Schwieger­sohn Selçuk Bayraktar geleiteten Stiftung. Aber auch Unternehmer, denen Erdogan zu Reichtum verhalf, bangen nun um ihre Finanzspritzen aus der Metropole: Fast alle Dienstleistungen, wie der Betrieb der Metro, Infrastrukturmaßnahmen, der Autoverleih und die Müllabfuhr, wurden per Ausschrei­bung den Inhabern der Zeitungen Sabah und Yeni Safak zugeschanzt, die Erdogan als Sprachrohr dienen.4 ­­­

Keine Anerkennung der HDP-Bürgermeister in Kurdengebieten

Täglich gibt es neue Meldungen, wie die AKP-Regierung versucht, die Ernennung der gewählten HDP-Bürgermeister zu verhin­dern. Die Wahlkommission erkannte z.B. den Wahlsieg von sechs HDP-Bürgermeistern in den kurdischen Gebieten nicht an, da sie zuvor per Dekret aus dem Staatsdienst ent­lassen wurden, deshalb für das Amt nicht geeignet und von daher durch die Zweitplat­zierten – fast alles AKP-Kandidaten – zu ersetzen seien.5

Insgesamt verweigert die Hohe Wahlkom­mission (YSK) 48 gewählten kurdischen Bür­germeistern der HDP, darunter auch die bekannten Bürgermeister Ahmet Türk und Figen Altindag der Großstadt Mardin, das Mandat und die Übergabe der Ernennungs­urkunden.

1 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/warum-erdogan-istanbul-nicht-aus-der-hand-geben-will-16134377-p3.html

2 https://www.dw.com/de/istanbul-eine-stadt-zwei-bürger­meister/a-48227566

3 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/warum-erdogan-istanbul-nicht-aus-der-hand-geben-will-16134377.html?fbclid=IwAR0qrVyyBYPTAHmNARLBquaqAxi­ioSpwp_njWXsSAAe31xZ7jauibUP2ZNo

4 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/warum-erdogan-istanbul-nicht-aus-der-hand-geben-will-16134377-p3.html

5 https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/tuerkei-kommu­nalwahl-hdp-buergermeister-aberkennung-wahlkommission?fbclid=IwAR3ffGHVJVirRnfcr0GKZOkuRSKsHs1S2tl1uzwwNFRol2boT24vs1IyqhA

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Elke Dangeleit, Jhg. 1960, Ethnologin und Journalistin, ist Mit­glied im Kommunalpar­lament des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg für die Partei DIE LINKE und enga­giert sich vor allem im migrationspolitischen Bereich mit Schwer­punkt Naher und Mitt­lerer Osten.

omofuma2scDer Marcus-Omofuma-Stein der Bild­hauerin Ulrike Truger am Beginn der Mariahilferstraße in Wien erinnert an den Mord am 26-jährigen Marcus Omofuma. Er wurde am 1. Mai 1999 während seiner Abschiebung nach Sofia von drei Polizisten getötet. Mit Klebeband an den Sitz gefes­selt, Mund und Nase verklebt, starb Marcus Omofuma im Flugzeug.

Nachdem die Nachricht über seinen Tod bekannt wurde, gelang eine breite politi­sche Organisierung von Schwarzen Com­munities und Antirassist*innen mit zahlrei­che Aktionen, Großdemos und einer mona­telangen Mahnwache vor dem BMI.

Die Reaktion der Behörden unter SPÖ-Innenminister Schlögl war die »Operation Spring«, eine Polizeiaktion, bei der viele jener Schwarzen Aktivist*innen als Drogen­dealer verleumdet, verfolgt und einge­sperrt wurden, die sich nach dem Tod von Marcus Omofuma organisiert hatten, um dem Rassismus in Politik und Medien etwas entgegenzusetzen. Nach dem ersten »gro­ßen Lauschangriff« in Österreich wurden über 100 Verhaftungen durch etwa 850 Polizist*innen vorgenommen und das Kon­strukt der nigerianischen Drogenmafia nachhaltig etabliert. Vor Gericht traten anonyme Kronzeugen auf, ihre Gesichter waren durch Schihauben und dunkle Motorradhelme verdeckt. Der Dokumentar­film »Operation Spring« von Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber aus dem Jahr 2005 setzt sich kritisch mit diesen Ereignissen auseinander.

Heute, 20. Jahre später, haben wir eine Regierung, die Rassismus in alltäglicher Normalität für ihre Politik einsetzt und mit Maßnahmen wie der Ausweitung von Schubhaft und Umwidmung von Erstauf­nahme-Einrichtungen in »Ausreisezentren« diesen Rassismus weiter forciert, legistisch festschreibt und exekutiert.

Abschiebe-Charter nach Nigeria starten aus Wien Schwechat im Monatstakt. Men­schen aus Afghanistan werden zurück in den Krieg geschoben, Deportationen von geflüchteten Tschetschen*innen finden trotz umfangreich dokumentierter Men­schenrechtsverletzungen statt.

Am 1. Mai demonstrierten in Wien rund 800 Personen im Gedenken an Marcus Omo­fuma gegen Abschiebungen und rassisti­sche Polizeigewalt.

Die Berichterstattung der österreichischen Medien zur Europawahl hat einen gravierenden Makel. Gleich ob Boulevard, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, sogenann­ter Qualitätsjournalismus oder liberaler Blätterwald – eine der sieben antretenden Parteien wird schlicht aus­geblendet.

KLEMENS HERZOG skizziert einen demokratie ­politischen Skandal ohne Widerhall.

Am 24. April gab die Bundeswahlbe­hörde bekannt, dass insgesamt sieben Listen auf dem Stimmzettel der Europawahl stehen werden. Neben den sechs Parla­mentsparteien steigt auch die KPÖ PLUS mit Katerina Anastasiou in den Ring. Wäh­rend Medien Behördenangaben im Regelfall blindlings wiedergeben, lassen sie in die­sem Fall etwas mehr Kreativität walten. In Berichten und Sendungen zur Europawahl ist durch die Bank nur von sechs antreten­den Parteien die Rede. Es ist ein quasi kol­lektiver Ausschluss einer Liste aus der Berichterstattung und dem demokrati­schen Wettbewerb der Ideen.

Jeder gegen Jeden?

Unter dem Titel »Jeder gegen Jeden« lud der Privatsender PULS 4 Ende April zur Hauptabendzeit zum Duell der »sechs« SpitzenkandidatInnen. Vergeblich suchte man jedoch die siebente Spitzenkandidatin. Auch bei den Wahlkonfrontationen im ORF, auf ATV, OE24TV und Servus TV das gleiche Bild: eine Kandidatin fehlt. Über hundert TV-Sendungen und Duelle laufen nach die­sem exklusiven Schema ab. Auch im Zeitungsbereich spielt sich Vergleichbares ab. So titelt Wolfang Fellners Boulevardblatt, »EU-Wahl: Alle Kandidaten im Österreich-Check«, ohne die siebte Kandidatin abzubil­den oder gar zu erwähnen. Es sind dies nur wenige Beispiele von unzählbar vielen – der Ausschluss der radikalen Linken zieht sich wie ein roter Faden durch die Berichter­stattung und Einladungspolitik zu Diskus­sionen. Die andauernde Wiederholung, das mediale Trommelfeuer des Immergleichen prägt die kollektive Wahrnehmung. Am Wahltag werden wohl nicht wenige über­rascht sein, am Stimmzettel eine siebte Liste vorzufinden.

Demokratie passt nicht ins Konzept

Nachgefragt bei den Verantwortlichen hört man meist die gleiche Antwort: Es werden nur Parteien berücksichtigt, die bereits im Europaparlament oder im österreichischen Nationalrat vertreten sind. Wenn man nun aber wissen will, WARUM dieses Kriterium überhaupt relevant sein soll, herrscht meist Funkstille; oder es heißt »Machen die ande­ren auch so« – »War schon immer so« – »Ist halt so«.

Drei bemerkenswerte Antworten sollen an dieser Stelle herausgegriffen werden. So gibt der Chefredakteur der Wiener Zeitung auf die Frage hin, wieso im Wahlhelfer nicht alle antretenden Parteien berücksich­tigt wurden, zu bedenken: »Inhaltlich war das nicht immer zielführend, weil natürlich nicht alle Klein- und Kleinstparteien ein ausgereiftes und detailliertes europapoliti­sches Programm haben. Tatsächlich haben diese Kleinparteien dann auch stets die Ori­entierung für die Bürger als Ergebnis des Wahlhelfers beeinträchtigt«. Sonderlich viel traut man der WählerInnenschaft offenbar nicht zu. Sechs Listen sind zumut­bar, eine Siebte jedoch schon überfor­dernd?

Von PULS4 kam die Begründung: »Die Planung einer so umfangreichen TV-Sen­dung beginnt nicht erst 20 Tage davor [Anm.: Frist, zu der die Kandidaturen ein­gereicht werden], sondern sollte zu diesem Zeitpunkt bereits großteils abgeschlossen sein«. Leider passt die Demokratie nicht in das Sendungskonzept. Schade.

Originell auch die Begründung aus dem Verbindungsbüro des Europäischen Parla­ments in Österreich, das in Zusammenar­beit mit der Universität Wien eine Podi­umsdiskussion mit »allen« sechs Spitzen­kandidatInnen organisiert: »Eine Festle­gung der PodiumsdiskutantInnen im Vorhi­nein ist bei jeder Veranstaltung aus Grün­den der Organisation, insbesondere der immanenten zeitlichen Beschränkungen, notwendig.« Und Zeit ist bekanntlich Geld.

Demokratiepolitisch ist dies höchst bedenklich. Denn wer die Hürde auf den Stimmzettel nimmt, ist rechtlich wählbar. Das gilt für die KPÖ gleichermaßen wie für alle anderen Parteien. Ob eine Partei auch moralisch und inhaltlich wählbar ist, haben die Wähler und Wählerinnen zu entschei­den. Nicht die Chefredaktionen und Veran­stalterInnen von Podiumsdiskussionen. Man kann nun die teils hanebüchenen Rechtfertigungen für den Ausschluss zur Kenntnis nehmen, oder man hält es mit Noam Chomsky, der postulierte: »Der schlauste Weg, Menschen passiv und folg­sam zu halten, ist, das Spektrum akzeptier­ter Meinungen strikt zu limitieren, aber innerhalb dieses Spektrums sehr lebhafte Debatten zu erlauben.«

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