artikel, einzeln in html

artikel, einzeln in html (388)

100 JAHRE: Kommunismus im 21. Jhdt?

Redaktionell gekürzte Fassung einer Rede von MICHAEL SCHMIDA bei der Festveranstaltung »100 Jahre KPÖ Oberösterreich« am 16.2.2019 in Linz.

Die hier vorgenommene Positionsbestimmung einer progressiven Linken verbindet ein theore­tisch fundiertes Denken mit einer reflektierenden, emanzipatorischen Praxis. Der lange Atem, den die KPÖ in den letzten 100 Jahren bewiesen hat, reicht auch längst ins Neue. Das Erscheinungsbild der Partei ist vielfältig und das Streben nach Befreiung und Solidarität gilt für alle.

Wenn wir uns heute, gut 100 Jahre nach der Gründung der KPÖ, fragen »Was bleibt für die Zukunft?«, dann müssen wir uns zuerst selbstkritisch vielen Tatsachen aus der Vergangenheit, die mit dem Kom­munismus in Verbindung gebracht werden, stellen. Es gilt der bekannte Satz von Max Horkheimer über den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus auch abge­wandelt hier: »Wer heute vom Kommunis­mus redet, darf von Realsozialismus und Stalinismus nicht schweigen.«

s15Die Anerkennung der negativen Entwick­lungen, der inakzeptablen Verbrechen im Namen des Kommunismus ist aber nur der erste Schritt. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch hat das zwar auf das Verhältnis »Marxismus und Realsozialismus/Stalinis­mus« bezogen, nämlich ob sich »der Mar­xismus im Stalinismus zur Kenntlichkeit oder bis zur Unkenntlichkeit verändert« hat, aber allgemeiner kann auch gefragt werden, ob sich der Kommunismus, wenn er in der Vergangenheit Wirklichkeit wurde, zur Kenntlichkeit oder zur Unkenntlichkeit verändert hat. Gläubige des Antikommunismus und des Sowjetkommunismus würden diese Frage gleichsam mit erster Beschreibung beant­worten. Für uns, wo wir uns weder unver­antwortlich aus der Geschichte stehlen wol­len, noch etwas beschönigen, gibt es eigent­lich nur die Möglichkeit, darauf mit der Feststellung der Unkenntlichkeit zu ant­worten. Damit müssen wir uns aber immer auch die Frage gefallen lassen, was habt ihr denn, ihr Kommunist*innen, für eine Garantie, dass nicht wieder in Zukunft diese Idee bis zur Unkenntlichkeit verzerrt Realität wird?

K und Partei

Es wird also viel Fingerspitzengefühl von uns abverlangt, wie wir mit dem Erbe umgehen. Wo ist es angebracht, Verweise zu setzen, positiv sich auf Vergangenes zu beziehen, und wo ist es eher für viele kon­traproduktiv, ruft die falschen Assoziatio­nen hervor und stellt uns auf die Seite des Alten, wo wir doch Neues und Anderes wol­len. Von einem der wichtigsten Marxisten und Kommunisten des 20. Jahrhunderts, von Antonio Gramsci, stammt der Satz »Eine Krise besteht darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.« In einem solchen Stadium der Zei­tenwende befinden wir uns gerade. Wir sehen vor uns eine große Gesellschaftskrise im umfassenden und mehrfachen Sinn. Aber auch kaum zu übersehen ist eine Krise der dieser Gesellschaft kritisch bis ableh­nend gegenüberstehenden Linken.

Wir haben viel dazugelernt, wir sind weit weg von dem, was Kommunistische Partei im 20. Jahrhundert und was damals Kom­munismus-Verständnis war. Das ist gut so! Wir haben gebrochen mit stalinistischen, autoritären Politikmodellen, die die Partei­verhältnisse, die Beziehungen der Genos­sinnen und Genossen zueinander im Inne­ren, aber auch die Anschauungen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, zu denen sich die KPÖ in der ein oder anderen Weise in Stellung gebracht hatte, prägten.

Das Gespenst das K heißt

Ich hänge nicht am Namen mit dem K. Viel wichtiger wären mir andere, bessere Lebensumstände für alle Menschen, z.B. hier in Österreich, wozu es eine starke linke politische Kraft dringend braucht. Wir haben mit dem alten, rohen K auf vielfäl­tige Weise gebrochen, haben unser K-Bild modernisiert, den aktuellen Gegebenheiten angepasst, aber trotzdem ist das alles andere als eindeutig. Das K ist und bleibt im höchsten Maße ambivalent, mehrdeutig und widersprüchlich und lässt sich (noch) nicht auf den von der KPÖ eingeschwenk­ten Weg eindeutig festlegen. Mächtig steht dem manche geschichtliche, aber auch gegenwärtige Interpretation entgegen.

Das eine ist das K im Parteinamen. Aber ist das K-Wort überhaupt noch zu retten? Auch nach den verheerenden Niederlagen ist das K jedenfalls noch immer da. Es bleibt Reiz- und Schimpfwort für die Mächtigen, Unwort in der veröffentlichten Meinung und ein umkämpfter Begriff auch in der Linken. Bei den Anti-Trump Protesten in London hat sich im britischen Fernsehen ein bekannter männlicher, älterer Journa­list über die Protestierenden empört. Sie würden ja nur gegen Trump protestieren, weil sie alle für Obama wären. Daraufhin hat ihm eine junge britische Social Media-Bloggerin und Aktivistin trotzig-scharf mit dem Satz geantwortet: »I‘m not a Fan of Obama or the democratic party because I‘m literally a communist you idiot!« Ich bin wirklich / buchstäblich eine Kommunistin! Damit war alles gesagt! Mehr Distanzierung vom liberaldemokratischen Establishment in einem Satz geht kaum! Der Clip mit die­sem unmissverständlichen kommunisti­schen Widerspruch wurde im Internet viral.

Aus den Trümmern des alten Kommunismus

Ich habe Garantien erwähnt, Garantien, die wir als Kommunist*innen abgeben müssen, wenn wir für diese Anschauung weiter wer­ben wollen. Dies betrifft aber übrigens auch die gesamte Linke, wenn sie eine andere Gesellschaft mit grundsätzlichen Verände­rungen anstreben will. Bei der Einordnung von Parteien oder Bewegungen im politi­schen Spektrum hat sich neben der klassi­schen Links-Rechts-Unterscheidung, die sich heutzutage in erster Linie auf ökono­mische Fragen bezieht, also pro- oder anti­kapitalistisch, noch eine zweite Achse etab­liert. Diese Achse bezieht sich auf die sozio­kulturelle, individuelle Ebene und wird mit den Polen »autoritär« oder »selbstbe­stimmt/libertär« beschrieben.

Auf diesen politischen Kompass verwei­sen auch die aktuellen Debatten, wenn eine Politik der Verteilung einer Politik der Identität bzw. Anerkennung gegenüberge­stellt wird. Von bestimmter Seite wird dann argumentiert, eine linke Politik der Zukunft braucht die Rückkehr zu mehr Klassenkampf und weniger Identitätspoli­tik. Aus Didier Eribons Biografie wie auch aus den mit eingeflochtenen Lebensge­schichten seiner Eltern im Buch »Rückkehr nach Reims« lässt sich aber schön ableiten, dass es zwingend beides braucht: Die Soft­ware der Identitätspolitik und die Hard­ware des Klassenkampfs. Und dass beide sich im Idealfall auch gegenseitig unter­stützen können.

Vernachlässigen wir das eine oder das andere, ist es entweder diskriminierend und ungerecht oder umgekehrt ungerecht und diskriminierend. Außerdem verlangt der aktuelle Rechtsrutsch mit dem Populis­mus, Antifeminismus und Nationalismus geradezu ein starkes Engagement für Frau­enrechte, sexuelle und andere Minderhei­ten. Im Konzept der Menschenrechte ist dieser umfassende Anspruch auf menschli­che Befreiung bzw. auf Selbstbestimmung gegen Unfreiheit in ein individuelles Schutzrecht gegossen, in dem soziale und demokratische Rechte angeführt werden. Bei aller auch berechtigten Kritik an die­sem Konzept, gerade aus aktuellem Anlass, aber auch aus der Geschichte und den Erfahrungen des Staatssozialismus, sollten Menschenrechte eine dieser Garantien sein, die für Kommunist*innen weder teilbar, noch verhandelbar sind.

Das Kommunistische im 21. Jahrhundert

Wir müssen auch festhalten: Es gab nie den Kommunismus im Singular, es gab immer nur DAS Kommunistische im Plural. Histo­risch sind sehr verschiedene Ansätze, Pro­jekte, Versuche und Utopien wie Theorien bekannt, die sich als kommunistisch bezeichneten oder als solche dargestellt wurden, wie der deutsche Philosoph Michael Brie sehr schön im gleichnamigen Buch zeigt. Sogar dort, wo der Kommunis­mus herrschte, gab es kommunistischen Widerstand, gingen Kommunist*innen in den Gulag, auch weil sie ihren Idealen treu geblieben sind.

Wo der sowjetische Staatsparteisozialis­mus sich umfassend durchsetzte, wurde das Kommunistische immer mehr unterdrückt und zurückgedrängt. Der autoritäre oder rohe Kommunismus muss unterscheiden werden vom freiheitlichen Kommunismus, der Assoziation, in der die freie Entwick­lung eines jeden/einer jeden, zu freien Ent­wicklung aller wird. Die Künstlerin und politische Autorin Bini Adamczak sieht das Unsterbliche des Kommunismus eben darin, dass erst er »das historisch einklag­bare Anrecht in die Welt gezwungen hat, keine Entmündigung hinnehmen, nicht eine einzige Erniedrigung mehr ertragen zu müssen. Seitdem ist noch das kleinste Unrecht größer und das größte schmerzt um ein Vielfaches mehr.«

Was die Umsetzung dieses emanzipatori­schen Impulses betrifft, gilt es aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu ler­nen, dass es nicht die große einmalige Kraftanstrengung mit dem einzig-richtigen Bewusstsein sein wird, die uns näher in eine kommunistische Zukunft bringen wird. Es sind vielmehr die vielen kleinen Kämpfe und Widersprüche, in denen Men­schen, darunter auch Kommunist*innen, lernen und sich und die Umstände zu einem Besseren verändern. Oder wie es Michael Brie formuliert: »Das Kommunisti­sche erwächst aus dem Alltag – gefordert ist die Fähigkeit, es zu erkennen, unabhän­gig davon, welche Attribute es sich gibt oder ihm gegeben werden.«

Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert sein, wo die heutige Zivilisation an ihr Ende kommen wird. So viel steht mit ziemlicher Sicherheit fest. Die Frage ist nur, wie dieses Ende aussehen wird! Die menschliche Zivi­lisation kann in maximaler Kapitalverwer­tung, verheerender ökologischer Zerstö­rung, Nationalismen, neuen Faschismen und Kriegen untergehen. Oder eben es ent­steht eine neue Zivilisation, die ein grund­sätzlich anderes Verhältnis der Menschen zu sich selbst (also ihrer eigenen Natur), zueinander und zur äußeren Natur begrün­det. Das Kommunistische steht hier am radikalsten und umfassendsten für diese diametral andere Zukunft.

Rote Fahnen sieht man besser … Stationen in der Geschichte der KPÖ in Oberösterreich 1918–2018. Die Doku­mentation kann in Printform oder als PDF bestellt werden:

KPÖ-Oberösterreich

Melicharstraße 8

4020 Linz

Telefon +43 732 652156

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Filmbericht von EVA BRENNER.

Oftmals finden die wirklich guten kultu­rellen Ereignisse abseits des Main­streams, leise und in aller Stille statt. So geschehen bei der unspektakulären Pre­miere des Dokumentarfilms »ÜBER WEITER LEBEN. Geschichten aus Wien« von Birgit Peter und Theresa Eckstein am 15. Mai 2019 im Wiener Stadtkino. Das Projekt, dem trotz (bislang) fehlendem Verleih eine (auch) internationale Zukunft beschert sein sollte, hat sich aus einer wissenschaftlichen ZeitzeugInnen-Studie zur Holocaust Educa­tion an der Universität Wien entwickelt und wurde primär privat finanziert (von der Stadt Wien skandalöser Weise mit kei­ner Förderung bedacht). Entstanden ist ein kleines Filmjuwel, das Zeugnis ablegt von einerseits ganz unterschiedlichen Charak­teren noch Überlebender und ohne Pathos Auskunft gibt über die tiefen Wunden, unter denen die Betroffenen, die mit Glück, Anstrengung und größten Mühen das Über-Leben geschafft haben, bis heute leiden. Dazu zählt vor allem eine ausführliche Debatte über die Situation nach 1945, also den Nachkriegsjahren.

Wie weiter nach Ächtung, Schmach, Vertreibung?

Der Dokumentarfilm präsentiert sieben Inter­views und stellt das Unmittelbare des Erzäh­lens und den Vorgang des Erinnerns von extremen Traumata ins Zentrumn knapp 95 Minuten und mit minimalen ästhetischen Mit­teln haben die beiden Filmemacherinnen eine filmische Kurzfassung aus umfassenden Gesprächen über die Bedingungen des Weiter­lebens nach dem Holocaust geführt und dabei höchst sensible Porträts der hochbetagten Männer und Frauen gestaltet – Überlebende, die es auf je individuelle Weise ablehnen, als »Opfer« betrachtet zu werden. Entstanden aus einer Idee einer Lehrveranstaltung am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, war das Projekt als fil­mische Dokumentation von Überlebensge­schichten im Sinne von Oral History geplant. Um die historisch wertvollen Inhalte auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, hat das Team nun neben einem Doku­mentarfilm auch eine Videoreihe mit Zeitzeu­gInnen des Holocaust zusammengestellt (14 Einzelportraits von jeweils 15 bis 20 Minuten).

14 Portraits und Geschichten aus Wien

Kitty Drill aus Laa an der Thaya musste als kleines Kind nach Mauritius flüchten. Alice Granierer überlebte in Palästina. Robert »Bobby« Rosner und Kitty Suschny konnten nach England emigrieren, Walter Stern und Otto Suschny nach Palästina, doch mussten sie ihre Eltern zurücklassen. Paul Back konnte ebenso mit seinen Eltern nach Palästina ent­kommen. Kurt Rosenkranz floh mit seiner Familie nach Riga und überlebte in sowjeti­schen Lagern. Alfred Schreier überlebte in einem kleinen Bergdorf in Italien und Lucia Heilman versteckt im Werkstättenhof in der Mollardgasse im 6. Bezirk. Helga Pollak-Kin­sky, Herbert »Blacky« Schwarz und Leo Gra­nierer überlebten mehrere Konzentrations- bzw. Vernichtungslager.

Mit Hass kann man nicht leben

Mit beeindruckend leichter Hand, die die auf­wändige Recherche verbirgt, nähern sich die Interviewenden ihren GesprächspartnerInnen. Immer wieder lenken sie die klug geschnitte­nen Gespräche auf den Umstand, dass den aus dem Exil Wiederkehrenden weder Türen geöffnet wurden, noch Entschädigungen für das Erlittenen angeboten wurden. Im Gegen­teil, schnell wurde den Vertriebenen schmerzlich klar, dass ihnen eine ähnliche Ablehnung wie vor dem Krieg entgegen schlug, mussten sie erkennen, wie wenig sich in Österreich geändert hatte – ein Befund, an dem sich leider bis heute kaum etwas verbes­sert hat, ungeachtet der verdienstvollen Auf­deckung der Waldheim Affäre, das späte Ein­geständnis der Mit-Schuld durch das offi­zielle Österreich, diverser Aufarbeitungspro­jekte und verspäteter Zahlungen an die Opfer.

Deutlich zum Ausdruck kommen die Angst und Beklemmung jener, die in Wien im Untergrund versteckt überlebt haben, die jeden Augenblick fürchten mussten, verraten zu werden. Man weiß von den unverzüglich (und von langer Hand vorbereiteten) einset­zenden Verhaftungen nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich am 12. März 1938, den grausamen Misshandlungen, Enteignungen und letztendlich Vertreibungen der Wiener Juden und Jüdinnen, an der die örtliche Bevölkerung federführend beteiligt war. Dennoch ist man schockiert von den detail­lierten Lageberichten der Betroffenen, genau wie von der Verleugnung der Schuld nach dem Krieg. Es gab weder nennenswerte Rückgaben von Eigentum, noch Entschuldi­gung oder Reue. Niemand aus der TäterIn­nen- und MitläuferInnen-Gemeinschaft wollte an die Verbrechen erinnert werden, niemand war beteiligt gewesen. Ein uner­träglicher Zustand, der bis heute weiter wirkt und wesentliche Mitschuld am neuerli­chen Aufflammen rechtsextremer Entwick­lungen trägt. Das Bild ist klar: Man wollte die Juden und Jüdinnen loswerden!

Dennoch spricht einer der Zeitzeugen von Nachsicht, wenn er sagt: »Mit Hass kann man nicht leben!« und deutet damit das Dilemma an, in dem sich viele der Rückkehrenden befanden und befinden. Besondere Bewunde­rung verdient die innere Stärke und der ungebrochene Glaube an die Zukunft, die Voraussetzung des Überlebens waren, wäh­rend viele andere, die weniger Glück hatten, in den KZs umkamen oder sich das Leben nahmen, ihre Stimmen nicht mehr erheben können. Umso wichtiger, dass dieser Film jenen eine Sprache verleiht, die noch unter uns sind.

Am 3. Mai 2019 wäre der amerikanische Volkssänger und stets höfliche Agitator Pete Seeger hundert Jahre alt geworden. Bis zu seinem Tod 2014 prägte er das Image des angloamerikanischen Folksongs als Ausdruck des leisen, aber scho­nungslosen Aufstands gegen die Hochmütigen und Mächtigen wahrscheinlich mehr als jede_r andere.

VON JOSEPH GRIM FEINBERG

Pete Seeger gehörte zu jenen Menschen, die glauben, dass Amerika keine Nation, sondern eine Mission ist. Sein Amerika war nicht das Land der Amerikaner_innen, son­dern das Land aller Menschen; die Heimat all jener, die heimatlos sind. Zur Amerika­ner_in wurden die Menschen nicht durch ihren Geburtsort, sondern weil sie es wag­ten von einer Neuen Welt zu träumen, die von jedem und jeder entdeckt werden konnte. Das war das Volk, dessen Lieder Pete sang. Und wenn es Folklore gibt, die ich für meine eigene halten kann, dann jene, die Pete Seeger und die Menschen in seiner Umgebung gesammelt und weiterge­geben haben. Zum Beispiel an Leute wie meinen Vater.

Auch er verfiel in Greenwich Village in den 1960er Jahren der Begeisterung für das Folksong-Revival. Auf einem Banjo lernte er die Lieder Seegers zu spielen und bekam, nach einem Konzert, jenes gar von Pete sig­niert. (Später, auf einem Flug nach Berke­ley, verschwand das Instrument. Wir haben nie erfahren, ob daran Inkompetenz oder ein_e, nach Folkmusik verrückte_r, Flug ­hafenangestellte_r Schuld trug.) Als mein Vater siebzehn war, schrieb er ein Lied über Pete und schickte ihm den Text. See­ger schickte ihm eine maschinengeschrie­bene Antwort, in der er sich für den Brief bedankte, aber hinzufügte: »Bitte, bitte, lauf nicht rum und sing Lieder über mich. Ich bekomme sowieso schon zu viel Auf­merksamkeit. Nach meinem Tod, kann sich jede_r Songs über mich ausdenken und ich werde mich nicht beschweren können.«

»Jetzt kannst du endlich dieses Lied sin­gen«, sagten wir zu meinem Vater, als er uns ein paar Tage nach Petes Tod diesen Brief zeigte. Aber das Lied war längst den Weg des signierten Banjos gegangen – Pete kann also in Frieden ruhen. Außer freilich, dass, in gewisser Weise, ein kleiner Teil jedes amerikanischen Volksliedes ein Lied über ihn ist.

Pete Seeger betrachtete sich als ein Glied einer Kette, die er als »folk process« bezeichnete. Normalerweise sang er Lieder, die andere oder niemand geschrieben hat­ten. Hin und wieder hat er sich ein eigenes Lied ausgedacht, immer aber seinen eige­nen Autorenbeitrag heruntergespielt und alles dafür getan, seine Lieder aus den Hän­den zu geben und in den Besitz der Men­schen zu bringen. Oft nahm er vorhandene Texte oder Melodien als Material und über­arbeitete sie für neue Anlässe. Seeger war froh, wenn jemand anderes eines seiner Lieder aufnahm und es erneut überarbei­tete. »Where Have All the Flowers Gone?« basiert auf einem Kosakenlied, das auch die Einleitung zu Michail Scholochows Buch »Der stille Don« lieferte. Da Pete die Origi­nalmelodie nicht finden konnte, erfand er eine neue (die er einigen Quellen zufolge aus einem anderen russischen oder ukrai­nischen Volkslied entlehnt hatte). Kurz nachdem er anfing, das Lied öffentlich zu singen, fügte eine_r der Zuhörer_innen zwei neue Verse hinzu, die Pete begeistert begrüßte – er sang es danach nie mehr ohne jene. Später wurde das Lied mit all seinen Versen auch wieder ins Russische übersetzt.

Pete Seeger brachte Menschen zusam­men, regte jene im Verbund zur Handlung an und stellte so Folksongs in den Mittel­punkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wenn Sie eine_n Durchschnittsamerika­ner_in fragen, was Volkslieder sind, erhal­ten Sie wahrscheinlich eine Beschreibung dessen, was Pete gesungen hat: Lieder der Machtlosen gegen die Macht, der Armen gegen die Reichen, Lieder, die momentan noch den Ausgeschlossenen, eines Tages jedoch allen gehören. Lieder von Bauern und Bäuerinnen und Vagabund_innen, von Handwerker_innen und Bettler_innen, von Prediger_innen und Sünder_innen, von Cowboys und -girls, aber auch von India­ner_innen. Ein Lied von jedem und jeder, aber vor allem von allen, die nichts darstel­len.

Nicht jeder aber weiß Folksongs dieser besonderen Ausprägung zu schätzen. Im Vergleich zu Volksliedern anderer Länder haben sich jene Amerikas als schlechtes Material für nationalkonservative Politik erwiesen. Der_die amerikanische Patriot_in weiß nicht, was er_sie mit Folksongs anfan­gen soll, weil der_die Patriot_in davon überzeugt ist, dass Amerika eine Nation ist und diese Lieder eben keine Nation besin­gen. Es sind vielmehr Lieder, die aus den Nationen der Welt geflohen sind, um sich einer Mission anzuschließen.

Ich bin, generell gesagt, dankbar. In einem Land, in dem die vorherrschende Kultur die Existenz der Beherrschten ver­gaß, wurden Volkslieder zu einem Symbol für den Kampf gegen jede Herrschaft. Weil ich mit amerikanischen Volksliedern aufge­wachsen bin, wusste ich immer, dass »mein« Volk ein proletarisches Volk ist. Die ersten Lieder, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnere, sind Lieder von bewuss­ten Gewerkschaftsorganisator_innen und verzweifelten Hobos, von hoffnungsvollen Sklav_innen und auferstandenen Rebell_ innen. Es gab Lieder von Handwerker_ innen, die vom Fortschritt ruiniert und Ein­wanderer_innen, die in ein lebloses Leben verbannt wurden; von ehemaligen Bäuer_ innen, die von den Banken von ihrem Land vertrieben wurden.

Ich wurde vom Brummen der Stahl ­schienen im »The Hobo’s Lullaby« in den Schlaf gewiegt. Ich wunderte mich über das Heldentum des Eisenbahnbauers John Henry, der mit einem Dampfhammer raste, gewann und in erschöpftem Ruhm verstarb. Ich hörte die gespenstischen Warnungen von Eisenarbeiter_innen, die 1913 zermalmt wurden, als ein Handlan­ger vom Boss bei einer Weihnachtsfeier der Gewerkschaft »Feuer« rief. Ich hörte die Schreie der Waljäger_innen, die vor Grönlands Küsten ertranken. Ich hörte die Beschwerden von Freiwilligen in Spanien, die auf die Briefe ihrer Geliebten warte­ten: »Du hast bereits meine Adresse: Gan­deza-Front, erste Schusslinie«. Ich hörte das Stöhnen von Büffelhäuter_innen, die die Knochen ihres betrügerischen Chefs in der ewigen Wüste proletarischen Zorns bleichen ließen. Als ihre Stimmen endlich in den Hymnen für eine neue Welt zusam­menkamen, wusste ich, dass ihre Hymnen meine waren – das waren die einzigen Nationalhymnen, die ich jemals mit der Hand auf meinem Herzen singen konnte. Aber das waren keine wirklichen Hymnen von Amerika. Es waren Hymnen einer Nation, die es noch nicht gibt, Hymnen eines Landes, das von Menschen gegrün­det werden wird, die aus allen bisher exis­tierenden Ländern vertrieben wurden. Und doch wusste ich, dass ich genau in dieses Land hineingeboren worden war, denn es existierte – wenn auch nur in Lie­dern.

Das ist der Grund, warum es weh tut, wenn ich an diese Neue Welt denke, der es in letzter Zeit oder eigentlich seit ihrem Anbeginn so schlecht ergangen ist. Am Ende ließ ich die alte Neue Welt hinter mir, als mir klar wurde, dass sie so lange nur in Liedern existiert hatte – in Liedern, die immer weniger gesungen wurden. Manchmal sang Pete Seeger zu süßlich für meinen Geschmack. Er glaubte an seine Vision und ermutigte die Öffentlichkeit mit einem so optimistischen und unbe­siegbaren Lächeln, dass ich manchmal das Bedürfnis hatte, mich abzuwenden. Aber ich hörte nie auf zuzuhören. Und er hörte nie auf zu singen, sei es durch seine Stimme oder durch die anderer. Ich bezweifle, dass er es jemals wird.

Joseph Grim Feinberg ist Kulturanthropologe und Sozialtheoretiker, er forscht in Bratislava und Prag. Von ihm erschienen u.a. Texte über das Konzept der Zivilgesellschaft, die Politik der Kultur und die Zukunft der Linken.

Aus dem Englischen von HvD

Das »Leuchtturmprojekt« Steuerreform der mittler­weile geschiedenen türkis-blauen Regierung liegt vor­erst auf Eis.

MICHAEL GRABER wirft für die Volks­stimme dennoch einen Blick auf das Vorhaben. Denn die unsoziale Umverteilung von unten nach oben kann im Herbst schnell wieder an Fahrt aufnehmen.

Nach der Wiedereinführung des 12-Stundentages und der 60-Stundenwo­che nach über hundert Jahren, Abschaffung der Mindestsicherung zugunsten der »Sozi­alhilfe neu« und der Aushebelung des Ein­flusses der InteressenvertreterInnen der Versicherten in der Sozialversicherung präsentierte die mittlerweile geschiedene Regierung das »Leuchtturmprojekt« Steu­erreform. Der propagandistische Wirbel der dabei erzeugt wurde (»größte Entlas­tung der Geschichte«), resultierte zwar aus der »message control«, die die Regierung bestens beherrschte, hält aber einer kriti­schen Prüfung der Fakten insbesondere für die Klein- und Mittelverdiener nicht stand. Oberstes Anliegen der Regierung sei es, die niederen und mittleren Einkommen deut­lich und zeitlich vor allen anderen zu ent­lasten. Dafür stünden 4,9 Milliarden Euro zur Verfügung, die in zwei Etappen – 2021 und 2022 – durch Herabsetzung der ersten drei Grenzsteuersätze ausgeschüttet bzw. eben nicht eingehoben werden sollen. 2021 wird der Eingangssteuersatz, der ab 11.000 Euro Jahreseinkommen greift, von 25 auf 20 Prozent herabgesetzt. In der nächsten Etappe sinken die Steuersätze von Einkommen ab 18.000 Euro Jahreseinkom­men von 35 auf 30 Prozent und von Jahres­einkommen ab 31.000 Euro von 42 auf 40 Prozent. Davon profitieren natürlich auch höhere Einkommen, trotzdem die Spitzen­steuersätze von 50 Prozent (ab 60.000 € Jah­reseinkommen) und 55 Prozent (für Ein­kommen ab einer Million Euro) unverän­dert bleiben. Damit ist schon ein wesentli­ches Merkmal der Steuerreform angespro­chen. Kleine Einkommen profitieren mini­mal, hohe Einkommen jedenfalls ein Vielfa­ches davon. Selbst die von der Regierung den Medien zur Verfügung gestellten Zah­len zeigen: Bruttoeinkommen zwischen 1.500 und 2.500 Euro werden mit 528 bis 722 Euro (pro Jahr) entlastet; Bruttoein­kommen von 5.000 bis 6.000 Euro und darü­ber aber mit 1.427 bis 1.661 Euro, also mit mehr als dem Doppelten. Wo Tauben sind fliegen Tauben zu, oder wer hat, dem wird gegeben. Diese Verteilungswirkung unter­scheidet sich allerdings nicht wesentlich von der Steuerreform 2016 unter Rot-Schwarz.

Brösel für kleine Einkommen

Nachdem EinkommenbezieherInnen, deren Gehälter oder Pensionen so niedrig sind, dass sie keine Lohnsteuer bezahlen, von einer Lohn- und Einkommenssteuerentlas­tung überhaupt nicht profitieren, kündigte die Regierung an, ab 2020 die Krankenver­sicherungsbeiträge für diese Menschen im Ausmaß von 900 Millionen Euro zu reduzie­ren. Das macht bei einem Einkommen von der Geringfügigkeitsgrenze von 450 bis zu 2.201 Euro monatlich zwischen 100 und 350 Euro jährlich aus. Im Durchschnitt laut Finanzminister etwa 280 Euro für Arbei­tende, 170 Euro für PensionistInnen im Jahr. Das betrifft 1,8 Millionen Arbeitneh­merInnen, 1,8 Millionen PensionistInnen, 500.000 Kleingewerbetreibende und Bau­ern. Für diese 4,1 Millionen stehen damit laut Regierung 900 Millionen Euro zur Ver­fügung. Ein überproportional großer Rest der von der Regierung bezifferten Entlas­tung über die Lohn- und Einkommensteuer von 3,9 Mrd. Euro kommt so den paar Hun­derttausend Wohlhabendsten zugute.

Die Staffelung der jährlichen Entlastungs­beträge sieht also folgendermaßen aus: 100 bis 350 Euro für die niedrigsten, 528 bis 722 Euro für die mittleren und 1.427 bis 1.661 Euro für die höchsten Einkommen. Die Spreizung der Verteilungseffekte beträgt demnach fast eins zu zehn und darüber. Die Brösel für die Kleinen, die Tau­ben für die Großen. Eine echte Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen sei über die bloße Senkung der Steuerstufen eben nicht möglich, sagt Friedrich Schnei­der, Wirtschaftsprofessor an der Uni Linz, in der Kleinen Zeitung (07.04.2019), denn: »Unser progressiver Stufentarif ermöglicht zwar eine Entlastung der großen Einkom­men, ohne dass die kleinen davon profitie­ren, nicht aber das Gegenteil.«

Die Regierung rechnet noch den bereits in Kraft getretenen Familiensteuerbonus zur Steuerreform dazu, was das Gewicht der Entlastung der besser Verdienenden noch beträchtlich erhöht. Zur Erinnerung: Den Bonus von 1.500 Euro pro Kind und Jahr (als Abzug von der Lohn- oder Einkom­mensteuer) erhält nur, wer derart hohe Einkünfte hat, dass das persönliche Lohn- bzw. Einkommensteuervolumen die Höhe des Bonus erreicht oder übersteigt.

Die Senkung der Krankenkassenbeiträge hat überdies einen Haken. Den Verlust der Krankenkassenkassen von 900 Millionen Euro will die Regierung aus dem Budget ersetzen. Abgesehen davon, dass sich dadurch das Gewicht der Regierung in der sowieso schon abgewerteten Selbstverwal­tung in den Kassen weiter erhöht, bleibt die Frage offen, ob und wie dieser Betrag in Zukunft valorisiert wird. Wir kennen das Problem z. B. aus dem Bereich des vom Bund gezahlten Pflegegeldes, das seit sei­ner Einführung 1993 wegen mangelnder Valorisierung mehr als ein Drittel seines Werts verloren hat. Die Krankenkassen müssten also jährlich mit dem Finanzmi­nister über den Ausgleich der entfallen­den Krankenkassenbeiträge verhandeln, sprich: betteln. Die bessere Lösung wäre die Aufhebung der Höchstbeitragsgrund­lage in der Krankenversicherung.

Gewinnsubvention für Konzerne

Das Lohnsteueraufkommen seit der letz­ten Steuerreform 2016 bis zum Wirksam­werden der Reform dieser Regierung im Jahr 2022 wird nach diversen Schätzun­gen über 8 Milliarden Euro zusätzlich betragen, wovon ein Teil durch den Beschäftigungszuwachs, ein Großteil aber durch die sogenannte »Kalte Progres­sion«, der Abschöpfung inflationsbeding­ter Einkommenszuwächse zu erklären ist. Davon fließen also entsprechend den Angaben der Regierung 4,9 Milliarden Euro durch die Entlastung wieder zurück. Und der Rest? Der wird nach oben umver­teilt. Allein die geplante Senkung der Kör­perschaftsteuer von 25 auf 21 Prozent soll den großen Konzernen etwa 1,3 Milliar­den Euro bringen. Das ist fast ein Viertel des Jahresgewinns 2018 der im österrei­chischen Leitindex ATX angeführten bör­sennotierten Konzerne (die auch heuer wieder ein Rekordergebnis erzielen wer­den) oder fast 50 Prozent der im Vorjahr ausgeschütteten Dividenden.

Nicht zu vergessen: die Körperschaft­steuer als Gewinnsteuer der Kapitalgesell­schaften ist eine »flat tax«, unterliegt also keinerlei Progression, weder der »Kalten Progression«, weil ein einheitlicher Tarif, noch einer Staffelung nach Höhe des Gewinns. Die Ungleichheit und Ungerech­tigkeit des gesamten Steuersystems bleibt also auch nach dieser Reform prolongiert. Eine Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, Mieten und Heiz­kosten, welche tatsächlich eine nachhal­tige Entlastung der großen Masse der kleinen und mittleren Einkommen bedeu­ten würde, ist bisher keiner Regierung, die gegenwärtige natürlich eingeschlos­sen, einer Überlegung, geschweige denn einer Maßnahme wert gewesen.

Sparen im Sozialsystem für den Budgetüberschuss

Die »Kalte Progression« wird entge­gen dem Wahlversprechen der Regie­rungsparteien nicht abgeschafft, son­dern – wenn überhaupt beschlossen – dann auf die nächste Legislaturperi­ode verschoben. Der Schnösel im Bundeskanzleramt hat nämlich ent­deckt, dass diese Maßnahme ein För­derungsprogramm für die Besserge­stellten sei. Dem lässt sich finanz­technisch natürlich begegnen. Aber die gescheiterte Regierung gab damit immerhin zu, dass sie das Körberlgeld aus der »Kalten Progression« braucht, um die Steuerreform zu finanzieren. Dieses und die Erhöhung einiger Verbrauchssteuern reichen dafür aber nicht aus, weswegen bereits neue Sparmaßnahmen im Budget angekündigt wurden. Alle Ministerien müssten ein Prozent ihres Budgets einsparen. Nachdem das Bundesbudget, nach Abzug der Zinszahlungen, fast 75 Milliarden Euro ausmacht, geht es in dieser Rechnung demnach um an die 750 Millionen Euro. Der größte Brocken ist dabei natürlich das Sozialbudget, weshalb ein Einsparungsposten schon definiert ist: der Zugang zur Invalidi­täts- und Berufsunfähigkeitspension soll drastisch erschwert werden. So werden die Betroffenen per Dekret gesünder. Der Rest ist die Hoffnung auf ein Anhalten der Konjunktur – und auf einen anderen Wahlausgang.

Eine detaillierte Analyse zeigt Mandatsverluste durch das gesamte Spektrum der Linken, von traditionellen bis »linkspopulistischen« Parteien. Auch in Österreich wurde die Kandidatur von KPÖ+ mit der konsequenten Spitzenkandidatin Katerina Anastasiou nicht mit Erfolg gekrönt. Alles muss anders, aber wie?

VON BARBARA STEINER

Die Europawahlen haben nicht den befürchteten »Durchmarsch« der extremen Rechten gebracht. Dennoch besetzen Abgeordnete rechts der Konserva­tiven – von rechten, rechtsextremen und neofaschistischen Parteien – nun ein Vier­tel der Sitze. Es haben Liberale und Grüne gewonnen. Die ehemaligen informell groß­koalitionären Fraktionen EVP (Europäische Volkspartei) und Sozialdemokraten (S&D) blieben stärkste und zweitstärkste Frak­tion, aber haben auch verloren.

Durch den nicht erfolgten Brexit und dadurch, dass sich Macrón der liberalen Fraktion ALDE anschließt, bleibt die Anzahl an Fraktionen im EP einstweilen dieselbe. Es wurde schon eine neue Sammelfraktion der extremen Rechten, »Europäische Allianz der Menschen und Nationen« unter der Führung von Salvini, dessen Regierungspartei Lega 34 Prozent erreicht hat, angekündigt.

Die EU-weite Wahlbeteiligung ist von dem Rekordtief bei den letzten EP Wahlen 2014 von 42,6 Prozent zum ersten Mal seit Einführung der Direktwahlen zum Europa­parlament 1979 gestiegen – auf über 50 Pro­zent, auf den höchsten Wert seit 20 Jahren. Sogar in der Slowakei, wo 2014 nur 13 Pro­zent der Wahlberechtigten wählen gingen, wählten nun 23 Prozent.

Die Linke im Europaparlament hat verloren

Die Fraktion »Vereinigte Linke – Nordisch Grün Linke« (GUE/NGL) ist von vormals 52 Sitzen auf vorläufig 38 dezimiert. Linke Par­teien und Wahlallianzen haben in ganz Europa verloren und zwar durch alle Spek­tren der Linken – dem traditionellen bis zum sogenannten »linkspopulistischen«. Die Parteien der 2004 gegründete Partei der Europä ischen Linken (EL) DIE LINKE, KPÖ, Syriza (damals Synaspismos), KP Frankreichs und die italienische Rifondazione Comunista verloren gegenüber den Wahlergebnissen 2014. Die 2015 gegründete Bewegung Diem25 (»Democracy in Europe Movement«) konnte nicht ins EP einziehen. Sowohl Erfolg als auch Stagnation und Verluste gibt es bei jenen sechs Parteien inner- und außerhalb der EL, die die Erklärung »Jetzt das Volk«, lanciert von Jean-Luc Mélenchon, dem Gründer der Bewegung La France insoumise (FI), unterschrieben haben.

Linke aller Schattierungen haben verloren

Sowohl die traditionelle kommunistische Par­tei Frankreichs als auch La France insoumise haben verloren. Der Gründer von FI Jean-Luc Mélenchon erreichte bei den Präsidentschafts­wahlen 2017 fast 20 Prozent, das Ergebnis von nunmehr 6,3 Prozent ist enttäuschend. Das »Unbeugsame Frankreich« erreichte damit 0,3 Prozent weniger als die Wahlallianz Front de Gauche ihrer Vorgängerpartei Partí de Gauche mit der KP gemeinsam bei den letzten EP Wah­len. FI ist mit 6 Mandatar_innen im Europa­parlament und die KP ist ausgeschieden.

Das Wahlbündnis »Unidas Podemos Cam­biar Europa« (»Gemeinsam können wir Europa verändern«) aus Podemos, Izquierda Unida, Barcelona – und Catalunya en Comú halbierte mit 10 Prozent das Ergebnis der Lin­ken in Spanien bei der letzten Europawahl, wo die neue aus den Anti-Austeritäts-Bewegun­gen 2011/12 entstandene Podemos auf Anhieb 8 Prozent errang. Podemos erreichte 2015 bei Parlamentswahlen 20 Prozent und mit Izquierda Unida gemeinsam 2016 21 Prozent, bei den Parlamentswahlen diesen April erreichte das Bündnis nur mehr 14,3 Prozent. Hauptgründe für den Abstieg sind interne Spaltungen und Probleme. Die regierende SP konnte zudem fast 10 Prozent zulegen im Ver­gleich zu 2014.

Die niederländische Sozialistische Partei setzte auf dirty campaigning gegen den Spitzen­kandidaten der niederländischen und der europäischen Sozialdemokratie Frans Tim­mermans, mit einem derben und schwer aus­haltbaren Video, das den Ausverkauf der Nie­derlanden an Brüssel anprangert. Sie hat zwei Drittel der Prozentpunkte und beide EP-Sitze verloren. Ein reines Wettern gegen »die da oben in Brüssel« reicht nicht aus, um linke Positionen und Politik zu transportieren.

Aus Italien wird kein Mandat in der GUE/NGL kommen, verloren sind die drei 2014 errungenen Mandate des linken Bünd­nisses »L’altra Europa con Tsipras«, benannt nach dem damaligen Spitzenkan­didaten der Partei der Europäischen Linken für das Amt des Kommissionspräsidenten und Oppositionsführer Griechenlands. »La Sinistra« – die Wahlallianz der vor zehn Jahren auseinander gegangenen Sinistra Italiana und Rifondazione Communista – erreichte 1,8 Prozent.

Die tschechische Kommunistische Partei Böhmens und Mährens – die einzige linke Partei aus den ehemals realsozialistischen Ländern im Europaparlament – wurde von drei auf einen Sitz reduziert, in Tschechien zogen die Piratenpartei mit 14 Prozent als die letzte ihrer Art ins EP. Lewica Razem – die linke Wahlallianz Zusammen Links erreichte in Polen 1,2 Prozent.

DIE LINKE in Deutschland verliert fast zwei Prozent und zwei Sitze. Die als Satire­projekt gegründete, durch die Realität aber scheinbar mehr nach links gerückte Partei Die PARTEI hat nunmehr 2 Sitze im EP.

Diem25 nicht im Europaparlament

Gründer der Diem25 Bewegung, der Öko­nomieprofessor und ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis erreichte in Deutschland nur 0,3 Prozent der Stim­men. Es zogen weder er noch die Listen­zweite, Daniela Platsch von der österreich ­ischen Partei »Der Wandel«, ins EP ein. In Griechenland fehlte der Diem25 Liste 0,1 Prozent für die benötigten 3 Prozent zum Einzug. In Dänemark gelang der Diem25 Partnerpartei Alternativet mit 3,4 Prozent nicht der Einzug.

Es gibt Lichtblicke

Aber es gibt auch erfreulichere Ergebnisse der Linken in Europa. Erstmals zieht aus Belgien ein linker Abgeordneter ins Europa­parlament ein – von der Partei der Arbeit, die vor allem im französischsprachigen Wallonien raketenartig gewonnen hat. In Slowenien hat die Levica mit Spitzenkandi­datin Violeta Tomić – die gleichzeitig auch Spitzenkandidatin der EL war – mit 6,3 Pro­zent den Einzug zwar trotzdem versäumt, sind aber fünftstärkste Partei. In Dänemark haben die Rotgrüne Allianz (»Enheds listen«) und die »Volksbewegung gegen die EU«, die früher gemeinsam unter letzterem Namen antraten, Stimmen gewonnen, ins EP eingezo­gen ist nur die Rotgrüne Allianz.

Die linken Parteien in Portugal, Griechen­land, Zypern, Finnland und Schweden bleiben stabil bzw. nahmen leicht zu. In Portugal kann sich der Linksblock mehr als verdoppeln auf fast 10 Prozent und die Allianz der KP und Grünen halbiert sich fast auf 6,9 Prozent. Mit je zwei Abgeordneten bleiben die GUE/NGL Mandate aus Portugal aber gleich. In Grie­chenland sind die Genoss_innen der regieren­den Syriza zwar bestürzt über den relativ gro­ßen Abstand von fast 10 Prozent zur rechts­konservativen Oppositionsführerin »Nea Dimokratia«. Tatsache ist, sie haben gleich viele Sitze errungen wie 2014. Dadurch, dass sich 2015 zwei Europa-Abgeordnete von Syriza abspalteten, hat Syriza nun also sogar mehr Sitze als vor den Wahlen. Die orthodoxe KP in Griechenland bleibt quasi stabil, sie ist seit 2014 nicht mehr Teil der linken Fraktion im EP, sondern unabhängig.

Gemeinsam mit AKEL in Zypern ist Syriza dennoch die einzige Linkspartei in Europa über 20 Prozent. Die Parlamentswahlen in Griechenland sind nun vom Herbst vorgezo­gen auf Juli.

Es braucht eine neue Linke Kraft

Die Wahlergebnisse zeigen: Die Linke braucht eine neue Art der Zusammenarbeit, neue Stra­tegien und neue Kraft in Europa. Es gibt kei­nen Grund zur Panik, aber auch keinen Grund, so weiter zu machen wie bisher. Die neue Kraft braucht es auch in Österreich. Hier wurde mit der griechischen Spitzenkandidatin von KPÖ plus – European Left – offene Liste ›Katerina Anastasiou‹ ein kreativer, dynamischer und engagierter Wahlkampf geführt. Dieser wurde jedoch nicht mit Erfolg gekrönt. Mit KPÖ im Namen errang die Liste das beste Ergebnis bei EU Wahlen, der Zugewinn an Stimmen bei der EU-Wahl 2014, wo die KP in einer Allianz mit Wandel, Piratenpartei und Unabhängigen kan­didierte, konnte aber nicht wiederholt wer­den.

Barbara Steiner ist Direktorin des linken europäischen Think Tanks transform! europe. Auf www.transform-network.net finden sich Länder-Wahlanalysen aus lin­ker Perspektive.

KARL REITTER über den Prozess gegen die Bosse der France Télécom.

Die Vorgeschichte ist rasch erzählt. In den Jahren 2008 bis 2010 wurde die France Télécom (seit 2013 in Orange umbe­nannt) umstrukturiert und börsenfit gemacht. Dieses Ziel war nur durch die Ent­lassung von über 20.000 Angestellten, etwa 20 Prozent der Belegschaft, zu erreichen. Das hätte auf normalem Wege einiges an Abfindungen gekostet. Vor allem galt damals für einen Teil der Beschäftigten noch der BeamtInnenstatus, das heißt, diese Personen konnten regulär gar nicht entlassen werden. Das Management setzte daher auf Schikanen, Mobbing, Demütigun­gen und Herabwürdigung, immer mit dem Ziel, die Angestellten zur Selbstkündigung zu nötigen. Der psychische Terror war so groß, dass es zu 18 Selbstmorden und 13 Suizidversuchen kam. Jede Schikane war recht, um die Beschäftigten zu demoralisie­ren: »Überlastung war ein Mittel, um den Angestellten das Arbeitsleben möglichst schwer zu machen, dazu kamen spontane Versetzungen an Orte, die weit weg von der Wohnung und damit nicht selten von der Familie liegen, neue Arbeitsgebiete, die entweder zur Überforderung führten, die in Performance-Checklisten Woche für Woche gnadenlos dokumentiert wurden oder als Abstellgleis funktionierten, um den Angestellten vor Augen zu führen, dass sie nicht gebraucht würden.«1 Selbstmord ist wohl das äußerste Mittel, wie viel Ver­zweiflung, Angst, Selbstbeschädigung und Mutlosigkeit muss dieser immense Druck bei tausenden Menschen bewirkt haben?

Der Prozess

Am 6. Mai 2019 begann nun der außerge­wöhnliche Prozess gegen den früheren France Télécom-Chef Didier Lombard sowie sechs weitere Manager. Vorgeworfen wird ihnen Mobbing (harcèlement moral, wört­lich: psychische Belästigung), ein eher beschönigender Ausdruck für den ungeheu­ren Zynismus, den die Konzernführung an den Tag legte. Überliefert ist der Aus­spruch: »Wir werden sie schon rauskriegen, entweder durch die Tür, oder durch das Fenster.« Überflüssig zu sagen, dass diese Terrorwelle mit den üblichen neoliberalen Floskeln übertüncht wurde. Wir kennen die Vokabel: Effizienz, Optimierung, Kunden­orientierung, Wettbewerbsfähigkeit und über allem – Reform. Außergewöhnlich ist der Prozess nicht wegen des möglichen Strafausmaßes. Es drohen maximal zwei Jahre Haft und angesichts der Einkommen der Angeklagten eine eher lächerlich geringe Geldstrafe bis zu 30.000 Euro. Außergewöhnlich ist er deswegen, weil hier das Kapitalverhältnis offen als Herrschafts­verhältnis thematisiert wird. Herrschende, die KapitalvertreterInnen, tobten sich offenbar ungehemmt gegen die von ihnen Beherrschten aus. Die Gerichte sollen nun klären, wie und in welchem Ausmaß.

Schwarze Schafe oder Spitze des Eisbergs?

Selbst sozial angepasste Medien kommen in ihren Berichten über den Prozess nicht umhin, das Management eher übel ausse­hen zu lassen. Auch Erinnerungen an die Selbstmordwelle 2010 bei der chinesi­schen Zulieferfirma von Apple, Sony, Sam­sung und Microsoft, Foxconn, werden wach. Da diese Ereignisse nicht mehr zu leugnen sind, müssen sie als Ausnahmen, als das Produkt weniger schwarzer Schafe darge­stellt werden. Das überrascht bei all jenen Kräften, die eine Alternative zum Kapita­lismus nicht einmal denken wollen, kei­neswegs. Wie sollten sie denn sonst rea­gieren? Aber wie steht es bei der Linken? Nicht unbedingt immer zum Besten. Ohne Zweifel waren die Verhältnisse bei Fox­conn und France Télécom außergewöhnlich. Mobbing und psychischer Terror sind in diesem Ausmaß keineswegs alltäglich. Aber trotzdem ist festzuhalten, dass das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit unabdingbar ein Herrschaftsverhältnis ist, das wohl verschiedenste Formen annehmen kann, aber stets ein Herr­schaftsverhältnis bleibt. Der Bogen spannt sich von oftmals sehr paternalistischen Verhältnissen in kleinen und kleinsten Betrieben über recht ausgewogene Arbeitsbedingungen bis eben zu massiver Arbeitshetze und brutalem Mobbing. Statt der Peitsche kann auch das Zuckerbrot dominieren. Aber die Verhältnisse kön­nen jederzeit umschlagen. Ein/e neue/r ChefIn, ein neues Management, neue Vor­gaben oder gar der geplante Börsengang – sofort kann ein anderer Wind wehen.

Zumindest von der Linken ist zu erhof­fen, dass sie klipp und klar, dass sie ohne Wenn und Aber die Verhältnisse der Lohnarbeit als Herrschaftsverhältnisse erkennt. Fehlen präzise Formulierungen, so mag uns Marx aushelfen: »Nun muss auch der Lohnarbeiter wie der Sklave einen Herrn haben, um ihn arbeiten zu machen und ihn zu regieren.« (MEW 25, 399) »Der Ausgangspunkt der Entwick­lung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knecht­schaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feu­dalen in kapitalistische Exploitation.« (MEW 23; 743) »Die Bewegung des Geset­zes der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit auf dieser Basis vollendet die Despotie des Kapitals.« (MEW 23; 669) »Jedes individu­elle Kapital ist eine größere oder kleinere Konzentration von Produktionsmitteln mit entsprechendem Kommando über eine größere oder kleinere Arbeiterar­mee.« (MEW 23; 653)2

Soziales Herrschaftsverhältnis oder automatisches Subjekt Kapital?

Im Zusammenhang mit den Ereignissen bei France Télécom drängt sich die Kritik an der Rede vom »automatischen Subjekt Kapital« auf, die sich in manchen linken Kreisen einiger Beliebtheit erfreut. Die Pointe dieser Rede besteht darin, das Herrschaftsverhältnis zu leugnen und vollständig durch den anonymen Zwang zur Profitmaximierung zu ersetzen. Zwei­fellos existieren objektive ökonomische Gesetze und kein/e KapitaleignerIn kann sich dem grundsätzlich entziehen. Aber zugleich üben die BesitzerInnen von Kapi­tal oder ihre StellvertreterInnen unmit­telbare soziale Herrschaft aus; einige Marxsche Formulierungen wurden soeben zitiert. Kein anonymer Zwang zur Profit­maximierung nötigte das Management bei France Télécom, exakt so zu agieren, wie sie agierten. Hätten die ProtagonistInnen des »automatischen Subjekts Kapital« ihren Marx genau gelesen, wüssten sie, dass die Produktion von Mehrwert und Profit unmittelbar mit der Länge und Intensität des Arbeitstages verbunden ist, über die kein ökonomisches Gesetz, sondern allein der Klassenkampf entscheidet. Die Mana­ger bei France Télécom haben weder das Kapitalverhältnis noch den Drang zur Profitmaximierung erfunden. Aber sie haben das der Lohnarbeit inhärente Herr­schaftsverhältnis in brutaler, zynischer und extremer Weise umgesetzt. Dafür tra­gen sie sehr wohl persönliche Schuld, die ihnen auch anzukreiden ist.

1 France-Telecom-Die-Angestellten-wissen-lassen-dass-sie-Nullen-sind

2 MEW ist die Abkürzung für Marx-Engels-Werke, Band 23 ist der erste, Band 25 der dritte Band des Kapital.

 

PETER FLEISSNERS ABECEDARIUM

Wer es bisher noch nicht geglaubt hat, hört es nun von ganz offizieller Seite, nämlich vom deutschen Auswärtigen Amt1: »Österreich ist das Land mit der höchsten Pressekonzentra­tion Europas.« Ich habe nachgerechnet. Die Konzentration ist jedenfalls höher als in Deutschland: Die Top-5 der auflagenstärksten Tageszeitungen erzielten in Österreich 2018 einen Marktanteil von 64,4 Prozent, in Deutschland waren es nur 42,6 Prozent. Die Zahl der Tageszeitungen hat sich in Öster­reich seit dem Zweiten Weltkrieg stark redu­ziert. In der Nachkriegszeit waren insgesamt 67 Tageszeitungen gegründet worden, von denen nur 16 überlebten. Die flächendecken­den Parteizeitungen Arbeiterzeitung und Volksstimme sind von der Bildfläche ver­schwunden. Insgesamt erreichten Tages ­zeitungen in Österreich 2018 4,7 Millionen LeserInnen, ein kleiner, aber doch deutlicher Rückgang von 2,3 Prozent gegenüber 2017.

Eigentum filtert Inhalte

Massenmedien gelten nach herrschendem Verständnis als wichtiges Element der Demo­kratie, als Gegengewicht zu privaten Einzel­interessen und staatlichen Bürokratien und als Garant der freien Meinungsäußerung. Aus marxistischer Sicht sind sie Widerspie­gelungsprodukte, in denen sich die herr­schenden Verhältnisse mit all ihren Wider­sprüchen ausdrücken. Der bekannten US-amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky hat 1988 gemeinsam mit Edward S. Herman im Buch »Die Konsensfabrik« die politische Ökonomie der Massenmedien aus­führlich untersucht und aufgezeigt, wie die Inhalte von den Rahmenbedingungen und den ökonomischen und politischen Interes­sen beeinflusst werden. Zur Illustration der Meinungsmanipulation verwenden sie die Analogie von Filtern, die wie bei einer Kaf­feemaschine unterschiedliche Meinungen durchlassen, andere aber aufhalten.

Fünf verschiedene Filter kommen dabei zur Anwendung: Als erste und wichtigste Voraussetzung für die Existenz eines domi­nanten Massenmediums werden die Besitz­verhältnisse und seine Größe genannt. Ist das Medium in privaten Händen, muss es – um gegenüber der Konkurrenz zu bestehen – gewinnorientiert sein. Damit eine möglichst große Reichweite erreicht wird, muss ein großes Anfangskapital zur Verfügung ste­hen, das entsprechende Erträge für seine Finanziers abwirft.

Als zweiter und dritter Filter nennen die Autoren die Abhängigkeit der Medienunter­nehmen von Werbeeinnahmen und öffentli­cher Förderung. Die Umsätze aus dem Ver­kauf der Zeitungen sind dagegen zweitran­gig, wie man auch an den Gratiszeitungen in Wien sehen kann. Über die Werbeeinschal­tungen besteht ein großes Steuerungspoten­tial, denn verhält sich ein Medium in den Augen der EigentümerInnen unbotmäßig, wir die Werbung einfach gestrichen. Dies war vor allem für linke Tageszeitungen ein Problem, denen die nötigen Einnahmen fehl­ten. Medien sind aber auch von den Inhalten abhängig, die ihnen weitergegeben werden. Neuerdings sollte auf Wunsch von nunmehr Ex-Innenminister Kickl die Polizei mit der Weitergabe von Nachrichten selektiver vor­gehen.

Der vierte Filter besteht in den Aktionen einflussreicher Gruppen oder Thinktanks, Medien, die für sie unangenehme Nachrich­ten verbreiten, mit Leserbriefen, Klagen oder mit Beschlagnahmung der Auflage zu bedrohen. Wir kennen ja die Angriffe der FPÖ auf JournalistInnen des ORF.

Als fünfter Filter wird von Chomsky und Herman der Kommunismus genannt, der bis zum Ende der Sowjetunion und der RGW-Länder in den USA als Schreckge­spenst herhalten musste. Seither wurde als Ersatz dafür der Kampf gegen den Terroris­mus, gegen die Schurkenstaaten, gegen die Achse des Bösen ausgerufen. In Österreich ist allerdings das antikommunistische Argument, etwa in der Berichterstattung über den Wahlkampf von KPÖ Plus, immer noch präsent.

Die Analyse von Chomsky und Herman legt nahe, bei wichtigen Massenmedien nach den Besitzverhältnissen zu fragen. Im Folgenden wird exemplarisch gezeigt, dass die EigentümerInnen-Struktur2 der Print­medien von wenigen großen Unternehmen (teils in Familienbesitz) aus Österreich, aber auch aus Deutschland und der Schweiz und von Institutionen der katholischen Kir­che dominiert wird. Die werte LeserIn kann selbst versuchen, die einzelnen Filter und ihre Wirksamkeit in unserer Medienland­schaft aufzufinden.

Riese Krone

Die Kronenzeitung belegt mit einer Auflage von rd. 700.000 Exemplaren und rund 2 Millionen LeserInnen (das bedeutet eine Reichweite von 27,2 Prozent) den Spitzen­platz im österreichischen Printmedien­markt. Verglichen damit nimmt sich die größte deutsche Zeitung, die Bild-Zeitung, mit einer Auflage von 1,5 Millionen und einer Reichweite von 9,5 Millionen LeserIn­nen bescheiden aus, wenn man die Bevölke­rungsverhältnisse von 1 zu 10 berücksich­tigt. Die Kronenzeitung hat eine bewegte Geschichte, die im Jahr 1900 begann. Ihr Name bezieht sich allerdings nicht auf gekrönte Häupter, sondern auf ihren ursprünglichen Abonnementpreis, eine Krone. Nur von der Nazizeit unterbrochen ist sie bis heute am Markt, allerdings mit wechselnden EigentümerInnen. 1959 erwarb der bisherige Chefredakteur des Kurier, Hans Dichand, die Rechte an der Zeitung, die danach unter dem Titel Neue Kronen Zeitung wieder erschien. Der berüchtigte, von der CIA unterstützte Antikommunist Franz Olah3, SPÖ-Innenminister von 1963–1964 und Gewerkschaftspräsident, gab der Kronenzei­tung aus Gewerkschaftsgeldern eine geheime finanzielle Starthilfe, die ihn 1964 zu Fall brachte, als überdies bekannt wurde, dass er mit einer Million Schilling an die FPÖ, wieder aus der Gewerkschaftskasse abgezweigt, die Weichen für eine kleine Koalition mit der SPÖ stellen wollte. Er war es auch, der erstmals über seinen Freund, den international tätigen Geschäftsmann Ferdinand Karpik, dem deut­schen Kapital Zugang zu einer Beteiligung von 50 Prozent der Kronenzeitungsanteile ermöglichte. Diese wurden nach 1968 aller­dings vom Olah-Vertrauten und Werbefach­mann Kurt Falk übernommen, der nach Aus­tritt aus der Krone 1985 zum Herausgeber der reichweitenstärksten Wochenzeitung Öster­reichs, Die ganze Woche, wurde. Als Mitte der 1960er Jahre der ÖGB Besitzansprüche an die Krone erhob, kam es zur ersten großen Kam­pagne der Zeitung gegen die SPÖ. Weitere Kampagnen folgten, etwa gegen die Kraft­werksprojekte Hainburg und Temelín oder zur Unterstützung mancher Volksbegehren.

Heute teilen sich die Kronenzeitung die Fami­lie Dichand und die deutsche Funke-Medien­gruppe (früher WAZ), die auch 49,41 Prozent der Anteile am Kurier4 hält. Im Jahr 2018 betei­ligte sich der österreichische Investor René Benko mit der Signa Media zu 49 Prozent an der Funke-Gruppe und ist daher indirekt Teil­eigentümer von Krone und Kurier geworden, denen wieder je zur Hälfte der »Media-Print Verlag« gehört, der größte Zeitungs- und Zeit­schriftenverlag Österreichs, der u. a. die Wochenzeitungen Profil und Trend herausgibt.

53bDie Kleineren

An zweiter Stelle steht in Österreich die Gra­tiszeitung Heute mit 600.000 Exemplaren und einer Reichweite von 11,6 Prozent. Sie gehört zu 74,5 Prozent der Pluto Privatstiftung zu Gunsten der Herausgeberin Eva Dichand und ihrer Kinder. 25,5 Prozent hält seit 2016 die Schweizer Mediengruppe Tamedia. Platz 3 belegt die Gratiszeitung Österreich (Auflage 440.000, Reichweite 9,8 Prozent) im Besitz der Fellner Medien GmbH. Der Styria Media Privatstiftung, die sich zu 100 Prozent im Eigentum von Institutionen der katholischen Kirche befindet, gehören die Kleine Zeitung ebenso wie die Presse, aber zu 50 Prozent auch Bezirksblätter und Bezirkszeitungen. Die Kleine Zeitung kommt zwar nur auf eine Auflage von 280.000, weist aber eine höhere Reichweite (11,6 Prozent) als die Gratiszei­tungen auf. Die Kleine Zeitung ist vergleichbar mit der zweitgrößten Tageszeitung Deutsch­lands, der Frankfurter Allgemeinen, mit 230.000 Exemplaren und 760.000 LeserInnen. Eher abgeschlagen liegen Kurier, Standard, Oberösterreichische Nachrichten, die Presse, Tiroler Tageszeitung, Salzburger Nachrichten und Vorarlberger Nachrichten.5 Die im Staats­besitz befindliche Wiener Zeitung gibt für 2018 eine maximale Auflage von 43.000 Exemplaren an und fungiert eher als – aller­dings qualitativ hochwertiges – Schlusslicht.

Staatliche Förderung

In Österreich ist seit 2004 direkte Presse ­förderung gemäß dem Presseförderungs ­gesetz (PresseFG2004) vorgesehen. Damit sollte die Vielfalt des Angebots gefördert werden. Pro Zeitung werden 160.000 bis 210.000 Euro unabhängig von der Auflagen­stärke bezahlt. 2004 wurden noch 13,5 Mil­lionen Euro ausgeschüttet. Nach Kürzungen im Jahre 2012 und ein weiteres Mal 2014 liegt die Förderung bei jährlich 8,7 Millio­nen Euro. Gelder gibt es für den Vertrieb von Tages- und Wochenzeitungen, für die Ausbildung von JungjournalistInnen, für angestellte AuslandskorrespondentInnen, für Lokalzeitungen, Presseklubs und die Qualitätsförderung. ÖVP und FPÖ hatten im Medienkapitel ihres Regierungsprogramms eine »Anpassung des Förderwesens« vor ­gesehen. Auch in Zukunft sollte es eine Teilfinanzierung geben, wie hoch diese Mittel sein und wer sie erhalten würde, ist offen.

Obwohl die Auflagenstärke der Printme­dien nur geringe Rückgänge aufweist, ist ihre wirtschaftliche Lage angespannt. Ursa­chen dafür sind das Auftreten von Gratis­zeitungen, die nun am Markt für Werbung mitmischen, der erwähnte Rückgang der Presseförderung, besonders aber die zunehmende Verbreitung digitaler Medien, die vor allem bei den Jungen eine wach­sende Rolle spielen. Aber das ist eine andere Geschichte.

1 https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/oesterreich-node/-/211040#content_3

2 https://kontrast.at/wp-content/uploads/2017/10/printmedien-in-occ88sterreich-1024x721.png

3 1949–1957 war er Vorsitzender der Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter. In dieser Position war er im Oktober und November 1950 führend an der gewaltsamen Auflösung der Oktoberstreiks beteiligt. Sie waren von ÖVP, SPÖ und ÖGB als Putschversuch der KPÖ interpretiert worden, die Österreich angeblich zu einem Teil der Sowjetunion machen wollte. Erst 2015 hat der ÖGB diese Interpretation aufgrund der Arbeiten der beiden Historiker Peter Autengruber und Manfred Mugrauer zurückgenommen.

4 Den größeren Rest am Kurier besitzt der Raiffeisen-Konzern, der auch zu 20 Prozent am Niederösterreichischen Pressehaus betei­ligt ist. Die anderen 80 Prozent befinden sich im Besitz kirchli­cher Institutionen. Über die Medienaktivitäten das Raiffeisen-Konzerns siehe das lesenswerte »Schwarzbuch Raiffeisen« von Lutz Holzinger und Clemens Staudinger (mandelbaum 2013).

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_%C3%B6sterreichischer_Zeitungen_und_Zeitschriften

s31Alternative Medien, wie sie sich im Bündnis Alternativer Medien zusam­mengeschlossen haben, haben eines gemeinsam: Von Politik und Wirtschaft gibt es keine oder nur wenig Kohle. Das große Geld wird anderswo gemacht. KLEMENS HERZOG hat für die Volks­stimme die wichtigsten Zahlen zur direkten und indirekten Medienförde­rung im Printbereich zusammen ­getragen.

Mehr Privat …

Im Jahr 2018 buchten heimische Unter­nehmen für knapp zwei Milliarden (1,96 Milliarden) Euro Werbungen und Inserate in heimischen Zeitungen und Magazinen. Allein mit dem Betrag, der in Tageszeitungen investiert wurde – 1,15 Mil­liarden Euro – ließe sich die Bedarfsorien­tierte Mindestsicherung für ein ganzes Jahr finanzieren. Es geht also um sehr große Summen. Vor allem große Konzerne grei­fen für die Werbung tief in die Tasche. Das Ranking führt der REWE-Konzern (Billa, Merkur, Penny, …) mit 170 Millionen Brut­towerbewert an. Dicht gefolgt von Spar (150) und Lutz (140). Auch der Lebens ­mitteldiskonter Hofer, Raiffeisen und die Telekom mischen in den Top Ten mit. Die indirekte Medienförderung über Inserate bezahlen also über Umwege wir alle. Denn ob an der Supermarktkasse, beim Möbel­kauf oder über die Kontoführungsgebüh­ren; Ein Teil des Kuchens wandert indirekt in die Medienlandschaft.

… weniger, aber immer noch viel, Staat

Im Vergleich zu den Big Spendern aus der Privatwirtschaft nimmt die öffentliche Hand eine geringere Größenordnung ein. Für die Finanzierung der großen Medien­häuser sind die Summen dennoch nicht zu unterschätzen. 2018 gaben Ministerien, Länder, öffentliche Stellen und staatsnahe Betriebe etwa 170 Millionen Euro für Anzei­gen in Medien aus. Mit dem Geld ließe sich die im Vorfeld der letzten Nationalratswahl von allen Parteien zugesagte Unterhalts ­garantie für Alleinerziehende gleich drei­fach ausfinanzieren. Umgesetzt wurde diese von der geschiedenen Regierung frei­lich nie, wohlgleich die Inseratengelder munter weiter sprudelten. Von den Minis­terien der ehemaligen Minister Kickl und Strache auch an Medien mit dezidiert rechtsextremem und menschenverachten­dem Einschlag.

Brotkrumen für die Kleinen

Die eigentliche Presseförderung macht nur einen Bruchteil der Einkommen von Medien aus. Insgesamt wurden 2018 nur etwas über acht Millionen Euro an österrei­chische Tages- und Wochenzeitungen aus­geschüttet. Im Gegensatz zur freihändigen und oftmals willkürlichen Vergabe von (Regierungs)inseraten obliegt die Auszah­lung der Mittel der Presseförderung stren­geren Voraussetzungen. Mit einem noch kleineren Fördertopf werden Medien abge­speist, die seltener als einmal im Monat erscheinen. Die sogenannte Publizistikför­derung umfasste im Jahr 2018 läppische 340.000 Euro. Dieses Küchlein wird wie­derum unter den ansuchenden Medien auf­geteilt. Die Volksstimme erhielt im Jahr 2018 1.360 Euro. Ein Tropfen auf dem hei­ßen Stein. Den Bestand der Volksstimme und anderer alternativer Medien sichert kein Gesetz, welches die Medienvielfalt för­dern sollte. Vielmehr sind es treue Abon­nentInnen, solidarische UnterstützerInnen und die ehrenamtlichen RedakteurInnen, die das ermöglichen.

Unabhängige Medien stehen durch den digitalen Wandel vor großen Herausforderun­gen. Es fällt zunehmend schwer, eine kriti­sche Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Versuchen sollte man es dennoch.

Ein Essay von FRANK JÖDICKE

Wer heute einen U-Bahnwaggon betritt, sieht ein anderes Bild als vor zehn Jahren. Die Anwesenden wischen. Geradezu unaufhörlich wird über die Bild­schirme der Smartphones mit dem Finger gefahren und werden Informationen verar­beitet. Die ästhetische Urteilskraft wird hierbei am Binären geeicht. Interessiert mich das? Ja/Nein. Bei »Nein« wegwischen, bei »Ja« kurz anglotzen. Studien bestätigen, was beim Blick in U-Bahnzügen offenkun­dig zu sein scheint: Die Menschen werden mit dem ununterbrochenen medialen Angebot nicht glücklicher. Einer der Gründe dafür könnte darin liegen, dass sie zu ununterbrochener Arbeit genötigt wer­den, zu jener des Auswählens.

Gratisarbeit für Netzgiganten

Diese Arbeit ist natürlich unbezahlt. Sie wird angeblich zum eigenen Vergnügen abgeleistet, nur sehen die wischenden Nah­verkehrsteilnehmer*innen nicht vergnügt aus. In der Digitalisierung ist viel mensch­liche Arbeit versteckt. Socialmedia ist ein erfolgreiches Geschäftsmodell, um unbe­zahlte Arbeit zu ergattern. Die Kids filmen und schneiden ihre Skatebordvideos, sie wählen aus tausenden Bildern die schöns­ten aus, um diese zu posten. Sie schreiben Texte und durchforsten die unterschied­lichsten Publikationen nach den passenden Informationen und versuchen alles mög­lichst ansprechend aufzuarbeiten. Das ist nichts anderes als (bild-)redaktionelle Arbeit. Die großen Internetunternehmen erhalten diese Arbeiten unentgeltlich und verdienen daran, indem sie die Werke an all jene im U-Bahnwaggon liefern, die daran nicht sonderlich interessiert zu sein scheinen. Da aber aller Content mit Wer­bung angereichert wird und weil sich Benutzer*innenprofile als die effizienteste Form des Marketings verkaufen lassen, sind die Gewinne für einige wenige Konzerne enorm.

Der Gedanke, die Maschinen würden heute die Arbeit für »uns« übernehmen (und sie uns sogar »rauben«), ist nicht ganz schlüssig. Die Lage ist komplexer. Apparate übernehmen viele Eselsarbeiten, aber sie müssen auch Menschen in ihren Dienst nehmen. Die Algorithmen können bei­spielsweise keine Gesichter erkennen. Die Gesichtserkennungssoftware, die jede/r aus dem Kamerasucher heute kennt, funktio­niert nur deswegen, weil zuvor Menschen Millionen von Gesichtern erkannt haben und per Mausklick den Maschinen gemel­det haben. In vielen Bereichen machen Menschen diese Datenerhebungsarbeit, ohne dies zu wissen – wie beispielsweise im U-Bahnzug –, oder sie werden zu gehirnto­ter Klickarbeit gezwungen, wie jene Arbei­ter*innen in Nordkorea, die jeden einzelnen Bildkader der Hollywood-Animationsfilm durchschauen und retuschieren müssen. Hier ist Digitalisierung menschliche Arbeit, häufig unbefriedigende und nicht selten sogar sklavenartige.

Die Masse beliefert sich selbst

Das Medium und dessen Anforderungen wandeln die Menschen. Die Mediennutzer* innen entwickeln ein neuartiges Selbstbild, das erst unzureichend reflektiert wurde. Nicht zuletzt, weil die Profiteur*innen der Digitalisierung daran kaum ein Interesse haben dürften. Die unbezahlte Datenerhe­bungsworkforce befindet sich in ununter­brochener Zeitnot. Der je bessere sinnliche Reiz ist nur einen Wisch oder Klick ent­fernt, wodurch jeder Aufenthaltsort im Netz ein enervierend vorläufiger ist. Der Gedanke, »noch ein Wisch und endlich sehe ich, was ich immer sehen wollte«, scheint die Wischarbeiter*innen anzutreiben. Da jede Fingerbewegung sorgfältig vom Appa­rat protokolliert wird, speichern die Maschinen den Verlauf der Gelüsterally und ziehen daraus klandestin ihre Schlüsse. Es werden Vorschläge verkettet, die Mons­tren im Netz entstehen lassen. Enorme Rau­penschlangen wuseln in den virtuellen Räu­men herum. Sie haben teilweise Millionen Beinpaare, die unaufhörlich marschieren. Ihre Leiber bestehen aus ineinander gewachsenen Rümpfen, denn die Köpfe der Teilwesen sind verschwunden. Ein Ärm­chen pro Rumpf und Beinpaar steht aller­dings noch hinaus, an seiner Spitze wackelt ein in die Höhe gestreckter Daumen. »Ja, wir finden das alles super, weil wir das alles super finden!«, murmelt die Raupen­schlange vor sich hin und scheint immer ihr nächstes Ziel zu kennen.

Paradoxerweise erfahren die User*innen heute diese Art der Vermassung des Emp­findens in der Abgeschiedenheit der klei­nen Leuchtkegel, die ihnen ihre Smartpho­nes ins Gesicht werfen. Sie sind ganz offen­sichtlich allein und isoliert, da sie aber von der Raupenschlange im Netz einverleibt werden, nehmen sie diesen virtuellen Anklang bereitwillig wahr und marschieren mit. Auf Ziele zu, die sie nur mehr bedingt aus eigenem Willen oder Wunsch ansteu­ern. Der Frust, der sich zuverlässig ein­schleicht, liegt nun darin, dass das digitale Medium, das angeblich alles bietet, in die immer gleichen und von den User*innen nicht eigentlich gewählten Kanäle steuert. Dabei spüren sie, wie ihnen jene Zeit geraubt wird, die sie nicht mehr haben. Sie merken, dass sie dauernd auf eine bunt flimmernde Fläche starren, die ihnen Lust verschaffen soll und diese dann doch fast nie liefert. Alles ist Ablenkung und alles ist ein hintertriebenes Spiel. Wer sich vom überwiegenden Medienangebot im Netz »verarscht« vorkommt, irrt nicht. Das meiste ist eine Art um Aufmerksamkeit grölender Betrug. Dass dieser nun immer umfassender von den Nutzer*innen selbst hergestellt wird, ist eine Pointe, die Walter Benjamin die Augenbrauen in die Höhe hät­ten schnellen lassen. Erlebte sich die kul­turindustriell abgespeiste Masse immer bereits als Masse, dann übernimmt sie die Massenproduktion, die zu ihrer eigenen Vermassung führt, als Wischarbeiter*innen nun gleich selbst. Individuelle Sichtweisen sind natürlich nicht verboten, sie stehen nur im Netz hilflos stumm neben den Trampelpfaden der Raupenschlangen.

Meister der digitalen Manipulation

Das hat gewisse Konsequenzen dafür, wie Öffentlichkeit erzeugt wird und wie politi­sche Entscheidungsprozesse noch allge­mein verhandelt werden können. So wie in einer industrialisierten Welt die Schönheit Ergebnis eines Normierungsprozesses ist, soll die Wahrheit einer Statistik folgen. Bei­des ist falsch, alle Beteiligten wissen dies und akzeptieren die Ergebnisse dennoch. Mehr noch, vor den quantitativ belegten »Erfolgen« sind alle kusch. Wenn zum Bei­spiel Ben Shapiro ein Millionenheer an Fol­lower*innen hat, dann hebt dies die Kläg­lichkeit seiner Argumente und deren ekel­erregende Hässlichkeit auf. Bei ihm zeigt sich der typische Netzzirkelschluss, der unsere Öffentlichkeit mehr und mehr bestimmt: Er wurde immer größer, weil er immer größer wurde. Internetphänomene wie Shapiro werden ehrerbietig von den »alten« Medien eingeladen und befragt, obwohl die ihn befragenden Journalist* innen sehr wohl erkennen, dass sie ein bloßes rhetorisches Aufheizprogramm geladen haben, bei dem jeweils jene Worte gemixt werden, um die nächste Welle durch die Raupenbeine zu schicken. An den rechten US-Netzdemagogen wie Shapiro haben sich die europäischen Polit-Demagogen geschult, wie beispiels­weise Nigel Farage oder HC Strache. Die Furcht der Medienmacher ist leider längst zu groß vor den in Marsch gesetzten Mas­sen des Netzes. Es bräuchte intellektuell nicht viel, um die eben genannten abzu­tun, ihre simplen Maschen (Opfermythos, falsche Behauptungen, strategischer The­menwechsel, etc.) zu durchschauen und ihnen am besten keine Bühne mehr zu bieten. Nur, dafür sind sie längst zu groß, und das mehrt ihre Macht unaufhörlich.

Diese Manipulatoren (es sind fast aus­schließlich Männer) wurden tausendfach der Lüge überführt, sie widersprechen sich unaufhörlich, aber all dies schadet ihnen nicht. Es ist längst Teil ihres Spiels geworden, das zu möglichst ununterbro­chener Aufmerksamkeit führen soll. Skan­dale größeren oder kleineren Kalibers helfen dabei. Eine am Binären geschulte Öffentlichkeit bewertet Argumente gerne im Schema »Wir gegen die«. Das Licht der Aufklärung kann irgendwann den Keim absichtlicher Irreführung nicht abtöten, sondern lässt ihn in den digitalen Medien gedeihen. Die Follower*innen reagieren auf Widerlegung mit intensivierter Gefolgschaft. »Man will uns mundtot machen!« Die alte Schule des öffentlichen Diskurses, die hoffte, durch das bessere Argument zu überzeugen und umzustim­men, beißt deswegen längst auf digitalen Granit.

Und dennoch …

Allerdings, keine der Veränderungen der öffentlichen Debatte, die mitbedingt ist durch die Form digitaler Medien, sind Abbilder von Naturkräften. Nichts hat so kommen müssen wie es kam und kann folg­lich auch heute noch geändert werden. Auch wenn es zuweilen unendlich schwer erscheinen mag, unabhängige Medien müs­sen unabhängig sein von dem Wischen, von den Raupenschlangen und ihren Erre­gungswellen und sollten dem binären Code einer verkürzten Urteilskraft widerstehen. Ihre Leser*innen sollten sie nicht als Daten­kollektoren missbrauchen, sondern ihnen gegenüber eine glaubwürdige Einladung zum Lesen aussprechen und damit zur Aus­einandersetzung mit komplexen und in sich widersprüchlichen Sachverhalten. Es ist nämlich ein großer Unterschied zwi­schen dem Aufzeigen von Widersprüche und dem sich Widersprechen, das von den Demagog*innen praktiziert wird, um Auf­merksamkeit zu generieren. Es gilt, die Dif­ferenzen einer kaum mehr durchschauba­ren Welt als eben diese in der höchstmögli­chen Komplexität darzustellen, statt den Leser*innen die Köpfe aus dem Rumpf zu reißen, damit sie bereitwillig zwischen binären Optionen hin- und herwischen. Unabhängige Medien sollten ihren Leser* innen vermitteln, dass wir uns in einer Soli­dargemeinschaft derer befinden, die im Grunde alle überfordert sind. Es ist kaum mehr möglich, Auskunft zu geben, die Phäno­mene ändern sich nach jedem Blinzeln. Es ist schwierig und trotzdem müssen wir ver­suchen, dem Unüberschaubaren eine beschreibbare Gestalt zu geben, die Wirk­lichkeit einfängt und nicht verstellt. Das ist bei allen Schwierigkeiten übrigens auch eine reizvolle Aufgabe. Diese Textproduk­tion kann das Netz bereichern und seine Leser*innen. Bei skug versuchen wir dies mit teils mäandernden Essays, Erfahrungs­berichten, sorgfältigen Kritiken und sonsti­gen Analyseversuchen. Manches davon mag zuweilen misslingen, ein Betrug ist es nie. Längst wurde medial ein Kampf gegen die Wirklichkeit ausgerufen, und dieser nützt den überall in der Welt aufkeimenden auto­ritären Regimen. Unabhängige Medien müssen dagegen vorgehen.

Frank Jödicke ist Chefredakteur des Magazins für Musikkultur skug, das unter skug.at nahezu tägli­che neue Texte veröffentlicht, und er ist sehr froh, dass es BAM gibt.

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367