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HEIDE HAMMER im Gespräch mit Denice Bourbon und Hyo Lee über das Politische in der Musik und die Unterschiede zwischen Schweden, Seoul und Wien.
Wann ist Musik politisch?
DENICE BOURBON: Egal, ob mit Band oder als DJ, ich überlege vor jedem Auftritt, welche Gefühle ich mit der Musik erzeuge, dabei geht es um Politik und Verantwortung, z. B. Dark Wave, betone ich eher das Depressive oder die Schönheit der Traurigkeit.
Die Wahl des Genres oder seine (Wieder-) Aneignung ist ebenso politisch. Bei meiner Country Band, Bonanza Jellybean, war es mir besonders wichtig, die Texte in deutlicher Abgrenzung zu den herkömmlichen Erwartungen an Country zu setzen, explizit queer, explizit links. Die Anlehnung erfolgte dann an Dolly Parton und kontrastierte die »White Supremacy«-Phantasien. Klassenfragen und die Thematisierung von Armut stecken in dieser Musik jedenfalls drin.
HYO LEE: Musik bringt Leute zusammen, egal welches Veranstaltungsformat, Musik ist die Kunstform, die am einfachsten funktioniert und Politik vermittelt. Texte sind immer politisch, auch wenn nur eine Geschichte erzählt wird.
DENICE BOURBON: Konzerte sind besonders, wortlos stehen die Leute in einem Raum zusammen, schaffen eine gemeinsame Situation, es wird von allen zusammen etwas produziert. Dabei gibt es einige kollektiv geübte Reaktionen, Rituale, die kaum hinterfragt werden: Der Applaus an der richtigen Stelle, die Intensität der Zustimmung.
HYO LEE: Stimmt, du drehst dich immer um und bringst die Leute nach vorne oder machst den Sound ordentlich und applaudierst besonders frenetisch, wenn dir das Publikum zu wenig solidarisch mit den Leuten auf der Bühne erscheint.
DENICE BOURBON: Und dann macht immer irgendwer mit.
HYO LEE: Bei Konzerten gibt es so eine old-school-Idee, dass die Leute auf der Bühne für uns arbeiten, das hat an sich schon Wert und muss honoriert werden. Ich habe lange im Fluc hinter der Bar gearbeitet, oft spielen da eher unbekannte Bands, die bringen ihre FreundInnen mit und treffen im Club auf ein Stammpublikum, zusammen bildet das dann im besten Fall Community.
DENICE BOURBON: In den 90ern war ein Clubbesuch oft eine Entdeckungsreise, zunehmend wird alles vorab gecheckt, da die Songs ja irgendwo verfügbar sind. Bei manchen Genres kann man gerade noch mit der Exotik des Herkunftslandes punkten.
HYO LEE: Klar gehe ich eher zu einer all female oder queer Band, das habe ich auch bei der Diensteinteilung im Fluc meist so gehalten. Wobei Konzertabende immer stressiger sind und meist lauter als DJs. Es gibt immer so Wellen an der Bar, vor Bandbeginn, in der Pause und danach, dazwischen ist nichts los, und wenn der Eintritt hoch ist, gibt’s auch weniger Trinkgeld.
Habt Ihr kritische Kinderlieder gehört?
DENICE BOURBON: Die 70er Jahre in Schweden waren dominiert von kritisch-pädagogischen Kinderliedern. Mein Lieblingslied war das Schimpfwörterlied, drei Minuten Aneinanderreihung von Schimpfwörtern – wobei das Schimpfen in Schweden üblicher ist als hier, also Kinder dürfen das oder auch FernsehnachrichtensprecherInnen. Musik war das entscheidende Mittel meiner Identitätsbildung: Mit der Wahl der Musik tauchte ich in eine bestimmt Subkultur ein, die den Kleidungsstil, das Verhalten, die FreundInnen prägte, ich war also hundertprozent Punk oder Grunge, Goth oder Brit Pop.
Schweden war das drittgrößte Musikexportland der Welt (neben USA und UK), was bei der geringen Bevölkerung absurd klingt, aber weil das Land so groß ist und die Leute in den kleinen Orten einfach nichts zu tun hatten, kam es zu ganz absurden Phänomenen. Alle Vegan Hard Core Bands kamen z. B. aus Umeå, »Refused« startete von dort eine Weltkarriere. Die Stadt hatte auch lange Zeit keinen McDonalds, die wurden immer wieder niedergebrannt. In den 80er Jahren wurde Musik in Schweden als Exportware erkannt und die Entstehung entsprechend gefördert, es gab überall staatlich geförderte Proberäume mit Instrumenten. Bands gründen war so einfach und zugleich oft das einzige, was es zu tun gab. In den 90ern dreht sich dann die Geschichte weiter, die erfolgreiche elektronische Musik kam dann aus Stockholm.
Was hat überdauert? Wo gehörst du heute dazu?
DENICE BOURBON: Grunge liegt mir am meisten am Herzen, na heute bin ich immer noch Punk.
HYO LEE: Ich höre seit zehn Jahren gar keine Musik. Als ich nach Wien kam, hatte ich einen Club, »Chubby Chubby Boom Boom« im Marea Alta. Es gab keinen Eintritt, aber Leute mussten Süßigkeiten mitbringen. Das hat nicht so gut geklappt, Leute wurden krank, wir haben das nur zweimal gemacht.
DENICE BOURBON: Das war urlustig, Denice Kottlett und ich waren die Sugar Queens …
HYO LEE: Ich habe Probleme mit Texten, deswegen höre ich keine Musik. Ich telefoniere auch lieber als zu schreiben, Geschriebenes kann man nicht zurücknehmen. Nach vielen Jahren hinter der Bar klingt alles irgendwie gleich.
K-Pop [Koreanische Popmusik] ist auch pure Entertainment, die Texte sind nebensächlich. Ich habe erst mit 16 angefangen, US-amerikanische Musik zu hören, das hatte damals keine Verbindung zu einer bestimmten Szene oder FreundInnen. Hier reden Leute viel mehr über Musik, sie sagen: »Was, Du kennst diesen Song nicht? Ich muss gleich weinen, das definiert meine Pubertät, meine 20er …«
DENICE BOURBON: Da gibt es dann auch das Phänomen der »guilty pleasure«, also irgendwie schämt man sich für die Gefühle, die grässliche, grottenschlechte Songs bei einem auslösen. Ich habe das gar nicht.
Magst Du Abba?
DENICE BOURBON: Nein, mochte ich tatsächlich nie. Ich mochte immer schon härtere Sachen und keine Musik in Dur. I like it, when it’s dark and heavy. Als Teenager hörte ich z. B. sehr gerne »Röda Bönor« (Rote Bohne), eine feministische Band aus Lund, die waren so cool, so acht bis zehn, die Hälfte konnte kein Instrument spielen, aber das war egal. Feminismus und auch Klassenfragen wurden in dieser Zeit stark verhandelt, Rassismus kaum oder gar nicht.
HYO LEE: Wir hatten Musikunterricht bis zur High School, zur Prüfung mussten alle, also das waren Klassen mit 40, 45 Schüler Innen, »O Sole Mio singen«, alle. Meine Stimme hat schon beim ersten O gezittert, aber da half nichts, bis zum Ende mussten alle singen, das ging über Stunden. Die Botschaften der Kinderlieder waren sehr allgemein, auch nicht genderspezifisch, mehr so was wie nicht streiten, nicht rauchen.
Heute ist Karaoke in Korea super wichtig, es gibt aber auch gute feministische Rapperinnen. Karaoke ist so bedeutend, dass es mittlerweile so Einzelkabinen mit Kopfhörern gibt, damit die Leute für ihre Auftritte vor Friends & Family üben können. Die großen Karaoke-Bars haben mehr so Wohnzimmer-Atmosphäre, mit Sofas und Essen, natürlich Alkohol, alles für stundenlanges Verweilen.
DENICE BOURBON: Karaoke ist in Finnland auch sehr beliebt, in jedem kleinen Dorf gibt es eine Karaoke-Bar. Das kommt wohl daher, dass die Leute nicht miteinander reden können, so kann man ohne eigene Worte miteinander trinken, gemeinsam was erleben und sich das Herz aus dem Leib singen.
Das bringt mich doch zu einer nächsten Frage: Musik und Drogen. In den 60ern nehmen viele LSD, in den 70ern Heroin, heute koksen alle. Sagt das mehr über die gesellschaftlichen Verhältnisse als die Musik aus?
HYO LEE, DENICE BOURBON: Ah, das ist zu allgemein. Das sind Klischees.
DENICE BOURBON: Das war immer das Klischee: Punks nehmen Heroin, die Leute, die Reggae hören, kiffen, die Leute, die Techno hören, nehmen Ecstasy, heute nehmen Leute Keta, heute kokst ja jeder Mensch, das war früher eher mit neoliberalen Jobs, Bankern assoziiert und mit Pop von Duran Duran. Die Goths haben tatsächlich immer wenig getrunken und wenig Drogen genommen.
HYO LEE: Die haben immer diese Rotweinsachen getrunken, Cola-Rot.
DENICE BOURBON: Ja, genau, und Brit Pop war Speed und Ecstasy.
HYO LEE: Speed, um wach zu bleiben, aber auch, um nicht so schüchtern zu sein. Also hier und heute, aus meiner Erfahrung hinter der Bar, Leute nehmen einfach, was sie kriegen können. Das hat nicht so viel mit der Musikrichtung zu tun, mehr das nehmen, was einfach verfügbar ist.
Wenn die Welt morgen wirklich radikal anders wäre, liebevoll, aufregend, leidenschaftlich, jedenfalls gelungen – welche Musik würde dann gespielt?
DENICE BOURBON: Musik reagiert immer auf die Zustände, um ein prominentes Beispiel zu nennen, Nirvana. Diese Band wäre niemals 1987 so weltberühmt geworden oder 96, sie wurden 91 berühmt, weil viele Leute an ganz verschiedenen Orten, also global, dieselbe Sehnsucht teilten. Sie hätten als Band existiert, aber so bekannt wurden sie, weil so viele Leute dieselben Gefühle hatten. Nach den 80ern, die so konsumorientiert waren, kommt da eine massive Gegenbewegung. Du konntest ja Teil der Grunge Wave sein, ohne dafür Geld auszugeben, du hast einfach die Pyjamajacke des Opas genommen und warst Grunge, irgendwas, das du im Container gefunden hast, egal. Das war antikapitalistisch, es hat nichts gekostet, sich in diese Kultur reinzuschmeißen, selbst Punk war ja schwierig zu machen.
HYO LEE: Heute dominiert doch so eine »Teenage Mentality«, die Leute sind 40 oder 50 und nicht erwachsen. Und deshalb würden wir auch dann noch so traurige Sachen hören, selbst wenn die Welt in Ordnung wäre. Dann hätten wir endlich Zeit, um uns mit allen Gefühlsfacetten zu beschäftigen.
DENICE BOURBON: Ja, diese 516 Tage Regierung jetzt oder wie viele es waren, das war ja so ein Shit-Fest, das niemand in Frage stellen würde, dass die Vengaboys da auftreten. Wir hätten alles genommen, so lange wir irgendwo zusammen sein und Ibiza genießen können. Es war so ein Glück, das kollektiv genießen zu können. Niemand hätte gesagt, können wir bitte einen anderen Song haben, davor waren wir alle so verzweifelt, und zu dieser Erleichterung passt einfach alles.
HYO LEE: Na, es muss mit dem Grad der Dummheit korrespondieren, mit dem, was in der Politik veranstaltet wurde.
DENICE BOURBON: Stimmt, das ist klug, also Vengaboys, die Musik ist genauso deppert wie die Politik davor war. Ich sag das jetzt auf Wienerisch.
Und wohin wird es jetzt gehen? Was zeichnet sich ab?
DENICE BOURBON: Ich hab‘ so ein Gefühl, es werden wieder mehr Bands kommen. Jetzt gibt es sehr viele EinzelkünstlerInnen mit ihren elektronischen Geräten, es wird wieder mehr Organisches geben.
HYO LEE: Das zeichnet sich nicht nur in der Musik ab, ebenso in der Kunst, die Idee von Kollektivität hat eine Weile gefehlt, diese Kokain-Ära, so One-Man-Shows. Jetzt wird es wieder Politischer.
DENICE BOURBON: Gerade die Klimabewegung zeigt das auch, dieses Gefühl, nur Gemeinsam noch was auf die Reihe zu kriegen, das wird sich auch in der Musik ausdrücken.
Denice Bourbon wurde in Finnland geboren und wuchs in Schweden auf. Seit 2002 lebt sie in Wien und bewegt sich vor allem in der Avantgarde-Queer-Szene, wo sie als multitalentierte Künstlerin tätig ist.
Hyo Lee ist Fotografin, Videokünstlerin und Performerin und lebt seit 2006 in Wien.
Politisches in der Musik taucht oft auch neben ihr auf: in Form von Live-Ansagen von Bands und Acts. Hip Hop, Grunge, Electro-Clowning – Gedanken zu Worten und Gesten aus dreißig Jahren Live-Shows.
VON DREHLI ROBNIK
In der Frage, was Musik politisch macht – und was sie alles macht, wenn sie politisch ist –, ist ein Blick bzw. Hinhören auf Live-Ansagen aufschlussreich. Die Live-Ansage ist, wie ihr Name sagt, eine Ansage; das hat sie gemeinsam mit dem Beziehen von Stellungen und mit der öffentlichen Artikulation, die für Politik zentral sind. Und: Die Ansage erfolgt in einem Dazwischen – zwischen Songs oder Tracks – bzw. ›daneben‹: neben der Musik. Die Live-Ansage ist nicht selbst Musik. Und das hat sie gemeinsam mit Popmusik (im weiten Sinn, samt Rock & Rap): Die läuft immer wesentlich auch neben der Musik ab. Das lehrt uns etwa Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, sowie schon das Leben mit Popmusik und deren theoretischen Skills – also mit der Fähigkeit von Popmusik, aus der Einsicht heraus pointiert zu denken. Und das wiederum ist zwar nicht gleich Politik, aber ein Einstieg in sie; zumal wenn Politik etwas anderes sein will als Kapitalfluss management, Erlöserkanzlermarketing oder Fremdenbekämpfung.
Als Ansage, die neben der Musik erfolgt, teilt die Live-Ansage mit der Popmusik auch dies: Sie will nicht wesentlich sein (wie sakrale oder ›ernste‹ Musik), sondern ist eines der vielen Nebenbeis, auf die modernes Leben fokussiert. Und sie ist im Nebenbei doch eine Setzung als prägnante Verdichtung, wie klassischer Weise der Drei-Minuten-Song im Radio und überall, eben nebenbei. Das Nebenbei wird zentral. Deshalb muss Gesellschaftskritik, wenn sie ›Grundlegendes‹ erfassen will, Aufmerksamkeit auf das Unbeachtete, das immer um uns ist, richten. Etwa im ›Lesen‹ von Äußerungen als ›Symptome‹, wie es Psychoanalyse und Ideologiekritik tun. Da sind wir, wieder, nicht mitten in, aber nahe an der Politik.
Live-Ansagen im Nebenbei der Popmusik gibt’s viele. Manche wurden Klassiker, oft durch kanonische Live-Aufzeichnungen: »Gimme an F – U – C– K!« von Country Joe & The Fish, Woodstock 1969 (fast schon ein Chant); »This next one is the first song on our new album!« von Cheap Trick live at Budokan, Tokio 1979 – geläufig als Nonsens-Intro zum Beastie Boys-Album Check Your Head, 1992. Im folgenden ordne ich Gedanken zu Live-Ansagen, die Politik-affin sind, chronologisch über drei Jahrzehnte. Meine subjektive Auswahl kreist ums Motiv des Double Take, des Zweimal-Hinschauens oder -Hinhörens, weil das erste Mal erstmal stutzig macht.
Ein deutscher Gruß
Die erste Ansage ist ein Anfang: Band begrüßt Publikum – Laibach live beim Big Beat-Festival, 4. Juni 1988, im Wiener Messepalast (heute ist dort das Museumsquartier). Aus dem Kunst-Kollektiv-Umfeld der slowenischen Industrial-Band heraus absolvierte Ende der 1980er auch Slavoj Žižek erste Wien-Auftritte (Laibach allerdings debütierten in Wien – in der Arena – schon 1983, ihre erste Show außerhalb Jugoslawiens). Jedenfalls war 1988 in Wien geläufig, dass Laibach Stile totalitärer Politik, vor allem Nazi-Propaganda, auf unironische Weise nachstellten und so Parallelen zur Popmusik hervorhoben: Massenanbetung von Idolen, Allheits-Parolen, Befehlston, Lebensborn-Vitalismus; so etwa in Laibachs damals aktueller Eindeutschung von »Live is Life« von Opus als »Leben heißt Leben«. Und so kam also die nach dem kolonial-österreichisch eingedeutschten Ljubljana benannte Band auf die Bühne, in faschistisch anmutender Uniformierung, in Military bzw. Trachtenjanker, mit Frisuren, die heute Undercut heißen, damals »Hitler jugend« riefen. Sänger Milan Fras begrüßte ein Festival-Wien so akzentuiert wie Akzent-gefärbt, mit der kehlig-tief in den Saal geherrschten Ansage: »Eestarraicha, ihr said Daitsche!«
Was war damit gesagt? Wurden da – kurz nach Kontroversen zum 1938-Gedenkjahr und zum Historikerkommissionsbericht über die SA- und Wehrmachtslaufbahn des amtierenden Bundespräsidenten Kurt Waldheim – »Österreicher«*innen zu »Deutschen« erklärt? Im double take, auf den zweiten Blick, zeigte sich: Da agierte eine slowenische Band als Verkörperung eines aufschlussreichen Symptoms österreichischer Nationalidentitäts- und Geschichtspolitik. Also von etwas, das hervortritt und nicht so leicht weggeht, hier: das mit Waldheim 1986 als obszön hervorgetretene Fortwirken des Nazismus in einem selbstverniedlichend zum Opfer stilisierten Land. Dort, wo ›man‹ Schuldeinsicht zur Nazi-Vergangenheit gern den ›Deutschen‹ (damals noch in Ost und West) überließ, mitten in Wien also wurde den stellvertretend beim Konzert versammelten »Eestarraichan« ein Bekenntnis zum Deutsch-Sein aufgenötigt; eine Ansage wie ein Dekret, wie eine ›Volksgruppen‹-Zwangszuordnung. Und zwar seitens Stellvertretern einer Population, die – auch vor und nach Jörg Haider – als Minderheit im Süden Österreichs von Mehrheits-»Daitschen« stigmatisiert und zum Schweigen gebracht wurde.
Hip Hop Capital Accumulation
Eine Ansage, die Projektionen von ›ethnisierten Anderen‹ zutage brachte, enthielt auch die Wien-Show von Public Enemy am 17. Juni 1992. Die White Supremacy- kritische, in appellativen und analytischen Texten wie auch im Sampling wegweisende Hip Hop-Truppe bespielte ein Konzert-Zelt am Stadtrand, das alle paar Monate nach einer anderen Sponsoren-Bank benannt war; damals Bank Austria. Zwischen den Tracks forderten Chuck D. und Flavor Flav – flankiert von ihrer Black Panther-Garde, auch sie martialisch uniformiert – ihr Publikum zum Winken auf und umwarben es mit Ansagen wie »Vienna is the Hip Hop capital of the world!«. Das war fakten widrig – und eine Frechheit, denn: Wir braven Konzertkartenkund*innen erwarteten von Public Enemy scharfe Attacken auf Machtformationen von Whiteness, zumal kurz nach den L.A. Riots infolge des Rodney King-Unrechtsurteils – und in einer ethnisch so hierarchisierten Gesellschaft wie der in Österreich (damals und heute). Und nun diese Anbiederung! Anderseits war das die ultimative Chuzpe gegenüber relativ wohlhabenden mitteleuropäischen Whiteys: ihnen die Black Ghetto Riot-Show zu verweigern, ihre Authentik-Sehnsüchte zu frustrieren. Und so brüskierten Public Enemy bei der Geldbeschaffung für die gute Sache – eben: Bank Austria – ihre Klientel gerade mit Anbiederung: Ansagen von Verweigerung auf den zweiten Blick.
Zwei weitere Ansagen – beide Male gestisches Clowning. Bei der ersten war ich leider nicht live dabei. Sie stammt von Kurt Cobain bei einer späten Nirvana-Show; ich habe sie im April 2004 in einer TV-Doku zu Cobains 10. Todestag gesehen, nicht mehr vergessen und unlängst online wiedergefunden. Die Ansage ist eine Absage: Beim MTV Live & Loud-Konzert in Seattle am 13. Dezember 1993 äfft Cobain im Abgehen von der Bühne sekundenlang sein applaudierendes Publikum nach, mit affenhaftem Klatschen, stierem Blick, verzerrtem Mund. Eine Geste der Verarschung und Verachtung? Oder eine Symptomhandlung, in der sich Widersprüche einer historischen Konstellation verdichten? Nämlich der Stern- und Sterbestunde des Konzepts und der Popmusik-Form Underground: Eine Erfolgsverweigerungs-Form – Grunge, bei Nirvana in einer antimaskulinistischen Freak-Pop-Version – verglüht im Erfolg, in rasanter Überführung in globale Verwertungs zyklen. Das ist bei Cobain verdichtet zum Ausdruck der Unaushaltbarkeit einer Einsicht in die Beziehung von Musikdienstleister und Publikum. Mit einem rettenden Touch von Harpo Marx.
Cobains Pose ist ein Endpunkt. Eine Pose von Peaches hingegen, bei ihrer Show im Kleine Zaal des Paradiso, Amsterdam am 11. April 2002, markiert einen Beginn. Auch ihre Ansage ist Gestik-Komik. Peaches sang damals zu trockenem Electroclash Refrains wie »Fuck the Pain Away« oder »I’m Only Double A, but I’m Thinking Triple X«. Sie praktizierte auch etwas, das im Schatten ihrer (später erweiterten) Register von Sexualpädagogik und kostümiertem Queerfeminismus blühte: ein Auftreten als unsanfte Comedienne. Und da flashte mich ihr zwischen zwei Songs nebenbei angespielter Double Take mit Mikrofon in der einen Hand, Bierflasche in der anderen: versehentlich aus dem Mikro trinken und in die Bottle singen wollen. Ein Klassiker des gespielten Witzes in der Tradition von Stan Laurel, Jerry Lewis oder Paul Löwinger – und bei Peaches 2002 ein Moment von Aufbrechen einer Männerdomäne: der Comedy-Pose himmlisch-närrischer Zerstreutheit. Die wird heute etwa in Live-Ansagen von Ankathie Koi oder Andrea »Dreli« Mautner von pop:sch kultiviert.
Unter Bobos, nicht grantig
Zuletzt zweimal die Open Air-»Seebühne« am Wiener Karlsplatz, zwei Ansagen zur Befindlichkeit in der Show-Situation. Am 30. April 2016 spielte Monobrother beim Rap Against-Festival. Zwischen Kurt Sowinetz-Samples und Tracks aus seinem Unguru-Album sagte der Wien- bzw. Mostviertel (»Mostblock«)-Bewohner und süffisante Links-Hip Hop-Sozialdiagnostiker (der neuerdings mit do!-Demo-Basecap auftritt): »I find’s eh voll oasch, da in die Bobo-Blas’n einipredigen, aber was willst’ machen?« Monobrother sagte es zu seinem Publikum, vielmehr: über sein Publikum bzw. sein Daneben-Verhältnis zu diesem. Das ist auch ein Klassenverhältnis und eine Frage von homogenisierten Gruppen: etwa die Bobo-Blas’n. Das sollte eine Standardvokabel im Soziologiestudium werden – und das Einipredigen zur Fortsetzung von droppin’ science.
Am 27. Juli 2018 spielte das Wiener Riot-Grunge-Powertrio Aivery als Headliner am zweiten »Seebühne«-Abend des Popfests Wien. Sängerin/Bassistin Franziska Schwarz eröffnete die dröhnende Show mit der Ansage: »Wir sind Aivery. Wir sind nicht grantig; wir freuen uns, hier zu spielen!« War das etwa der Rückzug einer Riotgirl-Haltung in brave Dankbarkeit? Auch hier ist Double Take angebracht: Schwarz’ Ansage bezog sich darauf, wie zuvor Popfest-Co-Kurator Nino Mandl die vor Aivery spielende Band Kreisky angekündigt hatte, nämlich als grantig – wie es bei Kreisky (und schlechteren Bands) zum Routine-Habitus gehört. Aiverys anscheinend anbiedernde Ansage war in Wahrheit eine komplexe Wendung: Eine verbreitete dogmatisch übellaunige Buben-Attitüde, die leicht zum Arroganzkörperpanzer gerät, wurde abgeräumt in einem Sprechakt hochverdichteter Pointiertheit: Wir – hier – nicht grantig. Selbstbehauptung als Setzung auf der Seebühne. Aivery gibt es nicht mehr. Aber ihre Ansage gibt mir was mit.
Drehli Robnik ist Theoretiker in Sachen Film & Politik und Autor einiger Bücher, zuletzt zu Jacques Rancière und zu »Kontrollhorrorkino«, demnächst zu Siegfried Kracauers DemoKRACy.
ANDI DVOŘÁK: Meine Gegenfrage kann nur lauten: was ist nicht politisch? Jede Handlung setzt Verantwortung voraus, ganz unabhängig davon ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Oder wie Gerald Casale, Mitbegründer und Bassist der Band Devo (in Totally Wired, Soft Skull 2009, S. 47) sagte: »So long as you can get rid of the meaning of content you’re allowed to do anything in capitalist culture. Meaning is the number-one enemy. If you render anything trivial and meaningless, then you’re allowed to deal with the subject!«
Andi Dvořák betreibt seit 2005 das label Fettkakao und spielt in der Punk Band Lime Crush.
ANDREAS KUMP: Die Frage ist mir zu kategorisch. Oder zu verkopft. Beides eigentlich. Freilich kann Musik dezidiert oder über ihr Zustandekommen, ihre Wirkung im engeren oder weiteren Sinn politisch sein. Für allgemein gültig halte ich das aber nicht. Da müsste man auch fragen, warum Freude, Melancholie oder Rhythmus politisch sind. Wer sich damit aufhält, versäumt vermutlich das Beste.
Andreas Kump, 51, sang von 1992 bis 2014 bei der Linzer Band Shy, ist heute selbstständiger Werbetexter und Autor.
BERNADETTE SCHÖNANGERER: Musik bedeutet auch Szene. Die eigene Nische, geteilte Leidenschaft und Community zu finden. Auch im kleinsten Kaff gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Vom Organisieren von ein paar Konzerten hin zu kollektiven, subkulturellen Möglichkeitsräumen. Und auch lernen, die Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen: Wer steht auf der Bühne, wer macht das Booking, wer steht an den Reglern, wer kocht und putzt?
Bernadette Schönangerer ist in der oberösterreichischen Kulturvereinsszene aufgewachsen, vom DIY-Gedanken nie wieder losgekommen und (auch deshalb) Redakteurin bei MALMOE.
BERNHARD KERN: Meiner Meinung nach ist Musik genauso politisch wie alles andere auch. In der Entscheidung in welcher Form Musik gemacht wird, mit welchen Menschen zusammengearbeitet wird, welche Deals eingegangen werden, an welchen Orten Musik performt wird usw. steckt gesellschaftspolitisches Potential.
Bernhard Kern, Betreiber von Siluh Records (Label, Verlag, Booking, Laden).
GERALD VDH: Musik ist politisch, da sie von Menschen gehört und gefühlt wird und somit soziale und kulturelle Komponenten hat. Im Turbokapitalismus ist sie auch immer Produkt mit wirtschaftspolitischer Dimension, somit ist es unmöglich unpolitische Musik zu produzieren. Ich sehe mich in der Tradition von Musiker*innen wie den Schmetterlingen oder Drahdiwaberl auch wenn mein Musik-Genre nicht explizit politisch scheint. Techno wirkt auf der Metaebene. Der Klang der Maschinen darf in den Ohren strukturkonservativer Musiker* innen nie als Musik durchgehen. Techno darf sich nie anbiedern, sonst wird er zum Schlager. Techno funktioniert außerdem nicht ohne Tanz. Der Club als Raum gesellschaftlicher Utopie, die offene Kommunikation mit Fremden ohne jegliche Form der Diskriminierung zulässt und Menschen über eine Kunstform zusammen kommen lässt, ist ohne Zweifel ebenfalls politisch. Jeder Rave ist eine Mini-Rebellion dagegen und dafür. Tanz im Club ist eine wichtige Form der Bewältigung, des Eskapismus aber auch der Selbstverwirklichung in einer Zeit der als Individualismus vermarkteten Uniformität. Wir tanzen nicht wie Maschinen. Wir tanzen mit unseren Herzen in den Zehenspitzen.
Gerald VDH ist DJ (all things Techno), Gründer u. a. der Meat Market Parties, Mitbetreiber des Labels Meat Recordings und mit all seinen Bemühungen fest in der LBGTI-Community verwurzelt.
MARLENE ENGEL: Musik ist politisch weil sie Menschen über Sprache und Kultur hinweg zusammen bringt und trotzdem den Kontext, aus dem sie entsprungen ist, kommunizieren kann. Musik ist kaum aus dem Alltag wegzudenken. Der Arbeit einiger Künstler_innen wird aber eine zusätzliche politische Ebene oder ein Narrativ erst von Außen zugemessen. Rapper_innen wie Cakes da Killa, z. B. jenes des »struggling gay Rapper« umgehangen. Wieso ist das so? Cakes ist ja erfolgreich und es gibt keinen Anlass zu glauben, er würde mit sich selbst kämpfen. Innerhalb der politischen Bewertung von Musik finden sich also manchmal konservative Klischees und Reproduktionen. Es wäre an der Zeit nicht ständig nur die politische Ebene queerer, vermeintlich marginalisierter Szenen zu bewerten, sondern jene, die dem gegenüber stehen, und damit eventuell sogar die Mehrheitsgesellschaft darstellen. Warum analysiert niemand z. B. das Mainstream-Formatradio und hängt den Künstler_innen dort (wenn nötig) das Pendant-Narrativ vom »struggling gay Rapper« um. Andreas Gabalier als »rich heterosexual Singer« – wobei »rich« ja wieder mehr Wahrheitsgehalt hätte, als das »struggling« im oberen Beispiel.
Marlene Engel – alias Bürgerkurator – ist eine in Wien lebende Musikkuratorin (u. a. Hyperreality), Kulturmanagerin und Aktivistin.
POP:SCH: Weil Musik Sichtweisen der Welt ausdrückt. Zumindest bei uns ist das so. Als queere Band fühlen wir uns auch dazu verpflichtet, für die zu sprechen, die das nicht können. Der Song »Shut up Haters« behandelt z. B. Homophobie. In unserem neuen Lied »Für immer« geht es auch um die politische Situation in Österreich, ohne politische Statements würden wir uns nicht authentisch fühlen und uns wäre wahrscheinlich auch textlich fad. Wir sagen gern, was uns stört. Auch innerhalb der queeren »Szene«. Ein Politikum sind und waren wir immer. Als wir vor vielen Jahren auf der Donauinsel gespielt haben, bekamen wir danach mehrere Hassmails, weil wir »zu offen« zu unserer Homosexualität standen. Als wir in Belgrad spielen wollten, wurde ein Konzert beim Queerfilmfestival aus Angst vor Übergriffen vorsorglich wieder abgesagt.
POP:SCH sind eine Queer-Electro Band aus Wien. Sie haben bis jetzt ein Album auf Las Vegas Records veröffentlicht, das nächste soll endlich bald folgen.
VINA YUN: Die Frage ist falsch gestellt: Warum sollte sie es denn nicht sein? Musik reflektiert die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie entsteht und die sie bestätigt oder zu überwinden versucht. In ihr drückt sich unsere Beziehung zu anderen und zur Welt aus, aber auf eher affektive, assoziative, atmosphärische Weise, was sie auch vieldeutig macht. So gesehen beinhaltet jede Musik etwas Politisches – nicht nur dann, wenn der Liedtext explizit politische Themen anspricht.
Vina Yun arbeitet als freie Journalistin in Wien und legt gerne altmodisches Disco-Vinyl auf.
ШAПΚA (SCHAPKA): Alles ist politisch. Uns ist in unserer Musik wichtig, durch die Inhalte unsere Gedanken nach Außen zu tragen. Wir bringen private Themen, wie Menstruation und Sexualität abseits einer heteronormativen Cis-Mackerkacknorm in die Öffentlichkeit. Alle Musik, die in der Öffentlichkeit steht ist auf eine Weise politisch, auch wenn sie sich nicht explizit politisch positioniert. Mit Musikmachen gehen viele öffentliche Plattformen und Positionierungsmöglichkeiten einher – sei es in Interviews, in Songtexten, dem Sprechen auf Bühnen oder der Auswahl, wo gespielt wird.
Interessant ist es auch sich zu fragen: Wer steht (nicht) auf der Bühne? Wie zugänglich ist ein Konzert? Ist es barrierefrei oder gibt es Barrieren? Wer kann sich auf einem Konzert wohlfühlen? Wie viel kostet ein Konzert?
Шaпκa (Schapka) sind Marie Luise Lehner, Laura Gstättner, Dora Lea de Goederen & Lili Kaufmann und Grrrlskrach. Glamour. Lärm. Wahrheit. Schall. Rauch. Sie definieren Punk für sich neu: feministisch, queer, undogmatisch, divers, links. 2017 haben sie ihre erste LP auf Unrecords veröffentlicht.
GÜRTEL CONNECTION: Leider fehlt uns die Zeit um die vorgegebene Frage zu beantworten. Zudem sehen wir uns eigentlich nicht als politschen Verein und wollen uns in diese Richtung auch nicht unbedingt äußern.
Die Gürtel Connection ist ein Verein, der aus Bars und Clubs am Lerchenfelder Gürtel, zwischen Thaliastraße und Alser Straße, besteht. Das Projekt soll die Vielfältigkeit und Attraktivität des Gürtelabschnitts unterstreichen und wieder ins Gedächtnis der BesucherInnen rufen. Hierfür findet zwei-mal im Jahr das gleichnamige Fest statt, bei dem alle GästInnen die Möglichkeit haben, gegen einen einmaligen Eintritt (freiwillige Spende), das umfangreiche Programm aller teilnehmenden Lokale in Anspruch zu nehmen. Die gesamten Spendeneinnahmen werden wohltätigen Einrichtungen für einen guten Zweck zugeführt. Bei der nächsten Ausgabe, am 25.10.2019, wird für das Obdach Josi-Tageszentrum gesammelt. (Beantwortet von Stefan Fürnkranz)
JUST FRIENDS AND LOVERS: In einer Bandkonstellation bestehend aus ausschließlich Frauen_*, ist es gar nicht so einfach, mit Musik nicht politisch zu sein. Wir glauben, dass man einen Impact haben kann. Vielleicht traut sich ja jemand selber eine Band zu gründen, weil sich die Person denkt: »Aha, das könnte ich vielleicht auch!«. Oder weil einfach Frauen_* an Instrumenten gesehen werden, die typischerweise eher Männern_* zugeschrieben werden. Auch wie man an die Produktionsmittel herangeht, ob es zum Beispiel möglich ist, die Instrumente anders als es »die Schule« vorsieht zu benutzen, ob Positionen gewechselt werden können, nicht immer die gleiche Person das »Leadsinging« übernimmt usw., das sind Entscheidungen mit gesellschaftskritischem Potential. Wir eignen uns das meiste durch Ausprobieren an und sind sehr dankbar dafür, eine unterstützende Szene zu haben, die es erlaubt auch auf Bühnen stehen zu können, ohne sich jahrelang im dunklen Kämmerchen darauf vorbereitet haben zu müssen.
Just Friends And Lovers sind Vero, Lina und Lena, ihr zweites Album »Her most Criminal Crimes« ist soeben auf Cut Surface erschienen. Im Oktober 2019 sind sie damit auf Tour unterwegs.
EsRAP: Musik ist politisch, weil es Erfahrungen teilt. Wenn eine Erfahrung viele Leute teilen, dann ist es eine systematische Erfahrung, eine politische Erfahrung. Musik widerspiegelt die Gesellschaft und deren Probleme. Musik sollte politisch sein!
EsRAP sind die Geschwister Esra und Enes Özmen. Ihr Hip Hop ist voll von Gegensätzen, die ineinander schmelzen; kürzlich erschien ihre LP »Tschuschistan« (Springstoff);
KRISTINA PIA HOFER: Musik ist politisch, weil sie einen Raum aufmacht, in dem ich mich als Artist mit der real existierenden Welt in Beziehung setze – inklusive der ungleichen Machtverhältnisse, die in dieser Welt herrschen. Wie und ob ich auf der Bühne, in meinen Aufnahmen und im Umfeld, in dem meinen Musikarbeit stattfindet auf diese Verhältnisse eingehe, ist nicht egal. Der Vorteil von Musik als künstlerischer Form ist, dass sowohl Platz für Kritik des Bestehenden als auch für utopisches Erforschen bleibt: ich kann ausdrücken, wie sich Entfremdung für mich anfühlt, während ich ästhetische Formen und Arbeitsweisen finde, die sich dieser Entfremdung entziehen, und sogar aktiv widersetzen.
Kristina Pia Hofer ist Musikerin (Ana Threat, The Boiler, Pfarre, Sektstress, Schweiffels) und Teil des linken Musiker*innenratnetzwerks.
LAURA RAFETSEDER: Musik ist dann politisch, wenn ich sage, was ich bin, fühle und sehe – denn in einer Klassengesellschaft stoße ich rasch an deren Grenzen. Kunst ist dann revolutionär, wenn sie sich selbst treu bleibt und sagt, was ist. Über das zu sprechen, was die Gesellschaft verdrängt, ist hoch politisch. Die Symptome des Kapitalismus auszudrücken, Einsamkeit, Traurigkeit, Schmerz, Wut – das passt nicht in die happy Scheinwelt des Kapitalismus. Musik ist Ausdruck von Politik, aber kann auch politisieren.
Laura Rafetseder ist Singer/Songwriterin. Sie veröffentlichte bis jetzt zwei Soloalben und ein Album mit ihrer Band Laura & the Comrats. Ein drittes Soloalbum folgt im Herbst 2019.
STIMMGEWITTER AUGUSTIN: Musik als Form der Selbstermächtigung, sich eine öffentliche Bühne zu nehmen, ein politischer Akt! Im Falle des Stimmgewitter Augustin potenziert sich diese anarchistische Aktion, eine Randgruppe abseits des kapitalistischen Musikbetriebs tut das, was sie eigentlich nicht kann – Singen! Dadurch werden künstlich erschaffene Grenzen ausgehebelt und trotz aller »Taktlosigkeit« das Auditorium manchmal verstört aber vielmehr berührt. »Wir nehmen uns den Platz zum Blüh’n!«
Das Stimmgewitter Augustin ist der Betriebschor der Wiener Straßenzeitung Augustin. Robert Sommer: »Was sie singen, klingt den meisten sehr vertraut. Wie sie es aber singen, kann der beste Schreiber nicht beschreiben.« (Beantwortet hat Maria Lang)
DER WIENER SCHMUSECHOR: Musik ist stärker als Angst, Hass und Hetze. Musik schafft das, was Gesetze und große Ansprachen nicht schaffen: Sie überwindet die Hürden und Grenzen zwischen den Menschen und vereint uns alle im Erleben von Emotionen. Singen ist Widerstand mit sanften Mitteln.
Wir sind der Wiener Schmusechor – eine bunt glitzernde, sexy und enthusiastische Powertruppe. Bei uns bleibt kein Auge trocken und kein Körper regungslos, schmusen garantiert! (Geantwortet haben die Mezzosopranistin Anna Muhr und die Dirigentin und Chorleiterin Verena Giesinger.)
KNARF RELLÖM:
versuch über eine häufig gestellte frage immer wieder taucht die frage auf. warum ist musik politisch? was ist politik? die organisation der verhältnisse der menschen zueinander. macht, geld, gesetze, urteile, vorurteile, warenfluss. warum ist musik politisch? alles ist politisch. das private ist politisch. das wäre der schlüssel. zu unterscheiden wäre das konkret politische und das bilden eines politischen charakters. vielleicht wäre das: vorpolitik. rebellion, gerechtigkeitssinn, moral,freiheit. wie werde ich das politische wesen, dass ich bin? dort ist musik politisch. für einzelne. siehe all die punkbiographien und coming out of age stories. einzelne werden zu massen. ansonsten gilt ein satz von rainer werner fassbinder »Man muss zumindest versuchen zu beschreiben, was man nicht verändern kann.«
Knarf Rellöm ist seit 1990 Musiker und gerne unter verschiedensten Namen, mit DJ Patex oder in Wien mit Gustav unterwegs.
RAINER KRISPEL: Wie oder warum, gemäß welchem Politikbegriff könnte Musik denn nicht politisch sein? Als Leben reflektierende, begleitende und erträglich machende Kunst kann sie nur politisch sein. Das zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn »unpolitische« Musik als ach-so unterhaltende Dreckschleuder des Reaktionären tönt. Attwenger, Billy Bragg, Crass vs Böhse Onkelz oder Gabalier, Links klingt einfach besser.
Rainer Krispel, Vater, Punk und Musik(arbeit)er
ROBERT ROTIFER: Ob und in welche Richtung Musik per se politisch ist, lässt sich seit dem Ende des künstlerischen Fortschrittsbegriffs zwar kaum mehr festlegen, aber ihre Rolle als frei zugänglicher Verstärker politischer Inhalte ist unbestreitbar. Musik verleiht jeder und jedem die Macht, durch die bloße Bewegung von Luft, kollektive Erfahrungen zu schaffen, Worte emotional aufzuladen, Menschen zu bewegen.
Robert Rotifer, Journalist und Musiker, der die tiefe Spaltung seiner Wahlheimat Großbritannien in Lied und Wort kommentiert.
SIGNALE (Teil des linken Musiker_innenratnetzwerk): Musik verbindet Menschen und so wie alles andere im Leben, ist natürlich auch Musik (machen) politisch. Eine Bühne bietet die Möglichkeit, Ideen, Lebensweisen sowie Perspektiven auf interessante und unterhaltsame Weise zu vermitteln. Für uns geht es dabei um Solidarität, eine mitmenschliche Einstellung, Offenheit sowie Protest und Aktion.
Signale ist Teil des linken Musiker_innenratnetzwerk, ein Zusammenschluss von Künstler*innen, Veranstalter*innen, Labelbetreiber*innen und diversen Nachtvögeln.
SONJA EISMANN: Hm, was hat Pop mit Politics zu tun? Mal überlegen: wenn auf Elektronikfestivals nur ca. 10 % weibliche Acts gebucht werden, wenn wichtige Musikjurys nur mit Männern besetzt sind, wenn Mädchen sich in Proberäumen und Plattenläden nach wie vor unwohl fühlen, wenn Frauen immer wieder abgesprochen wird, ihre Musik selbst produziert zu haben – gibt es da dann vielleicht einen Zusammenhang?
Sonja Eismann ist Mitbegründerin und -herausgeberin des Missy Magazine und lebt in Berlin. Sie schreibt, forscht und unterrichtet zu Themen rund um Feminismus und Popkultur.
KULTUR FOR PRESIDENT / GASSEN AUS ZUCKER: Bezüglich Politik und Musik/Kultur: Wir sind vor allem im Bereich von House und Techno Musik tätig. Jede Musikrichtung hat auch ihre Community und hierin besteht die soziale Bedeutung und Wichtigkeit von Musik. Über Musik werden Barrieren überwunden und Orte der Begegnung geschaffen. Das erleben wir tagtäglich bei unserer kulturellen Arbeit und deshalb gilt es diese Orte auch vor konservativen und rechtsextremen Kräften zu verteidigen.
Kultur for President ist ein Zusammenschluss von Aktivist_innen aus der Wiener Musikveranstaltungsszene. Zum Anlass des Bundespräsidentschaftswahlkampfes 2016 zwischen Alexander van der Bellen und Norbert Hofer haben wir unsere Initiative ins Leben gerufen. Über Plakatkampagnen und sogenannte »Rave-Blocks« auf Demonstrationen machen wir solidarische Stimmen aus der Wiener Kulturszene sichtbar und setzen uns aktiv gegen Diskriminierung und Entdemokratisierung ein. (Geantwortet hat Magdalena.) www.facebook.com/kulturforpresident/
THERESA ZIEGLER: Popmusik ist eine Spiegelung dessen, was eine Gesellschaft als interessant und relevant betrachtet. Dadurch finden sich in populärer Musik die Themen und die Vibes wieder, die uns als Individuen in dieser Gesellschaft umtreiben. Keine Meinungsforschung kann das, was Menschen beschäftigt, so intuitiv darstellen, wie es ein Blick in Charts und Playlisten kann. Das macht Popmusik zu einer wichtigen Meinungsanzeigerin – und Musikschaffen für die einzelnen KünstlerInnen zu einem ebenso wichtigen Werkzeug, Meinung nach außen zu tragen.
The Gap ist Österreichs ältestes Magazin für (Pop-)Kultur und Kreativschaffen. Theresa Ziegler ist Chefredakteurin bei The Gap.
YASMO & DIE KLANGKANTINE: Weil Musik von Menschen gemacht und gehört wird, und sobald der Mensch ins Spiel kommt, ist die Politik dabei.
Wir sind Yasmo & die Klangkantine und machen feministische Tanzmusik – wir lieben Sprache, Rap, Jazz, Hiphop und sagen auch nicht »nein« zu einem Spritzer.
UNRECORDS: Musik ist in mehrerlei Hinsicht politisch. Einerseits haben viele Musikstile, Songtexte und Performances politisches Gewicht, andererseits bestimmen die Strukturen innerhalb derer in einem bestimmten Kontext oder Umfeld Musik gemacht und konsumiert wird, die (politischen) Handlungsoptionen von Musikschaffenden. Der Mainstream wird (in Österreich) von weißen, männlichen, heterosexuellen Performern* dominiert und tendiert dazu, die bestehende Ordnung zu verfestigen. Deshalb gibt es Unrecords.
Unrecords ist ein queer-feministisches Label mit Schwerpunkt auf Experimental/Noise/Punk/Rock, das seit 2012 von den vier Wiener Musikerinnen Johanna Forster, Aurora Hackl Timón, Birgit Michlmayr und Petra Schrenzer betrieben wird.
»Das Kosmos Theater bleibt auf Linie«, verspricht die neue Intendantin Veronika Steinböck. In einem Pressegespräch stellte sie ihr erstes Programm für 2018/19 vor.
BÄRBEL DANNEBERG
Die Programmpräsentation der kommenden Spielsaison ist nach der Neueröffnung des Kosmos Theaters vielversprechend. Den Weg, den die in Pension gegangene Intendantin Barbara Klein vorgezeichnet hat, möchten die neue Intendantin Veronika Steinböck (künstlerische Leitung) und Gina Salis-Soglio (betriebswirtschaftliche Leitung) fortsetzen: »Oft und immer wieder wird der Feminismus als Ideologie interpretiert und die Zeitgemäßheit von einem feministischen Theaterhaus hinterfragt«, meinen sie. »Feministisches Theater ist notwendig.« Die Programmvorschau scheint dieses Versprechen einzulösen.
Leitmotiv Begehren
Ich erinnere mich an die Zeit, als wir Feministinnen gemeinsam mit Kulturschaffenden das ehemalige Pornokino Rondell besetzt haben. In langwierigen Verhandlungen mit der Stadt Wien und widerständigen Aktionen hat Gründungsintendantin Barbara Klein schließlich das Begehren der Künstler*innen nach einem eigenen Raum vor 18 Jahren mit der Eröffnung des Kosmos Frauenraum in der Siebensterngasse verwirklicht. »Wie verstehen wir das Verhältnis des Begehrens zu Macht, Herrschaft und Gewalt«, fragen die nun »Neuen«? »Wie viel hat Begehren mit Besitzenwollen zu tun? Wie ist es möglich, dem eigenen Begehren zu folgen? Was, wenn ich nichts begehren will? Wie frei sind wir, unser Begehren zu leben?«
Diese Fragen, in denen sich eng Privates mit Politischem vermischt, finden Niederschlag in den neuen Produktionen. Die erste Eigenproduktion MÜTTER wirft eine antibiologistische Perspektive auf das Thema Mutterschaft und macht sich auf die Suche nach den »vielgeschlechtlichen Müttern unserer Herzen«, heißt es in der Vorschau. In BEGEHREN von Gesine Schmidt werden stereotype Bilder des explizit sexuellen Begehrens auf eine sinnliche Entdeckungsreise geschickt. Im musikalischen SCHILDKRÖTENRITT machen sich Les Reines Prochaines auf den Weg durch die menschliche Existenz und beschwören die Stärken des Alters.
Soziokulturelle Vernetzung
»Zwei Drittel der Theaterbesuchenden sind weiblich«, weist Veronika Steinböck auf ein Missverhältnis hin. Es wäre also Zeit, dass sich diese Zahl auch hinter der Bühne durchsetzt. Wieweit das Budget all die Vorhaben trägt, wird sich zeigen. Für die Spielzeit 2018/19 kann das Kosmos noch über Förderungen in Höhe von insgesamt 685.000 Euro verfügen, aber sicher muss der Eigenanteil durch Spenden und Förder*innen erhöht werden, so Gina Salis-Soglio. Auch wurde die Bestuhlung zur besseren Auslastung auf 94 erweitert.
In Extras sind die Räume des Kosmos Theaters auch den freien Künstler*innen geöffnet, denn ohne die »Freie Szene« wäre die Vielfalt in den darstellenden Künsten nicht entstanden, so die Veranstalterinnen. So sind Projekte mit dem neuen Kulturverein XYZ oder dem Theaterkollektiv YZMA geplant. Ebenso sind Veranstaltungen zu 100 Jahre Frauenwahlrecht, Kooperationen mit Vereinen wie etwa dem Verein Österreichische Frauenhäuser, Feminist Poetry Slam oder eine Benefiz-Veranstaltung für OBRA in Vorbereitung.
Den Startschuss zu den vielfältigen Angeboten macht am 19./20. Oktober das ERÖFFNUNGSFEST mit einer Eröffnungsshow & Konzert (PH LION), Aktionslabor & Party. »Apropos Begehren: Unterstützen Sie das Frauenvolksbegehren 2.0, die Eintragungswoche findet vom 1.–8. Oktober statt«, wirbt das Kosmos-Team im Veranstaltungskalender für Frauensolidarität.
WALTER BAIER über die Friedensbewegung der 1980er Jahre
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich den 3. Juni 1980 verbracht habe. Von der Dramatik der Ereignisse dieses Tages hatte ich – wie die meisten Menschen auf der Welt – keine Ahnung. Im nordamerikanischen Luftverteidigungskommando hatte an diesem Dienstag um zwei Uhr früh ein Computer den Anflug mehrerer hundert sowjetischer Raketen angezeigt. Als sich der Irrtum herausstellte, war bereits ein Drittel der strategischen Atomstreitkräfte im Einsatzmodus und konnte gerade noch gestoppt werden. Die Welt war am nuklearen Desaster vorbeigeschrammt.
Dabei schien es, als hätte sich das Verhältnis zwischen der USA und der Sowjetunion entspannt. Nach jahrelangen Verhandlungen hatte man 1972 vereinbart, die Potentiale, die zur mehrfachen gegenseitigen Vernichtung ausreichten, auf ein niedrigeres Niveau zu senken. Europa blieb aber
ausgeklammert, weil die USA ihre hier stationierten Waffen nicht als »strategisch« mitzählen lassen wollten. Außerdem waren die Arsenale von Frankreich und Großbritannien im Abkommen nicht erfasst. Die Sowjets nahmen dies zum Anlass einer Modernisierung ihrer Mittelstreckenraketen in Europa.
1981 war Ronald Reagan zum 40. Präsidenten der USA gewählt worden. Für ihn war die Sowjetunion ein »Reich des Bösen«, gegen das er zum weltweiten Kreuzzug aufrief. 108 Pershing-2-Raketen, die man in der BRD aufstellen wollte, von wo sie in vier Minuten Moskau erreichen konnten, und neue treffgenaue Marschflugkörper sollten einen »Enthauptungsschlag« und den auf Europa begrenzten Atomkrieg möglich machen.
In Österreich protestierten die Friedensbewegten zu dieser Zeit vor allem gegen die florierenden Waffengeschäfte der verstaatlichten Industrie. Im Sommer 1981 aber veröffentlichte eine Gruppe friedensbewegter Persönlichkeiten einen Aufruf für die UN-Abrüstungswoche im Oktober. Der Erfolg war überraschend: Innerhalb weniger Wochen wuchs die Zahl der Unterstützer_innen auf mehrere tausend an. Unter den prominentesten: Friedrich Cerha, Johanna Dohnal, Michael Köhlmeier, Friederike Mayröcker, Erika Pluhar, Margarete Schütte-Lihotzky, Peter Fleissner, Michael Häupl und Erwin Steinhauer. Zum Abschluss der Aktionswoche fanden zeitgleich in Wien und Linz die ersten größeren Friedensdemonstrationen statt, während unabhängig davon, landauf-landab, in ganz Österreich örtliche Initiativen gebildet wurden.
Parteijugend und Bewegung
Am 10. Dezember 1981 versammelten sich 150 Personen in Wien zum ersten Plenum der österreichischen Friedensbewegung, unter ihnen auch die Spitzen der Parteijungend von SPÖ und ÖVP, des Bundesjugendrings, der Gewerkschaftsjugend und der katholischen Jugendorganisationen. Einmütig beschlossen wurde, für den 15. Mai, der auch Jahrestag der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags ist, zu einer Großdemonstration aufzurufen.
Das Mitte Dezember unter sowjetischem Druck in Polen ausgerufene Kriegsrecht und das Verbot der Gewerkschaft Solidarność prägte die Debatte auf dem nächsten Plenum. Eine kleine Arbeitsgruppe, in der ich den »kommunistischen Zugang« zu vertreten hatte, einigte sich schließlich darauf, eine »demokratische Lösung der gesellschaftlichen Konflikte in Polen unter Einschluss einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung« zu fordern. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für die KPÖ.
Das Problem der Jusos, dass ihnen per Parteibeschluss eine Zusammenarbeit mit den Kommunist_innen untersagt war, blieb aber bestehen. Um die Mes alliance für die Parteioberen erträglich zu machen, setzte Josef Cap durch, den Bundesjugendring, dessen Überparteilichkeit hauptsächlich in der Ausgrenzung der kommunistischen Jugendorganisationen bestand, zu einem der offiziellen Träger der Veranstaltung zu machen. Beim letzten Vorbereitungsplenum, sechs Wochen vor dem Friedensmarsch, überraschte er die Anwesenden, indem er namens eben dieses Bundesjugendrings darauf bestand, dass bei der Abschlusskundgebung auf dem Rathausplatz ein Sprecher der Jungen ÖVP, aber kein Kommunist das Wort ergreifen sollte.
Die Empörung über diesen »groß-koalitionären« Coup war ziemlich einhellig, doch offenbarte sich in den Reaktionen auch die Ambivalenz, mit der die Kommunist_innen in der Friedensbewegung wahrgenommen wurden. Die Intensität ihres Engagements wurde zwar geschätzt, aber ideologisch bestand Misstrauen, zum Teil selbst verschuldet, weil die Partei jede Kritik an der sowjetischen Rüstungspolitik abwehrte, geradeso als wollte sie den Verdacht bestätigen, dass sie tatsächlich nur für eine einseitige Abrüstung des Westens eintrat, was nicht zutraf.
Die Demonstration am 15. Mai 1982, ein Sternmarsch von den vier großen Wiener Bahnhöfen auf den Rathausplatz, an dem 70.000 Menschen teilnahmen, wurde trotzdem zum überragenden Erfolg. ÖVP und SPÖ, die die Plattform der Friedensbewegung als »naiv«, »moskaugesteuert« und »einäugig« verketzert hatten, gratulierten sich nun gegenseitig zu dem wundervollen Ereignis, zudem sie außer Störmanöver nichts beigetragen hatten.
Der Meinungsstreit
Inzwischen rückte der November des kommenden Jahres, an dem die entscheidende Abstimmung im deutschen Bundestag stattfinden sollte, näher. Die Vertreter_innen der Oberösterreichischen Friedensbewegung drängten darauf, die Aktionen gerade darauf zu fokussieren. Im Dezember legten sie den »Linzer Appell« vor, der auf einer Konferenz in der Linzer Arbeiterkammer von Hunderten Friedensaktivist_innen aus ganz Österreich beschlossen wurde. Darin wurde von der österreichischen Regierung gefordert, »sich gegen die Stationierung von Pershing-2 und Cruise-Missiles in Europa« auszusprechen. Innerhalb von sechs Monaten wurden für den Appell 140.000 Unterschriften gesammelt, darunter auch die Bruno Kreiskys, der damit eine Forderung an die von ihm geführte Regierung unterschrieb. Österreich!
Kurz zuvor hatte ein in Graz ausgerichtetes Friedensplenum zu einer neuerlichen Großdemonstration im Herbst in Wien aufgerufen.
Zu diesem Zeitpunkt wurde die von Margit Niederhuber und Annemarie Türk koordinierte, unabhängige Initiative »Künstler für den Frieden« für den Zusammenhalt der Bewegung besonders wichtig. Am 6. November 1982 veranstaltete sie in der Wiener Stadthalle ein Großkonzert. Vor 15.000 Menschen sangen, lasen, performten und sprachen unter anderen: Dietmar Schönherr und Peter Turrini, die eine von den Künstler_innen angenommene Resolution verlasen, Erwin Steinhauer, Esther Bejerano, Konstantin Wecker, Erika Pluhar, Ludwig Hirsch, Sigi Maron, Reinhardt Sellner, André Heller und Harry Belafonte. Friedensreich Hundertwasser steuerte das Plakat bei. Im Mai 1983 fuhr ein »Zug für den Frieden« quer durch Österreich.
Indessen entwickelte sich eine interessante inhaltliche Debatte in den Kirchen. Der Weltkirchenrat hatte die Atomrüstung als unmoralisch gebrandmarkt. Die Bischöfe der USA forderten vom Präsidenten den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen, und die anglikanische Kirche verlangte von Premierministerin Thatcher eine einseitige Abrüstung der britischen Nukleararsenale.
In Österreich waren es die katholischen Jugendorganisationen, die die Debatte vorantrieben. Ihre Grundhaltung war pazifistisch, ihre Vertreter_innen, die keine Parteikarrieren vor Augen hatten, konnten zur Verteidigung der Aktionsgemeinschaft mit den Kommunist_innen ein im wahrsten Sinn entwaffnendes Argument anführen: die im Evangelium geforderte »Feindesliebe«.
Allerdings testeten auch sie die Bündnisfähigkeit der Kommunist_innen, indem sie eine Solidarisierung der Friedensbewegung mit der von den Behörden unterdrückten, unabhängigen, von Christ_innen getragenen Friedensbewegung der DDR verlangten. Eine dementsprechende Resolution wurde auf dem Friedensplenum durch eine Stimmenthaltung der meisten kommunistischen Teilnehmer_innen möglich.
Innerhalb der Kirchenhierarchie waren die Meinungen geteilt. Während der Linzer Bischof Aichern den Linzer Appell unterzeichnet hatte, sah sich der Klagenfurter Bischof Kapellari veranlasst, öffentlich zu erklären, dass eine »Volksfront mit den Kommunisten« niemals geduldet würde.
Anfang September, sechs Wochen vor der für 22. Oktober anberaumten Großdemonstration kam es zum Showdown mit der ÖVP. Wochenlang hatten die Medien einen Untergang des Abendlands für den Fall prophezeit, dass ein Kommunist bei der Abschlusskundgebung das Wort ergreifen würde. Der Koordinationsausschuss hatte mich aber gerade dafür vorgeschlagen. Othmar Karas, dem Chef der Jungen ÖVP fiel zu, das Abendland zu retten und sich selbst als Redner zu empfehlen. Er wurde mit 177 Stimmen der 200 Anwesenden abgelehnt und ich mit derselben Stimmenzahl gewählt. Mediale Schelte gab es nach dieser Entscheidung vor allem für die Katholische Jugend, deren Bundessekretärin, Elisabeth Aichberger, in der rechten Presse als unwürdig bezeichnet wurde, dem drei Tage später zu einem Besuch in Österreich eintreffenden Papst Johannes Paul II einen Strauß Blumen zu überreichen.
Trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Dauererregung wurde der Friedensmarsch am 22. Oktober 1983 mit seinen 100.000 Teilnehmer_innen zu einem politischen Großereignis.
Schlussbemerkung
Am selben Tag demonstrierten in Europas Hauptstädten Millionen Menschen. Nach einer Gallup-Umfrage waren im November 1983 67 Prozent aller wahlberechtigten Bundesbürger_innen, 68 Prozent der Niederländer_innen, 58 Prozent der Brit_innen und 54 Prozent der Italiener_innen gegen die Raketen. Trotzdem beschloss der Deutsche Bundestag die Aufstellung. Damit war der Höhepunkt der Bewegung überschritten, auch in Österreich. Daran vermochten auch teilnehmer_innenstarke und bemerkenswerte Aktionen in den folgenden beiden Jahren nichts zu ändern.
Eigentlich waren wir uns alle nicht bewusst, wie tief der Einschnitt war, den das Jahr 1983 markierte. In Afghanistan hatte sich die Sowjetunion in einen aussichtslosen, unpopulären Krieg verwickelt, der Aufstand der polnischen Arbeiter_ innen ließ sich nicht mehr unterdrücken und signalisierte das Ende der kommunistischen Regierungen Osteuropas. Reagans Plan, die Sowjetunion durch eine neue kostspielige Runde des Wettrüstens »totzurüsten«, war aufgegangen.
Die Friedensbewegung im Westen war zu schwach, um den Ereignissen eine andere Richtung zu geben. Ob die von Gorbatschow 1988 in seiner Rede vor der UNO vorgestellte Wende in der sowjetischen Außenpolitik etwas ändern hätte können, wäre sie früher erfolgt, muss hypothetisch bleiben. Österreich hätte in einem solchen internationalen Ringen um eine neue Friedenspolitik sicher keine Hauptrolle gespielt. Seine Friedensbewegung hätte trotzdem eine gute Figur gemacht.
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Der Atomtod wird nicht nach dem Parteibuch fragen
»Es ist nicht einfach die Angst um das eigene bisschen Leben, das uns heute auf die Straße treibt, sondern es ist die tief empfundene Verantwortlichkeit für das Schicksal unserer Gemeinschaft und des Planeten, auf dem wir leben.
Die Friedensbewegung ist ebenso wenig einseitig wie die Stationierung der neuen Raketen eine Nachrüstung ist. Die Friedensbewegung tritt für die Abrüstung in West und Ost ein.
Aber, so möchte ich fragen: Kann man die von der atomaren Gefahr Bedrohten, die Beunruhigten und Besorgten in Glaubwürdige und Unglaubwürdige einteilen? Ist die Angst, die ein Konservativer um sein Leben empfindet, glaubhafter und berücksichtigungswürdiger als die Angst eines Sozialisten oder Kommunisten?«
Aus der Rede von Walter Baier (links) am 22. Oktober 1983
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Was die Arbeitsmarktpolitik betrifft, sind ÖVP und FPÖ ohne gröbere Probleme zusammen. Das verwundert aus linker Perspektive nicht, interessant ist jedoch das »Wie?«. Für die Volksstimme analysiert der Soziologe ROLAND ATZMÜLLER von der Johannes Kepler Universität Linz, wie die Umgestaltung der Arbeitsmarktpolitik unter Türkis-Blau funktioniert.
… was zusammengehört
»Die Wirtschaft kann die immer zahlreicheren offenen Stellen nicht aus dem im Inland vorhandenen Arbeitskräftepotenzial besetzen«, so die Diagnose im türkis-blauen Regierungsprogramm zur jüngsten Entwicklung am österreichischen Arbeitsmarkt. Diese ist seit 2017 von einem Aufschwung geprägt, der gegenwärtig zu einer Reduktion der Arbeitslosigkeit führt. Die Regierung betont aber, dass sich der Aufschwung bislang nicht im gleichen Maß auf die Arbeitslosenquote ausgewirkt hat, er also noch nicht vollständig bei der Bevölkerung angekommen sei. Für Tükis-Blau ist klar, dass dies nicht daran liegt, dass das Kapital die Flexibilitäten der österreichischen Arbeitsverhältnisse ausnutzt (zum Beispiel durch Ausdehnung der Mehrarbeit und Überstunden), oder die fortgesetzte Sparpolitik auf Kosten der Beschäftigung geht. Vielmehr sieht sie die Ursache darin, dass »noch immer Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa in den Arbeitsmarkt drängen«. Der eingangs zitierte Satz hat es also in sich. Macht er doch deutlich, dass auch in der Arbeitsmarktpolitik die so genannte Wirtschaftspartei ÖVP und die selbst ernannte »soziale Heimatpartei« FPÖ ohne gröbere Probleme zusammenkommen. Das sollte aus linker Perspektive zwar nicht weiter verwundern – das tut es nur bei liberalen KommentatorInnen in den bürgerlichen Medien – interessant ist aber das »Wie?«.
Sicherstellung passförmiger Arbeitskräfte für das Kapital
Einerseits übernimmt das Regierungsprogramm die FPÖ-Position, wonach an der gestiegenen Arbeitslosigkeit die Öffnung der Arbeitsmärkte in der EU und die in das Sozialsystem drängenden Geflüchteten schuld seien. Andererseits liegt der Teufel im Detail der Feststellung, dass die Wirtschaft die offenen Stellen nicht mit Arbeitssuchenden aus dem Inland besetzen kann.
Damit macht die Regierung die bisherige Regulierung der Arbeitsmärkte und Beschäftigungsverhältnisse zum Ziel ihrer Politik – bei der Durchsetzung des 12-Stunden-Tages hat sie ja bereits gezeigt, woher der Wind weht. Sie nimmt daher die Sozialversicherung und insbesondere die Arbeitslosenversicherung und damit auch das AMS ins Visier. Die Kosten für diese Systeme (Arbeitslosenversicherung, Kranken- und Pensionsversicherung), die den Arbeitskräften immer noch einen gewissen Schutz vor der kapitalistischen Konkurrenz bieten, müssen aus Sicht der Regierung runter – einerseits. Andererseits sollen sie so umgebaut werden, dass die Verfügbarkeit von passförmigen Arbeitskräften für das Kapital sichergestellt wird.
Denn dass die Wirtschaft die offenen Stellen angeblich gegenwärtig nicht mit Arbeitskräften aus dem Inland besetzen kann, liegt nach Ansicht von ÖVP und FPÖ auch an den ineffizienten Managementstrukturen des AMS. Das österreichische System der Sozialleistungen aus der Arbeitslosenversicherung würde außerdem Missbrauch ermöglichen und zu wenige Anreize setzen, dass Arbeitslose Beschäftigungsangebote auch annehmen, wie das im Jargon moderner Arbeitsmarktpolitik heißt.
Arbeitslosenversicherung und Klassenkampf
Die neue Regierung hat also genau erkannt, dass die Arbeitsmarktpolitik ein zentrales Feld des Klassenkampfes ist. Vereinfacht gesprochen wird durch die Sozialversicherung ein Teil des Lohnes vergesellschaftet, was übrigens nicht vom Staat, sondern der frühen ArbeiterInnenbewegung erfunden wurde und heute als Lohnnebenkosten ideologisch vernebelt wird. Durch die Institutionalisierung von Solidarität setzte sich der Kollektivarbeiter gegen den individualisierten Produktionsfaktor Arbeit, wie er in der liberalen Ökonomie vorgesehen ist, durch. Dieser rang dem Kapital und dem Staat die finanzielle Absicherung bestimmter Formen der zumindest zeitweiligen Nichtteilnahme an Lohnarbeit ab.
Karl Marx zeigte im Kapital, dass die ArbeiterInnenklasse mit dem Lohn jene Güter finanzieren muss, die für ihr Überleben notwendig sind. Dieses Überleben gilt es aber auch bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter usw. zu sichern. Das gelingt durch die Vergesellschaftung eines Teils des Lohnes, was zugleich aus Arbeitslosen, Kranken und Alten (institutionell) Lohnabhängige machte. Der Kampf um höhere Löhne wurde daher zu einem Kampf um die Höhe der Mittel für Sozialleistungen, sodass hier eine Vereinigung verschiedener Interessen möglich wurde. So werden bis heute Arbeitslosengeld- und NotstandshilfebezieherInnen in Österreich Versicherungszeiten für die Pension angerechnet.
Zentrales Kampffeld: Arbeitsmärkte
Doch dieser Erfolg der ArbeiterInnenklasse war immer auch widersprüchlich, da er aus Perspektive des Kapitals eine Rationalisierung der Arbeitsmärkte und der Vermittlung von Arbeitskräften erforderte. Staat und Kapital konnten nicht akzeptieren, dass die Gewerkschaften und ArbeiterInnenbewegung die Vermittlung von Arbeitskräften und den Zugang zu Berufen oder Branchen kontrollierten, sodass es zur Einführung staatlicher Arbeitsvermittlungen kam. Damit wurde die Frage der Passförmigkeit der ArbeiterInnen und wie diese hergestellt oder aufrecht erhalten werden kann, zum Gegenstand des Klassenkampfes.
Es geht dabei etwa darum, die Arbeitsdisziplin durch Sanktionen für »Arbeitsunwillige« zu erhalten; darum, mögliche Beschäftigte ausreichend zu qualifizieren; aber auch darum, Arbeitskräfte aufgrund gewisser als natürlich angenommener Eigenschaften in bestimmte Tätigkeiten (zum Beispiel so genannte »Frauenberufe«) zu kanalisieren. Außerdem geht es darum, Personen, die als dauerhaft nicht integrierbar in den Arbeitsmarkt gelten, aus diesem und dem Sozialsystem zu verdrängen. Diese Tendenzen lassen sich daher mit sexistischen und rassistischen Vorstellungen leicht verbinden. Die Vermittlung passförmiger Arbeitskräfte wird daher nicht allein über die Höhe die Arbeitslosengeldansprüche gesteuert, sondern auch über die Fähigkeiten und Einstellungen der Arbeitskräfte wie jüngst durch »Aktivierung« und »Workfare« in den Vordergrund trat.
Die letztgenannten Aufgaben werden aus Perspektive der Regierung vom AMS aber nicht ausreichend erfüllt – und zwar, weil dem die Reste der von der ArbeiterInnenklasse durchgesetzten Einschränkung des Kapitals entgegenstehen. Drei Dimensionen der geplanten Veränderungen lassen sich daher gegenwärtig unterscheiden. Diese betreffen erstens die Organisationsstruktur des AMS, zweitens die Erhöhung des Drucks auf die Arbeitslosen und drittens die institutionelle Verfestigung einer Segmentierung der Arbeitslosen, die Teile letzterer aktiv vom Eintritt in eine Lohnarbeit in Österreich ausschließen will.
Erstens: Umbau der AMS-Struktur
Die türkis-blaue Regierung will unter dem Vorwand mangelnder Effizienz und inadäquater Managementstrukturen das AMS umkrempeln. Wie ist noch nicht klar, es scheint aber naheliegend, dass der Einfluss der Sozialpartner, also vor allem der Gewerkschaften zurückgedrängt werden soll. VertreterInnen von Gewerkschaften und Arbeiterkammer verfügen gegenwärtig über ein Drittel Stimmanteile im Verwaltungsrat des AMS. Die Pläne werden einerseits in der Manier neoliberaler Bürokratiekritik formuliert. Die Aktivitäten des AMS werden als wenig effizient und schwerfällig dargestellt. Dies verbindet sich einerseits mit Angriffen auf den angeblich zu verständnisvollen Umgang mit Langzeitarbeitslosen, die aus öffentlichen Mittel durchgetragen würden. Andererseits werden Geflüchtete und andere Zuwanderer – insbesondere muslimischer Religion – und der Umgang mit diesen Gruppen als Problem inadäquater Abläufe im AMS dargestellt.
Zweitens: Steigender Druck auf Arbeitslose
Zweitens plant die Regierung, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen. Dazu gehört erstens eine forcierte Anwendung der gesetzlich möglichen Sanktionen, zu der die Dienststellen des AMS bereits angewiesen wurden. Insbesondere soll der §10 des ALVG, der einen Verlust des Arbeitslosengeldes von mindestens sechs Wochen vorsieht und die Verweigerung oder Vereitelung einer Arbeitsaufnahme sanktioniert, möglichst rigoros angewendet werden. Es ist zu erwarten, dass die Regierung spätestens im nächsten Jahr, wenn die diesjährigen Zahlen mit den Jahren davor verglichen werden können, den Anstieg der Sperren für ihre Agenda breittreten wird. Man kann sich die Argumente leicht vorstellen. Endlich werde im AMS mit dem nachsichtigen Umgang mit Arbeitslosen aufgeräumt. Oder: Die Zunahme an Sanktionen aufgrund von Arbeitsverweigerung zeige, dass unter den Zuwanderern viele arbeitsscheue Personen zu finden sind. Die Vorhersehbarkeit dieser Argumente wäre zum Lachen, stellte es für die betroffenen Personen keine existenzielle Bedrohung dar.
Weitere Umbauaktivitäten, die im Regierungsprogramm angekündigt wurden, müssen zwar erst in Gesetzesform gegossen werden. Doch es ist nichts Gutes zu erwarten. So soll das »Arbeitslosengeld neu« in Zukunft degressiv gestaffelt werden. Die Begründung dafür ist, dass sich die Arbeitsaufnahmen, wenn Arbeitslose in eine andere Stufe im Transferleistungssystem eintreten, erhöhen würden. Zu erwarten ist, dass in den ersten Monaten der Arbeitslosigkeit damit sogar eine leichte Erhöhung der Nettoersatzrate für das Arbeitslosengeld, das im internationalen Vergleich sehr niedrig ist, verknüpft sein wird. Da eine derartige Maßnahme aber zumindest kostenneutral ausfallen muss, sind massive Einschnitte bei längerfristig arbeitslosen Personen zu erwarten.
Das degressive Arbeitslosengeld ist nämlich mit der geplanten Abschaffung der Notstandshilfe, die als Versicherungsleistung gegenwärtig theoretisch unbegrenzt lange ausbezahlt werden kann, und der Zusammenführung dieser Leistung mit der Mindestsicherung verbunden. Da bei der Mindestsicherung eine Bindung an das Vermögen der BezieherInnen gegeben ist, ist die Nähe dieser Reformen zu Hartz IV mehr als offensichtlich. Auch wenn noch zur Diskussion steht, inwiefern Langzeitarbeitslose hier erfasst werden sollen. Zwar erreichen gegenwärtig etwa zwei Drittel der NotstandshilfebezieherInnen ein Leistungsniveau, das unter der Mindestsicherung liegt, sodass sie auf diese aufstocken könn(t)en. Doch die geplanten Veränderungen bei der Mindestsicherung (Deckelung und Kürzung der Leistungen) zeigen, dass für Langzeitarbeitslose insgesamt massive Kürzungen zu erwarten sind.
Drittens: Weitere Segmentierung der Arbeitslosen
Hier zeigt sich, wie breit der Konsens zwischen Wirtschaftspartei und »sozialer Heimatpartei« ist. Diese Maßnahmen sollen verhindern, dass »Durchschummler« nicht mehr von der Gesellschaft »durchgetragen« würden und der Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen, wie regierungsnahe Experten wie Wolfgang Mazal argumentieren, erhöht wird. Gleichzeitig soll der Zuwanderung in die Sozialsysteme durch Geflüchtete aber auch von Personen aus dem EU-Ausland, die erst nach fünf Jahren Erwerbstätigkeit in Österreich Zugang zu diesen Leistungen bekommen sollen, ein Riegel vorgeschoben werden.
Dass die neoliberale und konservative Arbeitsmarktpolitik in ihrer Koalition mit der äußeren Rechten ihren universalistischen Anspruch aufgibt, alle in das Marktgeschehen zu zwingen, wird auch in den Kürzungen der aktiven/aktivierenden Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik sichtbar. So wird von der neuen Regierung die Aktion 20.000, die über 50-jährigen Langzeitarbeitslosen eine dauerhafte Beschäftigung auf dem sogenannten 2. Arbeitsmarkt ermöglichen sollte, abgeschafft. Außerdem werden ab 2019 die Sprachkurse und das Integrationsjahr für Geflüchtete gekürzt und können Unternehmen bei der Einstellung von Asylberechtigten nicht mehr die Eingliederungsbeihilfe, durch die das AMS einen Teil der Lohnkosten übernimmt, lukrieren. Die Kürzungen der Lehrlingsentschädigung in den Überbetrieblichen Lehrwerkstätten forciert die Spaltung zwischen Jugendlichen.
Kritik an AMS verbindet sich mit Angriff auf »Integrationsindustrie«
Die Kritik an der ineffizienten Organisationsstruktur des AMS verbindet sich daher mit dem Angriff auf die so genannte Integrationsindustrie, die als Spielwiese rot-grüner Gutmenschen angesehen wird, die die Betreuung von Arbeitslosen mit Sinnloskursen – was von rechter Seite was anderes bedeutet, als die linke Kritik damit jemals gemeint hat – zum Selbstzweck werden lässt, um für sich und das eigene Milieu Jobs zu schaffen. Das passt gut zu den Interessen der ÖVP nahen Wirtschaftsvertreter, die schon immer gegen experimentelle Arbeitsmarktpolitik und die Finanzierung von zivilgesellschaftlichen und gemeinnützigen oder gar politisch-widerständigen Vereinen auftraten.
Da die arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten schon lange nicht mehr experimentell sind, sondern den neoliberalen Zielsetzungen unterworfen und professionalisiert wurden, wird hier schwer Widerstand organisierbar sein, da wohl von den betroffenen Arbeitslosen aufgrund ihrer Erfahrungen mit der gegenwärtigen Situation wenig Mobilisierungsbereitschaft zu erwarten ist.
Bleibt als Fazit
Die neoliberale Kürzung von Leistungen und die Disziplinierung der Arbeitslosen verbinden sich im Programm der Regierung mit der rassistischen und auch sexistischen Strukturierung der Arbeitsmarktpolitik und der aktiven Abdrängung und Verdrängung bestimmter Gruppen von Arbeitslosen in die Mindestsicherung oder überhaupt aus Österreich hinaus. Die Segmentierung der Arbeitslosen und die aktive Schaffung einer »unproduktiven« Schicht, bindet die Teilhabe an dieser Gesellschaft an Leistungsbereitschaft und kultureller und sozialer Konformität. Sozialpolitik wird renationalisiert, ihre Bedeutung für die Solidarität der ArbeiterInnenklasse wird weiter unterhöhlt. Der Eintritt der FPÖ in die Regierung zeigt die Konsequenz der neoliberalen Individualisierung der Arbeitsmarktpolitik durch Aktivierung und Workfare, die in Ethnisierung und Kulturalisierung umschlägt, – was ihre wechselseitige Legitimation steigert.
Ein Blick auf die großen Krisen des Kapitalismus, deren Bewältigung immer zu Lasten der breiten Bevölkerung versucht wurde, legt zwar die Notwendigkeit von politischen Regulierungen nahe, hält aber an der Notwendigkeit eines System Changes fest.
Nach dem marxistischen Verständnis von Wirtschaft gehören Krisen zum Kapitalismus wie das Amen zum Gebet. Dafür ist die so genannte Anarchie der kapitalistischen Produktion verantwortlich, die einem Unternehmen egoistische Entscheidungen zur Gewinnmaximierung erlaubt, ohne auf die anderen Unternehmen oder die Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Bekannt wurde die Tulpenkrise in den Niederlanden zwischen 1634–1637. Im 19. Jahrhundert brachen die Wachstumsraten alle sieben bis zehn Jahre ein. Während diese Krisen eher lokale Auswirkungen hatten, kam es 1857 zur ersten Weltwirtschaftskrise, die ihren Ausgang von New York City nahm. Als dort eine Bank ihre Zahlungen einstellte, kam es zu einer Kettenreaktion von Zusammenbrüchen, die sich rasch über die gesamte Welt ausbreiteten. Die Finanzzentren Europas und Amerikas waren besonders stark betroffen.
In den 1870er-Jahren kam der nächste Krisenschub: Das Ende des Booms der Gründerzeit in Österreich und Deutschland, der zeitgleich mit einer US-amerikanischen Wirtschaftskrise erfolgte, führte zu einer langdauernden Stagnation in allen entwickelten Ländern der Erde.
Am Freitag, dem 25. Oktober 1929, der als »schwarzer Freitag« in die Geschichte einging, brachen die Börsenkurse an der New Yorker Wall Street zusammen und lösten in allen wichtigen Industrienationen eine Kette von Unternehmenszusammenbrüchen, Massenarbeitslosigkeit und Preisverfall aus. Es begann die »große Depression«, die erst nach vielen Jahren ein Ende fand. Aber immer wieder wurden die Krisen durch Wachstumsperioden abgelöst, die maximal 20 Jahre andauerten, oder – weniger günstig – von längeren Stagnationsperioden mit eher bescheidenen Wachstumsraten. Manche der Krisen brachten in ihrem Gefolge verstärkten Widerstand gegen das kapitalistische System, andere dagegen führten zu einer Modifikation des Kapitalismus selbst, aber alle verschlechterten die Lebensqualität weiter Bevölkerungskreise und bürdeten der Bevölkerung neue Lasten auf. Auf der politischen Ebene waren und sind Nationalismus und Rechtsentwicklung häufige Folgen.
Nur wenige ÖkonomInnen sahen voraus, dass schon bald nach der Jahrtausendwende eine weitere weltweite Krise im Ausmaß der »großen Depression« den Globus erschüttern würde. Ausnahmen bestätigten allerdings die Regel: Stephan Schulmeister, aber auch der »paläoliberale«1 Universitätsprofessor Erich Streissler von der Wiener Universität warnten schon einige Jahre vor dem großen Crash vor einem Zusammenbruch der US-Finanzmärkte, ohne den genauen Zeitpunkt vorhersagen zu können. Im Kreis der Fachleute war dennoch die Überraschung groß, als die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 tatsächlich Bankrott machte: Diese große Bank hatte einen Berg dubioser Wertpapiere (CDS – Credit Default Swaps) angeboten, der ihr Eigenkapital weit überstieg. Die Kombinationspapiere waren von Ratingagenturen als sehr gut eingestuft worden. Sie wurden von den Banken der ganzen Welt als sichere Anlage gekauft. Als einzelne Kunden begannen, ihre Einlagen abzuziehen, konnte sich Lehman nicht mehr selbst finanzieren und musste schließen. Das vorher Undenkbare war Wirklichkeit geworden. Die Finanzkrise zeigte aber erst in den folgenden Monaten ihr ganzes Ausmaß, als immer mehr Finanzinstitutionen zu schwanken begannen. Mittelgroße Banken wurden sogar verstaatlicht, in den USA ein echter Skandal, vier kleinere (Bear Stearns, Washington Mutual, Wachovia und Countrywide) verloren ihre eigenständige Existenz. Manche sprachen gar vom Ende des US-Kapitalismus.
Die Krise in Europa
Das Überschwappen der Krise auf Europa führte in der EU zu einem Rückgang des Brutto-Inlandsprodukts. Es erreichte wegen der dauerhaft niedrig bleibenden Investitionen erst 2016 wieder das Niveau des Vorkrisenjahrs 2007. Manche sprechen von einem »verlorenen Jahrzehnt«. Durch die Entwertung von Wertpapieren, Immobilien und Rohstoffen schrumpften die Vermögenswerte der europäischen Banken und damit ihr Eigenkapital.
Anders als beim Börsenkrach 1929 waren die Regierungen bereit, ihre großen Finanzinstitutionen zu retten. In Großbritannien brachte die eigene Notenbank die nötige Liquidität auf, in Deutschland und Österreich finanzierte sich der Staat am Anleihenmarkt zu niedrigen Zinssätzen. In den südlichen Mitgliedsländern der EU war die Beschaffung von zusätzlichem Geld viel schwieriger. Als Mitglieder der europäischen Währungsunion stand ihnen keine eigene Notenbank zur Verfügung (die Europäische Zentralbank darf keine Euros ausgeben). Wegen der Wetten von großen Spekulanten auf den Bankrott von einzelnen stark verschuldeten Euroländern waren überdies die Zinsen auf den Anleihemärkten gestiegen. Eine Refinanzierung der Schulden wurde vor allem für Griechenland praktisch unmöglich. Die von den Banken Südeuropas gehaltenen Anleihen verloren an Wert, sie brauchten mehr Staatshilfe, wodurch wieder die Staatsschulden wuchsen und die Anleihekurse weiter sanken – ein Teufelskreis, von dem 2012 auch Spanien und Italien erfasst wurden.
Da es in Euroland durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Lissabon bisher verboten war, dass die Europäische Zentralbank oder die Mitgliedsländer einander helfen, bedurfte es 2012 einer Ankündigung des EZB-Chefs Draghi, dass der Euro mit allen Mitteln verteidigt werden würde. Dadurch sanken die Zinsen für Staatsanleihen. Auch die Länder Südeuropas (mit Ausnahme Griechenlands) konnten sich so refinanzieren. Um einen Preisverfall zu verhindern und die Liquidität zu steigern, kaufte die EZB überdies von März 2015 bis Juli 2018 Staatsanleihen der Mitgliedsstaaten im Wert von zweitausendfünfhundert Milliarden Euro (!), wodurch sie zum größten Gläubiger der Mitgliedsländer wurde. Erst mit Ende 2019 sollen keine weiteren Käufe getätigt werden.
Griechenland war von diesem Programm ausgeschlossen. Es wurde unter den Europäischen Rettungsschirm gestellt, womit äußerst harte Sparmaßnahmen verbunden waren, die zu einem sozialen Desaster führten. Die Eurogruppe, ein informelles, demokratisch nicht abgesichertes Gremium, entsandte in kolonialer Manier Vertreter der Troika, die aus der Weltbank, dem Interntionalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission bestand, nach Griechenland, die darauf achteten, dass alle Auflagen exakt eingehalten werden. Nur wenn diese erfüllt würden, könnten Milliardenkredite fließen, um den Staatsbankrott abzuwenden, der durch eine Überschuldung des Staatshausshalts drohte. Die Regierung Tsipras willigte letztlich in diese erpresserischen Auflagen ein. Das katastrophale Ergebnis: Ein Rückgang des BIP zwischen 2008 und 2016 um 26,2 Prozent, die Nachfrage nach Konsumgütern um 24,4 Prozent. Welche menschlichen Tragödien sich dahinter verbergen, lassen diese trockenen Zahlen kaum ahnen.
Zehn Jahre später
Zehn Jahre später ist alles anders. Scheinbar keine Rede mehr von Problemen mit dem Finanzkapital. Der Nettoumsatz der global agierenden Investmentbanken lag 2017 bei etwa 85 Milliarden Dollar und damit höher als die 80 Mrd. im Jahr 2006 und nur unwesentlich weniger als die 90 Mrd. im Vorkrisenjahr 2007. Die fünf größten Geschäftsbanken der USA sind die gleichen geblieben wie vor elf Jahren. Die Bereinigung der Banken hatte überraschender Weise überall das gleiche Resultat: Die größten Banken wurden noch größer, der Anteil der fünf größten Banken des Sektors wuchs. Allerdings hat sich der Bankenanteil an den 500 Unternehmen, die im Standard & Poors Index notieren, von 10 auf 6 Prozent reduziert.
Die renommierte Wirtschaftszeitschrift Economist stellt zum zehnjährigen Jahrestag des Bankenkrachs fest, dass sich »die Wolken verziehen«. Es ließen sich wieder »maßvolle Gewinne machen«, die Wirtschaft expandiere, die Qualität bei Krediten wäre gut, die regulierenden Eingriffe gingen zurück. Also alles wieder wie vor der Krise? Man könnte es beinahe annehmen, denn an die Topmanager werden nach wie vor Spitzengehälter bezahlt, an den Chef von AIG, Brian Duperreault, 43 Millionen Dollar, an James Dimon von JPMorgan »nur« magere 29,5 Millionen Dollar, während sich Lloyd Blankfein von Goldman Sachs mit 24 Millionen Dollar, und Brian Moynihan von der Bank of Amerika mit 23 Millionen Dollar begnügen.
Die Beharrlichkeit der Finanzwelt zeigt sich aber am stärksten bei den Immobilienkrediten. Immerhin waren in den USA neun Millionen Familien im Zuge der Krise gezwungen worden, ihre Wohnstätten zu verlassen. Oft waren ihnen wieder besseres Wissen uneinbringliche Hypothekarkredite aufgeschwatzt worden. Bis heute sind die beiden dafür mitverantwortlichen Unternehmen, Fannie Mae und Freddie Mac, die nach ihrer Verstaatlichung kurz vor dem Fall von Lehman abgewickelt, privatisiert oder aufgelöst hätten werden sollen, in ihrem fragwürdigen Geschäft tätig.
Ist nach der Krise vor der Krise?
Obwohl sowohl die USA als auch die EU die Regulierung des Bankensektors verstärkten und eine Erhöhung des Eigenkapitals vorschrieben, ist das Risiko einer weiteren Krise nicht gebannt. Zwar ist das Kernkapital, das die Banken zur Eigenfinanzierung verwenden, in der Eurozone um rund zwei Drittel (von 8,8 % auf 14,7 %), in den USA um rund ein Drittel (von 9,8 % auf 12,9 %) gewachsen, aber die USA schleppen einen Rucksack von Staatsschulden in der Höhe von »21 Billionen Dollar mit, durch die Steuerreform der Trump-Regierung steigt die Verschuldung um eine weitere Billion Dollar pro Jahr an. Das Haushaltsdefizit liegt laut IWF-Prognosen in den kommenden drei Jahren bei fünf Prozent der Wirtschaftsleistung, die staatliche Schuldenquote im Jahr 2023 voraussichtlich bei 117 Prozent. Stärker verschuldet sind dann nur noch Japan (250 %) und Griechenland (165 %), selbst Italien (116 %) wird von den USA überholt«.2 In Deutschland glauben 61 Prozent, dass eine Finanzkrise die größte Bedrohung ihres Wohlstands ist. Immerhin denkt ein wachsender Teil der Bevölkerung in die richtige Richtung: »Eine gar nicht so kleine Minderheit von 15 Prozent stimmt der traditionellen marxistischen Einschätzung zu, das kapitalistische Eigentum sei Quelle der Ausbeutung und der Entfremdung der Arbeiter.«3 Hier kann ich mich anschließen: Obwohl eine verstärkte Regulierung des Finanzkapitals gegenüber dem Realkapital nötig ist – wie Stephan Schulmeister nie müde wird zu betonen, muss letztlich das kapitalistische System durch eine bessere Alternative ersetzt werden.
1 So bezeichnete er sich selbst: alt-liberal, nicht neoliberal
2 Business No 2 2018: 21.
3 https://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5440336/ Kommt-eine-neue-Finanzkrise
Beinahe hätte der marxistische Wissenschaftler und Aktivist KEREM SCHAMBERGER nicht einreisen dürfen. An der Grenze zwischen Österreich und Deutschland zwang ihn die Polizei aus dem Zug zu steigen und detailliert über seine Pläne in Österreich zu berichten. RAINER HACKAUF hat Schamberger zur Gefängnissituation in der Türkei befragt.
Mit Max Zirngast sitzt gerade ein Journalist und Blogger aus Österreich in der Türkei im Gefängnis. Die genauen Vorwürfe sind noch unklar. Kennst du Zirngast?
KEREM SCHAMBERGER: Ich kenne ihn, wir sind via Facebook in Kontakt. Er schreibt für das lesenswerte re:volt Magazin und kennt sich auch in der Türkei besser aus als ich, da er in Ankara gelebt hat. Die Inhaftierung war zugleich ein Schock für mich, aber auch, so bitter das klingt, Gewohnheit. Schließlich sind viele meiner türkischen oder kurdischen Bekannten schon festgenommen worden. Das Besondere an der Verhaftung von Max ist, die Politik der Geiselnahme durch Erdoğan weitet sich aus. Nach Deutschen wie Deniz Yücel hat es nun auch einen Österreicher getroffen. Wir werden sehen, wie sich die österreichische Rechtsregierung nun verhält.
Die Repression in der Türkei gegen linke und kurdische AktivistInnen ist stark. Wie hat sich die Situation seit dem Putschversuch verändert?
KEREM SCHAMBERGER: Das neue Machtkonzept der AKP unter Erdoğan besteht aus einer gezielten gesellschaftlichen Spaltung. Auf der einen stehen die TerroristInnen – also die türkische Linke, Kurden und Demokratiebewegung –, auf der anderen Seite stehen in dieser Logik alle, die Erdoğan unterstützen. Der Angriffskrieg auf Afrin von Anfang des Jahres ist hier einzuordnen, ebenso wie die Verhaftung streikenden Bauarbeiter in den letzten Tagen. So wurden 400 Bauarbeiter des dritten Istanbuler Flughafens in Gewahrsam genommen, 24 davon mittlerweile in dauerhafte Untersuchungshaft. Dazu muss man sagen, dass diese Bauarbeiter Kurden sind, da Kurden auch einen Gutteil des proletarischen Teils der Bevölkerung stellen. Hier spielt also auch eine Klassenfrage mit hinein.
Von welcher Größenordung reden wir da?
KEREM SCHAMBERGER: Die Anzahl linker, politischer Gefangener war in der Türkei im-mer schon hoch. Diese hat sich jedoch seit Beginn der AKP-Herrschaft, vor allem aber seit dem Abbruch des Friedensprozesses im Sommer 2015 vervielfacht. Insgesamt gibt es in der Türkei 390 Gefängnisse, 40 weitere sollen bis Jahresende eröffnet werden und noch weitere 100 werden derzeit gebaut. Darin sind rund 250.000 Menschen inhaftiert.
Rund 10.000 AnhängerInnen der HDP, also der Demokratischen Partei der Völker, wurden seitdem inhaftiert. Der Vorsitzende Selahattin Demirtaş sitzt seit zwei Jahren im Hochsicherheitsgefängnis. Weitere 10.000 sitzen wegen echter oder angeblicher PKK-Mitgliedschaft oder anderen Aktivitäten für die kurdische Freiheitsbewegung im Gefängnis. Über 34.000 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung und 1.270 wegen IS-Mitgliedschaft. Auch diese Zahlen sprechen für sich. Tausende der Inhaftierten sind übrigens Studierende, die oft wegen ihren politischen Aktivitäten auf der Uni eingesperrt wurden.
Türkische Gefängnis sind berüchtigt. Was dringt in Bezug auf die Haftbedingungen nach außen?
KEREM SCHAMBERGER: Die türkischen Gefängnisse sind extrem überbelegt. Die Haftbedingungen sind damit sehr dramatisch. Es gibt sehr viele erkrankte Gefangene, lebenswichtige medizinische Behandlungen werden oft verweigert. Viele verlassen mit chronischen Erkrankungen das Gefängnis auf Grund der katastrophalen Haftbedingungen. Und erst heute wurde bekannt, dass über 750 Kleinkinder zusammen mit ihren Müttern eingesperrt sind.
Darüber hinaus mehren sich die Berichte von Folter in Gefängnissen. Das was also in der Türkei schon überwunden geglaubt war, mehrt sich wieder. Vor allem bei Protesten in den Gefängnissen für besseres Essen oder Haftbedingungen wird seitens der Wärter sehr schnell zu Gewalt gegriffen.
Der Mitgründer der Kurdischen Arbeiterpartei, Abdullah Öcalan, befindet sich seit knapp 20 Jahren im Gefängnis. Das hat seiner Popularität keinen Abbruch getan, hat er doch einige Bücher aus dem Gefängnis heraus veröffentlicht. Was spielt er für eine Rolle?
KEREM SCHAMBERGER: Er ist der Schlüssel für die kurdische Frage in der Türkei. Und meiner Einschätzung nach ist das nicht nur eine kurdische Frage, sondern eine Frage der Demokratie. Die Demokratisierung der Türkei muss Hand in Hand mit einer Föderalisierung der Türkei gehen, also weg von einem Zentralstaat hin zu Bundesländern oder Kantonen mit eigenen Kompetenzen wie in Deutschland oder der Schweiz. Damit ist das keine kurdische Frage alleine, da die Türkei ja aus sehr vielen Ethnien, religiösen und kulturellen Gruppen besteht.
Vorschläge für so eine Dezentralisierung weg von Ankara kamen wiederholt aus İm-ralı, der Gefängnisinsel auf der Abdullah Öcalan sitzt. Seine Rolle ist mittlerweile also mehr die eines Vordenkers der Demokratisierung der Türkei und eigentlich des ganzen Nahen Ostens. Der Aufbau von selbstverwalteten Strukturen in Rojava beruht auf seinen Ideen. Er ist der Schlüssel. Wenn er nicht in Gespräche eingebunden und mittelfristig frei gelassen wird, dann wird es keinen Frieden in der Türkei geben.
Ende September kommt der türkische Präsident zum Staatsbesuch nach Deutschland und wird mit allen Ehren empfangen. Was wären linke Forderungen an die Regierungen in Deutschland oder Österreich im Umgang mit Erdoğan?
KEREM SCHAMBERGER: Keine Zusammenarbeit mit solchen Verbrechern. Die Bundesregierung wäre eigentlich in der Lage die Wirtschaftskrise in der Türkei zu nützen, um Druck in Hinblick auf Verhandlungen um eine Verbesserung der Situation vor Ort aufzubauen. Das ist aber politisch und wirtschaftlich nicht gewollt. Vor allem auch, weil das Bankensystem in der Türkei von Deutschland geschützt wird, da die Banken wiederum vor allem im ausländischen Besitz stehen und daher von Deutschland als »systemrelevant« eingestuft werden.
Abschließen gefragt: Jenseits von Solidarität, warum sollte sich die Linke im deutschsprachigen Raum für die Kurden interessieren?
KEREM SCHAMBERGER: Es geht nicht mehr um die klassische Solidarität der 1970er und 1980er Jahre, wo westliche Linke dort hingehen und »denen da« helfen. Wir können nun viel mehr von den gesellschaftlichen Umgestaltungsprozessen – zum Beispiel in Nordsyrien – lernen: Etwa wie man eine progressive Volksbewegung mit linken Idealen initiiert, gleichzeitig aber nicht die religiösen Teile der Bevölkerung verprellt. Die kurdische Befreiungsbewegung ist da sehr feinfühlig, das haben wir als Linke, vielleicht MarxistInnen, oft AtheistInnen nie so wirklich hinbekommen. Es geht um wechselseitiges Lehren wie auch ein Lernen gleichzeitig. Das Interessante an der kurdischen Bewegung ist, dass sie in Teilen sehr offen für diese neue Art der Solidarität ist.
Kerem Schamberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung und Aktivist aus München. Er ist aktiv im Verein »marxistische linke« und im Vorstand des »Institut Solidarische Moderne«.
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Kerem Schamberger und Michael Meyen Die Kurden: Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion, Westend Verlag: Frankfurt/Main 2018
Unter dem Titel »Die Schwere der Schuld« hat der Jurist THOMAS GALLI ein Buch verfasst, in dem er auf seine jahrelange Tätigkeit als Gefängnisdirektor zurück blickt. CHRISTOF MACKINGER hat den ehemaligen Direktor der JVA Zeithain in Sachsen gefragt, wie eine Gesellschaft ohne Gefängnis aussehen könnte. Und woran diese konkrete Utopie scheitert.
Zum Einstieg, Herr Galli, ist das Gefängnis nicht völlig kontraproduktiv, weil es vielmehr eine »Universität für Verbrecher« ist, wie es manchmal gesagt wird?
THOMAS GALLI: Das ist sehr zugespitzt formuliert, aber es ist Wahres dran. Die im Gefängnis etablierte Kultur, ist eben nicht die, in die der Staat integrieren will, sondern eine Parallelkultur. Ich denke, dass es nicht unbedingt so ist, dass der eine dem anderen beibringt, wie man ein Auto am besten knackt. Das kommt sicher auch vor. Viel wichtiger sind jedoch Kultur und damit verbundene Wertvorstellungen, die im Gefängnis im Gruppengefüge aufgebaut und gefestigt werden.
Wer sitzt eigentlich im Gefängnis?
THOMAS GALLI: Im Bereich der kurzen Strafen kommen fast alle aus prekären Verhältnissen oder haben zumindest eine belastende Biografie. Im Bereich der hohen Haftstrafen ist es anders, aber auch kein Querschnitt der Bevölkerung. Es trifft in erster Linie diejenigen, die unterdurchschnittlich gute Chancen im Leben hatten.
Wenn sie nicht in die Gesellschaft integriert werden, was macht Haft dann mit den Inhaftierten?
THOMAS GALLI: Also meine These wäre, dass 90 % der Häftlinge nicht in die Gesellschaft integriert werden. Wie ich gerne sage, manche schaffen es trotz Strafvollzug, aber nicht wegen dem Gefängnis. Die allermeisten, die ich erlebt habe, werden zynisch und abgestumpft oder aber wütend und aggressiv – haben eindeutig den Plan weiter auf illegale Weise Geld zu verdienen. Und es gibt natürlich auch die, die verzweifelt sind. Die Selbstmordrate ist deutlich überdurchschnittlich im Vergleich zu draußen.
Das Leben im Gefängnis ist vollkommen fremdbestimmt. Vom Aufstehen, bis zum Essen, die Arbeit, diese ganzen Dinge. Im Gefängnis wird man jeglicher Autonomie beraubt und damit auch jeder Selbstverantwortung. Draußen braucht man die aber. Für mich liegt völlig auf der Hand, dass das Gefängnis nicht resozialisiert, sondern desozialisiert.
Sie waren ja in unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten tätig. Ab wann war der Punkt erreicht, wo sie dieses System in Frage gestellt haben?
THOMAS GALLI: Es hat wirklich gedauert, mir selber einzugestehen: »Das ist eigentlich ein Schmarrn, was da passiert.« In einer Haftanstalt, in der ich etwa sechs Jahre gearbeitet habe, da kamen immer wieder die Gleichen ins Gefängnis. Meistens keine Schwerkriminellen, viele aus dem Drogenmilieu. Die sind kurz raus, haben dann wieder irgendwas gemacht und kamen wieder rein. Das war allen klar. Ein Dauerkreislauf wo man sich irgendwann denkt: »Wer hat da was davon?« Und denjenigen, die noch den Willen hatten, dem Kreislauf zu entkommen, denen hat man mit dem Gefängnis viele Chancen kaputt gemacht. Eine Haftzeit bekommt man schwer raus aus dem Lebenslauf, naturgemäß hat man damit weniger Chancen am Arbeitsmarkt und in anderen Bereichen. Damit ist die Gefahr groß, letztlich wieder abzurutschen und straffällig zu werden. Was die Mehrheit der Inhaftierten angeht, vergrößert man damit also eher die Gefahr, dass sie wieder straffällig werden.
Arbeit von Häflingen wird zumindest in Österreich als sehr zentral für die Resozialisierung angepriesen. Wie sehen sie das?
THOMAS GALLI: Zu einem gewissen Grad stimmt das. Wobei auch der Nachweis zu führen wäre, dass Leute, die in Haft arbeiten, danach auch mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Aber das wird nicht untersucht. Die meisten Inhaftierten sind ja tatsächlich heilfroh, dass es Arbeit gibt, und wollen arbeiten. Den Justizbehörden geht es eher darum, dass in der Haft einigermaßen Ruhe herrscht und die Leute beschäftigt sind. Und so ist Arbeit in Haft eher ein Selbstzweck, denke ich. Wenn man hingegen wirklich wollte, dass es um Resozialisierung geht, dann müsste man sich viel weitergehende Gedanken machen und die Leute in die Rentenversicherung einbeziehen. So landen sie ja erst Recht in der Armut nach der Haft. Das kann doch nicht der Sinn von Resozialisierung sein.
In Deutschland hat sich vor einigen Jahren eine Gefangenengewerkschaft gebildet. Mittlerweile gibt es so einen Versuch auch in Österreich. Was halten sie davon?
THOMAS GALLI: Diese Gefangenengewerkschaft finde ich einen sehr guten Ansatz, der aber natürlich einen extrem langen Atmen brauchen wird. Das Modell einer Gewerkschaft passt überhaupt nicht in das System des Strafvollzugs. Aber es ist sehr wichtig, sich zu verbünden und Ressourcen und Know-How zu bündeln, um da mehr Wirkungsmacht zu haben. Die schon angesprochene Einbeziehung in die Rentenversicherung, zum Beispiel, wird in Deutschland von vielen aus dem Bereich der Wissenschaft und Politik gefordert. Umso wichtiger ist es, dass es auch Verbände gibt, deren Stimme gehört wird, die das vorantreiben.
Passend zum Schwerpunkt in dieser Zeitung, ist eine Gesellschaft ohne Gefängnis denkbar? Als sie noch die JVA Zeithain geleitetet haben, haben sie mal öffentlich gesagt, wenn es nach ihnen ginge, könnte jeder einzelne ihrer Häftlinge freigelassen werden.
THOMAS GALLI: Man muss es sich bewusst machen: Die Leute, die dort bei mir eingesperrt waren, wurden sowieso in zwei Jahren entlassen. Also zu sagen, »Wir wollen sicher sein vor denen«, ist eine falsche Rechnung. Wenn der nämlich nach zwei Jahren raus kommt und danach noch weniger Chancen hat als vorher, dann ist auf Dauer gesehen die Sicherheit nicht erhöht, sondern reduziert.
Aber es gibt sicherlich keine Patentlösung. Das erwarten Leute in Diskussionen jedoch oft. Das macht es auch so schwierig, in diesem Bereich zu argumentieren.
Oft kommt die Frage: »Was tun sie mit einem Anders Breivik?« In meiner Zeit in der JVA Straubing habe ich gelernt, dass es Insassen gibt, die nach meiner Meinung auf keinen Fall mehr in Freiheit kommen dürfen. Wir können nicht jede Gefährlichkeit abtherapieren, das müssen wir uns auch eingestehen. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, einen Anders Breivik 40 Jahre lang zu therapieren. Aber wir könnten sagen, »Wir wollen von dir keine Gefahr mehr in Kauf nehmen, aber wir behandeln dich trotzdem menschenwürdig«. Denn, das sind auch so die Erfahrungen, unter anderem aus den USA, wenn man Gefangene roh behandelt, foltert oder hinrichtet, dann führt das nur zu einer allgemeinen Verrohung in der Gesellschaft und zu noch mehr Gewalt. Insofern brauchen wir weiterhin eine Art von Gefängnis für dieses Klientel. Die Grundlage für die Haft wäre hier aber eine ganz andere. Weggesperrt würde nicht zur Strafe, wegen Schuld oder Vergeltung.
Das Gefängnis hat ja aber auch eine abschreckende Wirkung?
THOMAS GALLI: Ja, ich denke, die abschreckende Wirkung ist nicht von der Hand zu weisen. Bei manchen wird möglicherweise gerade eine drohende Haftstrafe abschreckend sein. Bei anderen wären das aber vielleicht auch ganz andere Sachen. Aber auch hier darf man nicht zuviel davon erwarten. Aus der Forschung weiß man, dass gerade bei den schlimmen Straftaten – Gewalttaten, Sexualdelikten – der Abschreckungsgedanke kaum eine Rolle spielt. Auch bei eher langfristig geplanten Taten, irgendwelchen Finanzbetrügereien oder so, gehen die Leute ja davon aus, dass sie nicht erwischt werden.
Was müsste sich in unserer Gesellschaft ändern, damit diese Art des Strafens nicht mehr sein muss?
THOMAS GALLI: Jede Straftat hat individuelle Ursachen – ich will den einzelnen nicht aus seiner Verantwortung nehmen. Jede Straftat hat aber auch soziale Anteile. Diese bestehen im Hier und Jetzt. Auch in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt es gewaltige Ungerechtigkeiten. Und die erzeugen hilflose Wut und auch Gewalt und Normbrüche. Das ist natürlich ein Ideal, aber je gerechter eine Gesellschaft ist, desto geringer ist die Straffälligkeit. Und natürlich haben Straftaten auch soziale Ursachen, im Hinblick auf die Biografie der Straffälligen etwa. Es gibt natürlich sehr viele, die aus schwierigsten Umständen kommen und nicht straffällig werden. Umgekehrt ist es aber so, dass die meisten, die straffällig werden aus schwierigen Verhältnissen kommen.
Thomas Galli ist mittlerweile als Rechtsanwalt tätig. Sein letztes Buch widmet sich Einzelschicksalen von Straftätern und ist unter dem Titel »Die Gefährlichkeit des Täters« 2017 erschienen.